Die Konsultation bei Tobias fängt ganz harmlos an. Wirklich nett. Er empfängt uns in seinem Büro, sagt aber gleich, dass wir in den Schulungsraum umziehen, weil auch Patrick und Johanna dazukommen. Ich bin damit sehr zufrieden; vertraut mit ihm in seinem Büro sitzen möchte ich vielleicht doch erst wieder, wenn wir eines Tages diese sagenumwobenen Zukunfts-Freunde sind. Er hat eine Kanne Kaffee bringen lassen und weil ich im Arztraum nur vier angeschlagene Kaffeepötte finde, bietet er an, ich könnte seine Tasse benutzen. Seinen zerbeulten Nachtschicht-Thermobecher. Wenn das kein Freundschaftsbeweis ist. (Und zwar kein Zukunfts-, sondern ein Gegenwartsbeweis!) Oder will er nur sehen, ob ich das annehme? Nein, darüber denkt Prüfungs-Lena gar nicht nach. Sie denkt nur, dass es nett von ihm ist und dass sie zu der schweren Vorbereitungsstunde dringend einen Kaffee braucht und ihrer dann länger warmhält.
Tobias siezt mich, aber er lächelt dabei – deshalb bin ich ganz sicher, dass das kein Zeichen sein soll, sondern er nur vor den anderen keine Vertraulichkeiten möchte. Es gibt überhaupt keine Zeichen. Wir sind Oberarzt und Prüflinge – und ich bin nur eine von ihnen. Eine, die ganz entspannt in der Bank sitzt, Kaffee aus einem Thermobecher trinkt und dabei gar keine einzige Kaffeebechererinnerung hat.
Das mit dem ganz entspannt hat sich bald erledigt. Und zum Kaffeetrinken komme ich auch nicht. Tobias bespricht die verschiedenen Fachgebiete und stellt zwischendurch immer wieder Fragen. An mich.
Nein, er fragt nicht mich allein, er fragt gerecht reihum. Aber gerecht verteilt ist nur die Anzahl der Fragen. Die Schwierigkeit ist maximal ungerecht verteilt.
»Wozu führt man eine Colokoskopie durch?«, fragt er Isa und »Was ist ein akutes Abdomen?« Patrick – und dann wendet er sich mir zu und fragt: »Was sind Ursachen und Pathogenese einer Perikardtamponade?«
Beim ersten Mal halte ich es für Zufall und ärgere mich nur, dass ich ausgerechnet DAS nicht weiß – wo ich doch alle Fragen vorher leicht hätte beantworten können. Beim zweiten Mal bin ich irritiert, beim vierten Mal sauer. Beim sechsten Mal frage ich mich, warum die anderen nicht merken, was hier läuft.
WAS LÄUFT DENN HIER?!
Es ist, als frage Tobias reihum, was zwei mal sieben ist und wie man eigentlich eine Apfelsaftschorle zubereitet – und dann mich, wie ein Computer funktioniert.
Selbstverständlich mache ich einen miserablen Eindruck. Zwar scheinen die anderen nicht zu merken, dass meine Fragen schwerer sind – dass ich allerdings immer unbeholfener stottere, entgeht niemandem. Schon sehen sie mich ängstlich und mitleidig an, wenn Tobias wieder das Wort an mich richtet. ICH KANN DOCH NICHTS DAFÜR! Ich möchte euch mal auf so was antworten hören! »Warum wird der HbA1c-Wert nicht für Screening-Tests benutzt?« Das gehört in eine Facharztprüfung. Aber nicht in Lernwoche neun!
Wieder wenden sich alle Gesichter mir zu. Patricks Blick ist regelrecht arrogant. Klar, ER lag ja bisher mit allen Antworten richtig. Dabei hat ER nur richtige Püppi-Fragen bekommen!
»Weißt du es vielleicht?!«, fahre ich ihn an. Aber bevor er ins Grübeln kommen und merken kann, dass er es bisher tausendmal einfacher hatte als ich, sagt Tobias: »Ich schätze, Herr Winkler hat sein Diabetes-Kapitel schon gelesen.« Und damit gibt er wie nebenbei den nötigen Hinweis, dass es um Blutzuckerwerte und deren Messung geht – der mir gefehlt hat! – und der dazu führt, dass Patrick die Frage beantworten kann. Und nicht mal das fällt irgendjemandem auf.
Zu allem Überfluss sagt Tobias, bevor er uns in die Pause entlässt: »Ich fürchte, einigen von Ihnen wird jetzt erst klar, wie viel Arbeit Sie noch vor sich haben. Und dass man in der Examensvorbereitung keine Stunde zu verschenken hat.«
Er sieht mich dabei an. Alle anderen sehen auch zu mir. Na klasse. Ja, hier sitzt Leichtsinns-Lena, die nur ihr Vergnügen im Kopf und noch keinen einzigen Tag ernsthaft gelernt hat. Ich würde sie auch gern von außen anstarren – dann würde ich ihr aber dermaßen die Meinung geigen! Was fällt ihr ein, meine Zeit so zu verschwenden!
