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Lord Salen blickte im grauen Abendlicht auf die Täler und Schluchten hinab, die die Straßen der großen Stadt Thotel bildeten. Auf diese Entfernung waren die Geräusche der Posten und Patrouillen, mit denen die eroberten Bewohner in Schach gehalten wurden, nicht zu hören. Die Fackeln und Wachfeuer waren wenig mehr als helle Nadelstiche im Dunkel. Salen genoss das Gefühl, sich über den Rest der Menschheit erhoben zu haben. Hier, über den dunklen Straßen, hielt sich noch ein Rest des Sonnenlichts. Schwindel erfasste ihn für einen Augenblick und vermittelte ihm das Gefühl, auf der Spitze eines Berges zu stehen, als sei sein Körper leicht genug, um in den Abgrund davonzuschweben.

Er schüttelte dieses unangenehme Gefühl ab und wandte sich wieder Thotel zu. Diese Stadt ähnelte keiner Meninstadt. Die ausgehöhlten Felsformationen, von den Chetse Dunkelfelsen genannt, bestanden aus verwittertem Granit. Sie lagen überall in dem tiefen Tal verstreut, wie das Spielzeug eines Riesen.

Wind und Wasser hatten das weichere Gestein abgetragen und diese gewaltigen Felsblöcke freigelegt. Dann hatten die Chetse an ihnen gearbeitet, bis sie von Tunneln und Wohnkammern durchzogen waren. Im Vergleich dazu wirkten die Lehmziegelhäuser wie Wurmschiss.

In jeden Dunkelfelsen war der Name eines Clans eingemeißelt und wies ihn als eigenständige Gemeinschaft und Festung aus. Einige Clans hatten sich geweigert, sich den Menin zu ergeben, hatten geglaubt, die verschlossenen Tore würden sie sicher durch die Belagerung bringen …

Lord Salen lehnte sich in diesem Augenblick aus einem offenen Fenster am höchsten Punkt eines solchen Dunkelfelsen. Die raue Felskante fühlte sich unter seiner Hand erstaunlich angenehm an, als würde sich die Wand noch immer wehren, lange nachdem die Tore aufgerissen und die Bewohner abgeschlachtet worden waren.

Eine mit Kupfer umwundene und mit einem Wachspropfen verschlossene Flasche, die an einer langen goldenen Kette um seinen Hals hing, schlug leise gegen den Fels und er zog sie hoch, um sie in eine der vielen Taschen seiner Flickenrobe zu stecken. Für ein Weißauge war er klein, aber er war der Erwählte Larats und Lord des Verborgenen Turms – und sein Geist war schärfer als seine Klinge. Er trug keine Rüstung und nur einen langen Dolch, aber Jahre des Studiums hatten ihn mit Waffen ausgestattet, die kaum ein Soldat je begreifen könnte. Die Menin waren zwar das erwählte Volk Karkarns – des Kriegsgottes –, aber Salen hatte den geordneten Wegen Larats den Vorzug über Karkarns brutale Stärke gegeben. In Lord Styrax’ Abwesenheit hatte er diese Stadt nur mit Worten befriedet. Wenn er sich anstrengte, würde das Fundament Thotels erzittern.

 

»Lord Salen?« Der Bote hustete unsicher und versuchte nicht allzu sehr auf all die Amulette und Glückbringer zu starren, die in jeden der bunten Fetzen Kleidung eingelassen waren. Bei einigen tränten ihm die Augen, weil sie sich wanden, um seinem Blick zu entgehen. Auf anderen aus angelaufenem Metall prangten Edelsteine, die zu sehr strahlten, um zu ihren armseligen Fassungen zu passen. Einige waren im Halbdunkel nicht zu erkennen. Von diesen wurde Mikiss’ Blick am stärksten angezogen – er war froh, dass er keine Einzelheiten erkennen konnte.

Der Magier regte sich nicht.

»Mein Lord, eine Nachricht von Larim«, wiederholte Mikiss.

»Die Maden sind heute ruhig.«

»Mein Lord?«

»Die Chetse. Findest du nicht, dass sie wie Maden leben, Mikiss? Graben sich durch diese riesigen Steine, durchlöchern diese uralten Formationen. Seit wir die Stadt einnahmen, gab es in jeder Nacht Aufruhr, aber heute Nacht ist es ruhig. Vielleicht besitzen selbst Maden einfache Sinne, ausgeprägt genug, um etwas zu wittern.«

»Das weiß ich nicht, Lord. Eine der Patrouillen erschlug einige junge Chetse, die nach der Ausgangssperre unterwegs waren – einer trug eine Waffe bei sich, also wurden sie gemäß Eurer Anordnung alle hingerichtet.«

»Und die Vorteile dieser Befehle werden nun offenbar: Ich genieße an diesem Abend den Frieden, den sie der Stadt gebracht haben. Diese Leute muss man einschüchtern. Schade, dass Styrax das nicht erkannt hat.« Das Weißauge lehnte sich über das Geländer und blickte unmittelbar nach unten. Mikiss konnte das Kratzen der Ringe auf dem Stein hören. Salens Robe bewegte sich, obwohl kein Wind wehte.

