Was für ein Glück, dass es Alex gibt. Der es sich nicht nehmen lässt, regelmäßig für uns Nahrung heranzuschaffen. Und zu meiner noch größeren Dankbarkeit hat er so viel Einfühlungsvermögen, dieses Essen nur wie bei der Raubtierfütterung in unseren Küchen-Käfig zu werfen – wo wir uns ausgehungert darauf stürzen, als käme er uns nicht dreimal täglich, sondern nur einmal monatlich füttern – und sich dann wieder zurückzuziehen. (Womit hatte ich noch mal einen so verständnisvollen Freund verdient?) Denn wir sind zu keinerlei Gastfreundlichkeit in der Lage – nicht einmal zum knappsten Gespräch.
Johanna und Patrick sind quasi bei uns eingezogen; sie erscheinen um acht Uhr morgens mit täglich verzweifelteren Gesichtern und schleppen sich erst gegen Mitternacht nach Hause. Noch fünf Tage. Und Stoff für 500.
Isa arbeitet nicht weniger, teilt mit IHRER Prüfungsgruppe allerdings die Wege gerechter – so dass nur alle vier Tage die Pädiatrie-Herzchirurgie-Gruppe in Isas Zimmer herumseufzt.
Die Lernwoche vor der Mündlichen ist der absolute Horror. Unser Gespräch bei Dr. Paulsen hat wenn möglich noch weniger Informationen gebracht als das bei Dr. Al-Sayed. Nur den Eindruck, dass die Interims-Oberärztin mich irgendwie nicht mag. Sehr gute Voraussetzungen.
Unsere Panik steigt von Tag zu Tag. Unser Schlafpegel sinkt von Nacht zu Nacht.
»Wisst ihr was?«, fragt Isa morgens um halb drei, als wir knietief in Büchern in dem Raum hocken, der einst unsere Küche war, umgeben von leeren Kaffee- und Teetassen und alle drei mit zerrauften Haaren. »Ich hab grad ein ganz kleines bisschen das Gefühl, dass wir wahnsinnig werden …«
Ich sehe auf, sehe uns an und denke »sind«. Wir sind es. Längst.
Am ersten Tag der Prüfung werden wir jeder einen Patienten bekommen, binnen drei Stunden müssen wir ihn untersuchen und anschließend den Arztbrief schreiben, bevor wir den Patienten den Prüfern vorstellen. Wir haben das Arztbriefschreiben trainiert. Wir haben sogar aneinander die Untersuchungen geübt, die wir in der Prüfung vielleicht vormachen müssen. Nicht, weil wir sie nicht können – der Nachtdienst war eine gute Vorbereitung –, sondern weil Jenny uns überzeugt hat, dass wir trainieren müssen, dabei so lange und umständlich zu reden wie nur möglich. Denn solange man über die Untersuchung spricht, die man vormacht, können die Prüfer ja noch keine Fragen stellen.
Am Tag vor Beginn der Mündlichen ist plötzlich die Kraft zu Ende. Bei uns allen.
Wir sitzen in unserem Lernchaos und sehen einander stumm an, bis Isa flüstert: »Das ist er. Jetzt ist er da. Der Wahnsinn.«
Ich springe auf, als müsste ich ihre Theorie noch beweisen.
»Raus«, sage ich. »Wir müssen hier raus.«
Meine Freundinnen bewegen sich zur Tür wie Zombies.
Wir unternehmen einen Zombie-Spaziergang. Einmal bis zur Straßenecke. Und zurück.
Am Tag vor der Mündlichen Prüfung.
Auf der Straße ist der Sommer vorbei.
Dann gehen wir wieder nach oben, räumen das Chaos aus unserer Küche und wissen, dass wir jetzt nichts mehr tun können.
Nur noch einmal schlafen. Uns richtig ausschlafen.
Alex legt sich zu mir, nimmt mich in den Arm. Ich kann schlafen. So werde ich schlafen können.
Doch in dieser Nacht träume ich einen verwirrenderen Traum nach dem anderen. Jedes Mal, wenn ich endlich wieder eingeschlafen bin, einen neuen.
Tobias ist der Patient, den ich zur Prüfung vorstellen soll. Doch er liegt nicht auf der Trage. Er ist in seinem Büro, ich muss ihn erst holen. Ich kann ihn nicht finden. Ich finde sein Büro nicht, ich suche und suche immer verzweifelter. Ich werde die Prüfung nicht bestehen. Weil ich Tobias nicht finden kann. Und die Zeit ist fast um.
Im nächsten Traum sitzt Tobias in meiner Prüfung. Er fragt, warum ich nicht begriffen habe, was ich ihm bedeute. »Ohne das zu begreifen, können Sie nicht Ärztin werden«, sagt er bedauernd. »Nicht bestanden.«
Im letzten Traum sind wir in seiner Wohnung. Und küssen uns. Aus dem Nichts. Dieser Traum hat überhaupt nichts mit meiner Prüfung zu tun.
Den Rest der Nacht liege ich wach im Bett.
Draußen graut der Morgen.
Es ist kalt, ist Herbst geworden. So kalt, dass ich niesen muss. Alex deckt mich zu. Im Schlaf. Er wacht nicht auf, nur seine Hand bewegt sich und er wickelt im Schlaf die Decke fest um mich.
Ich glaube, ich habe mich noch nie so mies gefühlt.
Alex. Ich muss es halblaut vor mich hinsagen, um die Träume zu verscheuchen. »Ich habe es gar nicht verdient, so ein Glück zu haben.«