»Was ist denn los, Lena?!«, fragt Isa besorgt, sobald wir allein sind. »Hat es dich jetzt auch erwischt?«
»Falls es dich tröstet«, lächelt Jenny beruhigend, »ich hätte auch nicht eine einzige deiner Fragen beantworten können.«
Genau das wollte ich hören. Wenn Jenny vielleicht auch nicht GANZ der Maßstab ist. »Und du?«, frage ich Isa wütend. »Hättest du das gekonnt?«
Isa überlegt kurz, dann schüttelt sie den Kopf. »Nein … aber ich lerne momentan ja auch so schlecht.«
»Du lernst den ganzen Tag«, widerspreche ich. »Und deine Fragen konntest du beantworten.«
Meine Freundinnen nicken, schweigen, denken … und verstehen. »Ehrlich gesagt dachte ich jedes Mal, wenn du drankamst: Ein Glück, dass er MICH das nicht gefragt hat«, gesteht Isa.
»Du glaubst, das ist kein Zufall, sondern Methode?«, fragt Jenny.
Na endlich!
Isa öffnet ihren Block; sie hat alle Fragen und Antworten mitgeschrieben. Und dort wird es sichtbar. Der Beweis, in Isas runder Schönschrift. Isa tippt auf die Fragen. »Leicht, okay, leicht«, kommentiert sie, »machbar, leicht, schwer. Lösbar, lösbar, hammerschwer. Du hast recht, deine Fragen waren viel schwieriger.«
»Na bitte!« Angesichts dieses unleugbaren Beweises fühle ich mich schon viel besser.
»Was glaubst du, warum er das macht?«, fragt Isa irritiert.
Jenny hat sofort eine Erklärung parat. »Wegen Alex«, sagt sie entschieden. »Er ist eifersüchtig und nun rächt er sich.«
Aber mir scheint das ein wenig zu einfach. Und es klingt überhaupt nicht nach Tobias.
»Vielleicht ist es doch nur Zufall?«, schlägt Isa vor, die auch nicht glauben will, dass Tobias sich in einen missgünstigen Racheteufel verwandelt haben soll, der seine Oberarzt-Macht ausnutzt. Aber auch die Zufalls-Theorie klingt nicht sehr wahrscheinlich. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Nur eins steht fest: Das tue ich mir nicht noch zwei Stunden an!
»Ich gehe nach Hause, Mädels«, entscheide ich. »Und komme wieder, wenn er oder ich oder wir beide einen besseren Tag haben.«
Beide wirken skeptisch, sagen aber nichts. Müssen sie ja auch nicht. Ich weiß, dass es eine bescheuerte Idee ist. Eine feige, beleidigte Vogel-Strauß-Idee.
»Wenn du abhaust, hat er gewonnen«, gibt Jenny zu bedenken. Ich bin mir sicher, dass es ihm nicht ums Gewinnen geht. Aber wenn ich jetzt kneife, habe ich trotzdem irgendwie verloren.
»Und in deiner Prüfung sitzen vielleicht Leute, die noch fiesere Fragen stellen«, ergänzt Isa.
Sie müssen mich nicht umstimmen, mein Stolz-und-Vernunfts-Ich hat das beleidigte kleine Mädchen in mir schon übertönt. Diese Trotzreaktion wäre es, die ich bereuen würde. Kein Zwischen-Arbeits-Alex-Vergnügen. Ich will Ärztin werden. Ich lasse mir keine Vorbereitung entgehen. Ich verwende nur den Rest der Pause darauf, noch einmal alle greifbaren Lehrbücher durchzublättern, damit der zweite Teil der Konsultation das kleine Mädchen in mir nicht zum Heulen bringt.
Nein, ich heule nicht. Aber es wird auch nicht besser. Weiterhin sind die schwierigsten Fragen für mich bestimmt. Zwar scheint Tobias das Niveau generell anzuheben, auch die anderen müssen jetzt länger grübeln und manchmal passen, aber ich kann mich nach wie vor darauf verlassen, dass ich immer nur wieder eine neue Variante von »Weiß ich nicht« antworten kann.
Immerhin springen meine Freundinnen mir jetzt bei, jede auf ihre eigene, unnachahmliche Weise. Jenny zögert ihre Antworten in die Länge und redet weitschweifig um den heißen Brei herum, um für mich Zeit zu schinden. Isa meldet sich sogar heldenhaft, als ich wieder stocke, und fragt, ob so etwas Schweres wirklich in der Prüfung drankommen kann.
Tobias lächelt sie an. »Die leichten Fragen können Sie doch selbst vorbereiten«, entgegnet er. Und schließt dann für Isa ebenfalls eine Aufgabe an, die sich gewaschen hat. Die Arme. Aber hey, wie man die Verdachtsdiagnose einer kardiovaskulären ADN belegt, kann ICH beantworten. Und ich zahle ihr die Heldentat zurück, indem ich mich melde – prompt drankomme und für sie antworte.