»Äh, die Nachricht, mein Lord?«, wiederholte Mikiss und versuchte die Anspannung aus seiner Stimme zu halten. »Lord Larim sah, dass sich die Wyvern nähert, also wird Lord Styrax bald hier sein.«

»Gut, ich habe auf ihn gewartet. Ich frage mich, was er angestellt hat. Was kann so lang gedauert haben?« Salens Stimme war auf höfische Weise gemessen und ruhig, aber Mikiss kam sie dennoch düster vor. Er erschauderte. Eine Echse würde so sprechen. Larats Adepten waren alle so: Ihre Worte waren gemessen, flüsternd gesprochen, ihre Augen waren ausdruckslos und unmenschlich. Er wusste, dass ein Verrat geplant wurde, und er fühlte sich, als habe die Fäulnis der Nachrichten, die er im Laufe der letzten Wochen überbracht hatte, auf ihn übergegriffen und ihn mit Larats Einfluss vergiftet. In ihm war ein lang vergessenes Pflichtbewusstsein erwacht, ein Ehrgefühl, das um Aufmerksamkeit heischte. Aber er hatte den Blick Salens die ganze Woche über auf sich gespürt und konnte ob dieser unnatürlichen Anwesenheit, die kalt und schwer auf seinem Geist lastete, kaum schlafen oder essen. Die Last der Erschöpfung machte seine Schritte schwer.

»Begib dich zu Quistal. Sag ihm, er soll sich darauf vorbereiten, unseren Lord willkommen zu heißen.«

»Ich …« Er verstummte plötzlich.

Salen wandte sich langsam um. Seine dünnen Züge spannten sich. »Hast du etwas zu sagen?« Ein gepflegter Fingernagel klopfte auf den Elfenbeingriff seines Dolches und die andere Hand spielte mit etwas in einer Tasche. Mikiss wusste genug über die Adepten des Larat, um das Verborgene stärker zu fürchten.

Er konnte den Blick dieser nicht blinzelnden, weißen Augen nicht ertragen. Er blickte zu Boden und fragte: »Soll ich Lord Kohrad und General Gaur suchen?« Er wusste, dass der Magier nicht wollte, dass man den Sohn seines Lords und seinen treuesten Untertan verständigte, aber dies stellte das Höchstmaß an Protest dar, das Mikiss überhaupt aufbrachte.

Salen machte sich nicht einmal die Mühe, seine Abscheu zu zeigen. »Sie sind mit der dritten Armee außerhalb der Stadt. Ich bin sicher, dass sie bald genug zu Lord Styrax stoßen werden.«

»Sehr wohl, mein Lord.« Mikiss eilte davon und stolperte über den unebenen Tunnelboden des Dunkelsteins. An jeder Ecke flackerte das schwache Licht von Fackeln, die kaum ausreichten, um den grob behauenen Stein zu erhellen. Während er die steile Treppe zum Haupttor hinabstieg, zog mit einem Mal ein Windhauch an ihm vorbei und der Tunnel bündelte die unerwartete Brise. Er ruckte zurück und schlug die Hände vors Gesicht, konnte aber nicht verhindern, dass der feine Sand, der den Boden bedeckte, in seine Augen gelangte. Er wurde fluchend langsamer und versuchte den Schmutz wegzublinzeln.

Vor den Überresten des eingerissenen Haupttores fand Mikiss eine Gruppe Reiter vor, eine der Nachtpatrouillen, die über die Einhaltung der Sperrstunde wachten und nun den Leuten Salens Bericht erstatteten. Auf den Stufen vor dem Tor stand ein Soldat mit dem Rücken zu ihm. Mikiss vertrieb seine Ängste und trat aus dem Schatten, blinzelte dabei heftig und zog an seinem Ärmel, der sich in der Armschiene verfangen hatte.

Der Soldat erschrak bei seinen Schritten auf den Stufen und wirbelte herum, den Griff der Axt, die in seinem Gürtel steckte, schon in der Hand. Mikiss löste den Ärmel von der bronzenen Armschiene, auf der sein Status als Bote in Menin-Glyphen verzeichnet war, und präsentierte sie.

