Gucken Sie nicht, als hätten Sie all ihre Kraft schon für den Weg hierher aufgebraucht«, mäkelt Schwester Marianne, als wir zum Dienstbeginn der Nachtschicht an ihren Tresen treten. Sie meint Isa. Auch Jenny und ich haben vorhin vorsichtig angefragt, ob sie tatsächlich weiter im Nachtdienst arbeiten möchte, wenn das Lernen sie schon so belastet.
Isa aber behauptet, sich im OP nicht so überfordert zu fühlen wie über ihren Büchern. »Es tut mir gut«, hat sie beteuert. »Dort merke ich wenigstens, dass ich schon IRGENDWAS kann.«
Wir haben uns also überzeugen lassen, dass die Nachtschichten bei ihr eher Druck abbauen. Und sind umso mehr verärgert über Schwester Mariannes blöden Empfangsspruch. Ein kurzer Blick über den Tresen genügt: Tablet-PC, Film.
»Und wie gucken SIE?«, frage ich böse. »Pausenlos? Reicht IHRE Kraft nicht mal dafür, Ihren Film anzuhalten, während Sie die Nachtschicht begrüßen?«
Isas entsetzter Blick ist unnötig; ich weiß, dass ich zu weit gegangen bin. Marianne hält den Film nicht an, als sie uns beleidigt die Aufgabenverteilung für die Nacht zufaucht. Aber das musste sein. Und zum Glück habe ich ihre miese Laune nun auf MICH gezogen und Isa kriegt davon wenigstens nichts mehr ab.
Ich bin heute wieder in der Inneren eingeteilt. Nein, ich unterstelle nicht, dass Tobias das extra so organisiert – aber er hat ebenfalls Dienst. Hat er denn überhaupt kein Leben? Reagiert er vielleicht nur deswegen so angespannt darauf, dass ICH die Waage zwischen Beruf und Privatleben grade so hervorragend ausbalanciert kriege?
Ich beginne die Nachtschicht, solange alles ruhig ist, mit einem Besuch bei Herrn Pflüger. Er grinst, als ich den Raum betrete.
»Wie schön, dass Sie kommen! Ich hatte solche Sehnsucht nach Ihnen! Kein anderer Arzt konnte mit Ihrer Visite mithalten!«
»Wenn Sie mir das vergelten wollen«, flachse ich, »geben Sie mir das schriftlich – ohne dazuzuschreiben, WODURCH sich meine Visite ausgezeichnet hat!«
»Das ist das Mindeste, was ich für Sie tun kann«, lächelt er. »Haben Sie schlimmen Ärger gekriegt?«
Ich schüttle den Kopf, Herr Pflüger ist beruhigt. Ich werfe einen Blick in seine Akte. Bald hat er es geschafft, in wenigen Tagen wird er entlassen. Sein Leben wird nicht einfacher sein, weiterhin muss er mit dem Herzfehler leben, sich schonen, einige Dinge und Erlebnisse werden unerreichbar bleiben. Aber trotzdem muss er sich dann wenigstens nicht mehr Tag und Nacht langweilen – auch wenn ihm keiner Akrobatik-Tricks zeigt.
»Und wissen Sie«, lacht er, als ich das sage, »manche Dinge, von denen ich dachte, ich würde sie gerne erleben, sind gar nicht so großartig, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Ich muss mir bloß klarmachen, dass ich nur von ihnen träume, weil ich sie nie erleben DARF. Dank Ihnen weiß ich nun schon mal: Dass ich kein Akrobat werden konnte, ist gar kein großer Verlust.«
»Ja, dafür sind wir hier Spezialisten«, entgegne ich, gar nicht beleidigt. »Aktive Lebenshilfe durch selbsterniedrigenden Anschauungsunterricht.«
»SIE«, korrigiert er, »Sie sind meine Lebenshilfe-Spezialistin. Nur das mit der Selbsterniedrigung kann ich nicht unterschreiben. Ihr Handstand war kerzengrade!«
Ist es ein Wunder, dass ich bis zu den Ohren stolz grinse, als ich sein Zimmer verlasse?