Vielleicht ist es das, was den Knoten platzen lässt. Denn von nun an fällt es mir plötzlich immer leichter, mit Tobias’ Fragen umzugehen. Ich muss nur die Hirnmaschine auf Hochtouren fahren und die ganze innere Bibliothek aufrufen. Dass Thrombozyten-Funktionsstörungen nur sehr selten angeboren sind, habe ich doch irgendwo gelesen, damit kann er mich nicht aufs Glatteis führen. Dass in manchen Ausnahmefällen eine Über- oder Unterfunktion der Schilddrüse nicht ausgeschlossen werden kann, obwohl der TSH-Wert normal ist, hat doch mal ein Professor in der Endokrinologie-Vorlesung erwähnt.
Ich antworte auch jetzt keineswegs flüssig auf alles – aber das Gestotter wird doch merklich weniger.
Tobias wirkt sehr zufrieden. (Eigentlich ist es ein bisschen schade, dass seine Miene nicht nach »Mist, zum nächsten Mal muss ich noch schwerere Aufgaben vorbereiten« aussieht. Ein klein wenig mehr Genugtuung hätte es schon sein dürfen!)
Trotzdem bin ich erleichtert, als er zum letzten Teil übergeht. »Haben Sie noch Fragen an MICH?«, lächelt er in die Runde. Bei mir verweilt sein Blick eine Sekunde länger.
Oh ja, mein Lieber, ich hätte eine ganze Menge. Du kannst ziemlich froh sein, dass ich die nicht hier vor allen stelle! (Das tue ich nur nicht, weil ich dich nicht vor Johanna und Patrick bloßstellen möchte! Und nur ein ganz kleines bisschen deswegen, weil ich nicht spontan so schwere Fragen aus dem Ärmel ziehen kann, dass DU passen müsstest! Aber bis zum nächsten Mal bereite ich so genial-unlösbare Fragen vor – da ziehst du mal besser deinen ganz warmen Spezialwissenskittel an!)
Die Fragen der anderen beantwortet er ausführlich und Jennys freches: »Was glauben SIE, was drankommt?«, kontert er lächelnd mit: »Alles, wovon wir glauben, dass Sie es können müssen.«
»Noch jemand?«, fragt er dann. »Sie, Lena?« Ich schüttle den Kopf. Wie gesagt: beim nächsten Mal.
Tobias packt seine Unterlagen zusammen und verschwindet. Ich kassiere kurz den Bewunderungszuspruch meiner Freundinnen für meine deutlich besseren Antwortkonter im zweiten Teil – und dann fällt mein Blick auf die Thermotasse auf dem Tisch.
Dass Tobias vergessen hat, sie mitzunehmen, deute ich als Schicksalswink: Ich soll noch einmal zu ihm gehen. Mit seiner Tasse als Vorwand – und dem Ziel, ihm deutlich zu sagen, dass ich seine Fragestrategie durchschaut habe und unmöglich finde. Dass ich natürlich vollkommen darüberstehe. Aber trotzdem.
Hocherhobenen Hauptes marschiere ich zu seinem Büro.
»Ich habe doch noch eine Frage«, sage ich selbstbewusst, als er die Tür öffnet. »Habe ich mir irgendein Sternchen verdient?«
Er sieht mich an – und lächelt unmerklich. Warum das denn?! Er soll sich entschuldigen! Oder erklären!
»Es tut mir leid, wenn du dich überfordert gefühlt hast«, sagt er. »Aber ich möchte, dass du bestmöglich vorbereitet bist.«
»Auf die schwerste Prüfung, die hier jemals gehalten wurde?«, frage ich bissig. Er soll nur nicht denken, ich sei nicht mehr wütend! »Denn deine Fragen lassen darauf schließen, dass meine Prüfung etwa tausendmal schwieriger sein wird als die der anderen.«
»Falls das so gewirkt haben sollte«, sagt er, ohne eine Miene zu verziehen, »dann nur, weil ich von dir eben mehr erwarte.«
Na toll! Will er mir die vergangenen fünf Folter-Stunden jetzt als Auszeichnung verkaufen?! Es gefällt mir nicht, dass er so selbstzufrieden wirkt, aber mir fällt auch nichts ein, was sich darauf entgegnen ließe – ich kann ihm ja schlecht sagen, er möge bitte nichts von mir erwarten.
»Danke«, sagt er und nimmt mir die Tasse aus der Hand. Man könnte wirklich denken, er hätte sie absichtlich vergessen, damit ich sie ihm herbringe.
»Und bis bald. Versuch inzwischen, ein bisschen mehr zu arbeiten, als du dich amüsierst, ja?«
Damit schließt sich seine Tür, ohne dass ich dazu gekommen wäre, noch irgendwas zu antworten. Obwohl mir jetzt eine Menge prima Entgegnungen einfallen: »Versuch du inzwischen, herauszufinden, was dich etwas angeht!«, könnte ich zu seiner geschlossenen Tür sagen. Oder: »Wie bitte? DU amüsierst dich doch den ganzen Tag!« Bloß klopft man für so was ja nicht noch mal an. Also gehe ich … aber nur umso fester entschlossen, ihm beim nächsten Mal zu beweisen, dass ich einfach auf ALLES die passende Antwort habe – sowohl auf fachliche als auch auf alle privaten Unverschämtheiten.
In der nächsten Konsultation werde ich unschlagbar sein.