Etwas an dem Soldat stimmte nicht. Mikiss blinzelte, bis er die aufgemalten Glyphen auf der Schulterplatte des Mannes lesen konnte: Die zweite Cheme-Legion. Die Cheme-Legion? War sie nicht Teil der dritten Armee?

»Halt, Bote«, knurrte der Mann, der das zusammengerollte Banner der Einheit hielt. »Wo soll es denn an diesem schönen Abend hingehen?« Der Bannerträger war vollständig in einen langen, grauen Mantel gehüllt und schlug nun seine Kapuze zurück, um Fell und lange Fänge zu offenbaren. Mikiss erstarrte. Das war kein Mann, sondern General Gaur. O ihr Götter.

 

Die Luft war trocken und leicht. Der sanfte Geschmack der südlichen Ebenen kitzelte seinen Gaumen, als er sich an den groben Wänden der Dunkelsteine vorbeischob. Er bemerkte die erzwungene Ruhe. Einige Wochen unter Salens Herrschaft hatten die Stimmung in der Stadt völlig verändert. Der Erwählte Larats hatte genau das getan, was er von ihm erwartet hatte. Sein letzter Dienst – auch wenn er es noch nicht wusste – für den Lord, gegen den er seit Jahren Ränke schmiedete.

Hier in den Dunkelsteinen konnte Styrax die Schmerzen der Hingeschlachteten spüren, der ganzen großen Familie. Salen hätte die Stimmen nicht bemerkt, würde ihre Tränen auch nicht spüren, den Verlust, der überall in den blutbefleckten Tunneln widerhallte. Rostfarbene Linien bedeckten die Stufen und gebogenen Wände, wo Blut und Ausscheidungen auf das tiefliegende Herz des Dunkelfelsens zugelaufen waren.

Er strich mit seinen befleckten Fingerspitzen über den groben Stein. Wie immer trug er an der linken Hand keinen Handschuh. Beinahe genoss er das unangenehme Drücken der verletzten Haut. Seit dem Duell mit Koezh Vukotic war das Gefühl aus seiner bleichen und vernarbten Hand gewichen, hatte sich dabei jedoch in etwas weniger Irdisches verwandelt. Er konnte den Abendwind nicht auf der Haut spüren, aber dafür klang seine Haut, wenn Macht seinen Körper erfüllte. Im Augenblick fühlte es sich an, als würden Nadeln in den Handrücken gebohrt.

Er konnte die magischen Ströme der Stadt wahrnehmen, in der Menin- und Chetse-Magier gleichermaßen mit den verschiedensten Dingen beschäftigt waren. Er fragte sich, was darüber hinaus des Nachts in der Stadt vor sich ging, welcher Verrat sonst noch in Thotels dunklen Straßen lauerte. Er dachte an den Dämon, der ihn vor Salens Verrat gewarnt hatte, den Schatten, der am Rande der Wahrnehmung lauerte. Er hatte in der Wüste zu ihm gesprochen, als er seine Truppen zurückgelassen und Lord Bahl gejagt hatte. Der Dämon behauptete, er habe nur Verachtung für seinesgleichen übrig, aber wer wusste schon, ob das auch der Wahrheit entsprach. Beobachtete der Schatten ihn jetzt, wartete er darauf, die Lage auszunutzen, sobald sich eine Gelegenheit ergab?

Styrax fühlte sich mit lautlosem Schritt und der schwarzen Rüstung, die mit dem Schatten verschmolz, im Vergleich zu dem harten, unverrückbaren Stein um sich herum körperlos, vergänglich, nicht mehr als eine Erinnerung. Als er die obere Kammer erreichte, blieb er stehen und wartete, ließ sich von der angesammelten Macht in seinem Innern treiben. Dann beschloss er, dass die Zeit gekommen war. Er kratzte mit der Stiefelsohle leicht über den Boden.

Die Gestalt vor ihm regte sich nicht, aber Styrax wusste, dass er bemerkt worden war.

Nach langem Schweigen fragte Salen: »Nun, Mikiss, was gibt es jetzt?«

Styrax blieb still stehen und zog mehr Macht aus dem Schädel an seiner Brust, während er Salens Rücken im Blick hielt. Er wollte, dass der Mann Zeit hatte, die Dummheit seines Verrates zu erkennen, zu verstehen, dass seine Taten die ganze Zeit über erwartet worden waren und man ihm seine kindischen Allmachtsfantasien gestattet hatte – bevor er ihm alles nahm.