Tobias kommt in den Arztraum geeilt, als ich mit der Nachtschwester die Aufgaben für die nächsten Stunden durchgehe.
»Guten Abend«, sagt er zu uns beiden und dann – zur Schwester, nicht zu mir: »Fräulein Weissenbach kann mir helfen; die Pankreatitis in Zimmer 2 klagt über Herzrasen.«
Er wartet nicht ab, ob ich ihm folge, sondern verlässt den Raum sofort. Na klar, wenn ein Patient mit Bauchspeicheldrüsenentzündung unter Schmerztherapie eine zu hohe Herzfrequenz hat, könnte das ein hypovolämischer Schock sein und man sollte keine Sekunde Zeit verlieren.
Ich eile hinter ihm her zu Zimmer 2. Er wartet nicht auf mich. Weil ein Verdacht auf einen hypovolämischen Schock eine dringende Sache ist. Sicher nicht, weil er es angemessen findet, dass ich hinter ihm herlaufe, oder?
Der Patient, ein Mann um die 50, atmet flach und ist sehr blass. Tobias untersucht ihn und fordert mich auf, den Blutdruck zu messen. Der systolische Wert ist niedriger als 100 mmHg, das ist verdammt wenig.
»Herzfrequenz über 100 pro Minute«, sagt Tobias eilig. »Haben sie Durst?«, fragt er den Mann. Der Patient nickt. »Aber ich hab was getrunken«, flüstert er.
»Haben Sie sich übergeben?«, fragt Tobias, der Patient nickt.
»Hypovolämischer Schock«, diagnostiziert Tobias. »Stadien?«
Ich begreife gar nicht, dass das eine Frage an mich war. Tobias sieht mich an. »Welche Stadien gibt es und wodurch zeichnen sie sich aus?«
Wie kann er JETZT Fragen stellen? Ich starre ihn an.
»Du weißt, was ein hypovolämischer Schock ist?«, fragt er, während er eine Infusion vorbereitet. Seine Stimme ist ganz ruhig – während seine Hände in fieberhafter Eile arbeiten.
Endlich finde ich meine Sprache wieder. »Ja natürlich. Eine Schockform, die durch Verminderung der zirkulierenden Blutmenge entsteht. Der Patient droht zu kollabieren. Drohendes Nierenversagen.« Ich bin nicht ganz Herr meine Stimme.
»Ich brauche zwei großvolumige Venenzugänge«, nickt er. »Und das ist Stadium 2. Tachykardie, Abfall des Blutdrucks, niedriger Venendruck, Rückgang der Diurese. Was muss getan werden?«
Er tut es doch schon. Und ich bin vollauf damit beschäftigt, ihm zu helfen! Wie kann ich dabei Fragen beantworten?
Tobias legt einen zentralen Venenkatheter an. Damit wird der Venendruck des Patienten gemessen. Zusätzlich erhält er eine invasive Blutdruckmessung, damit wir kontinuierlich den arteriellen Blutdruck überwachen können.
»Wir müssen Volumen substituieren. Wir geben Kristalloide und Kolloide.«
Während er spricht, bedeutet er mir mit knappen Gesten, was ich tun soll. Ich lege zwei Venenzugänge, auf die ich unter allen anderen Umständen stolz wäre.
»Was sind Kolloide – speziell Plasmaexpander?«
Was ist das hier? Eine Lehrstunde am lebenden Objekt? Wie kann er nebenbei derart gelassen Fragen stellen? Und WIE kann er erwarten, dass ich sie so ganz nebenbei beantworte?!
Aber ich weiß, was Plasmaexpander sind. Lösungen, deren kolloidosmotischer Druck größer ist als der des Blutplasmas. Ich weiß, was wir hier tun. Wir müssen die verloren gegangene Körperflüssigkeit ausgleichen.
Nur kommt meine Antwort abgehackt und verstottert. Weil ich dem zentralen Venenkatheter und der invasiven Blutdruckmessung mehr Aufmerksamkeit schenke als der Oberarzt-Inquisition.