Salens lange Robe aus roten, gelben und blauen Stücken, die Säume mit Silber und Gold bestickt, bewegte sich in dem leichten Windhauch, der hier oben im Turm noch ankam.

»Mikiss?« Als er sich umdrehte, verschwand der Ärger aus seinen Zügen.

Styrax lächelte. Seine weiße Hand brannte höllisch, jede Hautfalte war mit der Lebendigkeit der gesammelten Magie angefüllt, die endlich losbrechen wollte. Er freute sich über die Schmerzen, denn sie erinnerten ihn gleichermaßen an seine Sterblichkeit und seine gewaltige Stärke. Er glaubte an die Notwendigkeit der Ausgeglichenheit aller Dinge – sein Sohn Kohrad war nicht der Einzige, dem er das einzubläuen versuchte. Vielleicht würde ja dort eine Demonstration Erfolg haben, wo weise Worte versagt hatten.

»Nun, Salen? Du hast dich seit Wochen auf diesen Augenblick vorbereitet. Jetzt ist es Zeit zu handeln.«

Der Erwählte Larats kam in Bewegung, die Hand schoss in die Tasche, während er die Kraft um sich herum zu sammeln suchte. Dann trat Erstaunen auf sein Gesicht, denn er fand nichts, das er sammeln könnte, die erwartete Macht entzog sich seinem Zugriff. Stattdessen strömte sie in den Schädel, der mit Styrax’ Rüstung verschmolzen war.

»Was?«, flüsterte Salen verwirrt.

Styrax sah, dass das Weißauge noch immer offen für die Machtströme war, auch wenn er nicht mehr nach dem Geschmack der Magie suchte. Der Weg war bereitet und die Macht in seinem Inneren forderte, freigelassen zu werden. Mit einem Keuchen und Schaudern ließ er die Flut durch seinen Körper und auf Salen zuströmen, der zurückgeworfen wurde, mit den Armen ruderte, als würde er von der magischen Sintflut davongespült werden. Dank des Schädels war Styrax gerade ebenso in der Lage gewesen, die gestohlene Macht in sich zu halten. Jetzt, da er den Strom umkehrte, kreischte sein Feind grausig und wand sich vor Schmerzen, während sich die Magie durch jeden Nerv und jede Ader seines Körpers fraß.

Der Lord des Verborgenen Turmes brach noch immer zuckend zusammen und seine Flickenrobe verging in bunten Flammen. Die Farben gleißten selbst durch Styrax’ geschlossene Lider. Er schützte das Gesicht mit der Hand und zuckte dennoch zusammen, als die Amulette auf Salens Robe in grellweißes Licht explodierten.

Wind peitschte um ihn herum und Styrax sprang zurück, als ein Steinbrocken den Daumen der ungeschützten Hand traf. Die Nachtluft umschloss ihn mit einem Mal, presste ihm die Kehle zu. Styrax zwang die Arme hinab und legte eine Hand auf den Schwertgriff, denn er erkannte die Anwesenheit der Götter. Er würde nicht zulassen, dass sie ihn schwanken sahen, nicht einmal, wenn er starb.

Völlige Stille füllte die Kammer. Styrax öffnete die Augen und fand nur noch einen Haufen verkohlter Knochen vor, wo Salen gelegen hatte. Dunkelheit umgab ihn. Dann wurden die harten Schatten weicher. Styrax stellte sich vor, wie Tod zurück in die Nacht schritt und dabei Salens verkohlte und versehrte Seele hinter sich her zerrte.

Im Wind, der durch die Straßen der Stadt fegte, kaum zu hören, vernahm Styrax einen fernen Laut. Er lauschte und versuchte, seinen Ursprung zu bestimmen. Nach einer Weile erkannte er, dass es Larats hohles Kichern war, das durch die Nacht klang. Lord Salens Gott war offenbar von der Ironie erheitert, die im Tod seines Erwählten lag. Das Weißauge verzog das Gesicht. In Salens kranker Nichtbeachtung des Lebens spiegelte sich die seines Gottes wider und Styrax verstand solche Männer nicht. Männer, die ihr eigenes Leben nur als blasses Abziehbild ihres Gottes führten.

Endlich wandte sich Styrax um und stieg zu seinen Wachen hinab. Er lief die gewundenen Treppen hinunter, bis er das Tor erreichte, wo General Gaur mit den Pferden und einem abgerissen wirkenden Boten wartete. Es würde in dieser Nacht noch weitere Tode geben, mehr Blut würde auf die immer durstige Erde Thotels vergossen werden.

Er zog sein Schwert und trat in das bleiche Mondlicht.