»Richtig«, nickt Tobias trotzdem. »Ich gebe jetzt die erste Infusion, während du den ZVD misst und auf den arteriellen Blutdruck achtest.«
Der Patient ist für die Messung des zentralen Venendrucks vorbereitet, es kann losgehen. Ich muss darauf achten, dass der Venendruck 14 cm H2O nicht überschreitet.
Tobias führt dem Patienten intravenös die Infusionslösung zu. Ich kontrolliere den Venendruck und behalte gleichzeitig die arterielle Blutdruckkurve am Monitor im Auge.
Bitte, bitte, ich wünsche mir so, dass Tobias recht damit hat, so gelassen zu sein. Doch als ich jetzt einen Blick von ihm auffange, wirkt er angespannt. Es sieht aus, als ob er den Kiefer zusammenbeißt, viel zu fest. Doch gleichzeitig hält er die Hand des Patienten ganz sanft.
Für einen Moment bin ich nicht hier. Nein, ich vernachlässige die Kontrolle des Venendrucks keine Zehntelsekunde. Aber gleichzeitig sehe ich Tobias bei der Arbeit zu. Sein ernstes Gesicht, seine Hände. Konzentration. Sicherheit. Kraft. Der Patient wird durchkommen. Tobias wird nichts anderes zulassen.
Das Eine wird bleiben, Lena. Was immer die nächste Konsultation bringt – oder das nächste Jahr: Für dieses sichere, unbesiegbare Arzt-Sein wirst du ihn immer bewundern. Für seine Gradlinigkeit. Entschlossenheit. Dafür, dass er immer weiß, was zu tun ist. Und sich daran hält, egal, was es kostet. Das bleibt.
Ganz allmählich bessern sich sowohl der Venendruck als auch der Blutdruck. Tobias nickt mir zu.
Aber noch haben wir es nicht geschafft. Nach der gelungenen Soforttherapie müssen wir verhindern, dass es zu weiteren Komplikationen kommt, und kontrollieren, dass der Patient nicht an einer Schockniere oder Schocklunge kollabiert.
Es dauert beinahe eine Stunde, bis wir wissen, dass alle Organe funktionieren und die Blutprobe keine Störung im pH-Wert zeigt.
Der Patient hat es überstanden. Und ich auch.
Als wir das Zimmer verlassen, zittern meine Knie. Ein ganz kleiner Zuspruch wäre schön. Ich will kein Lob. Nur vielleicht hören, dass er auch in Sorge war. Oder es wenigstens normal findet, dass ICH Angst hatte. Aber er nickt bloß kurz in meine Richtung, dann geht er voraus zum Arztraum.
Als ich ihn einhole, sieht er mich doch an. »Du hast es sehr gut gemacht. Die Routine kriegst du noch.«
»Wie kannst du so ruhig bleiben?«
»Panik lähmt«, antwortet er knapp. Zwei Schritte lang Schweigen, dann sagt er, etwas leiser und ohne mir den Blick noch mal zuzuwenden: »Ich tue mein Bestes. Und wenn es nicht reicht … Dann kann ich es nicht ändern. Denn ICH habe alles gegeben, was ich konnte, und der Rest liegt manchmal nicht in meiner Hand.«
Oh Mann, ich hoffe sehr, dass er immer noch von dem Patienten spricht.
Vielleicht hat Tobias gemerkt, dass man das auch anders verstehen könnte. Oder er HAT es anders gemeint und es tut ihm nun leid. Der nächste Satz ist jedenfalls wieder eine Breitseite.
»Du arbeitest offenbar zu wenig. Du musst das alles im Schlaf können. Wenn du während einer Behandlung keinen klaren Satz rausbringst, machst du deine Patienten nervös – und das ist das Schlimmste, was man tun kann.«
Wie bitte?! ICH ARBEITE NICHT ZU WENIG. Ich lerne DEN GANZEN TAG! Und ich habe nur deswegen nicht in druckreifen Sätzen geantwortet, weil ich das ZUM ERSTEN MAL gemacht habe. Außerdem war es eine NOTFALL-Behandlung!
Bevor ich auch nur eins dieser Argumente vorbringen kann, haben wir den Arztraum erreicht. Er öffnet die Tür, ohne auf meine Entgegnung zu warten.
(Siehst du, Lena: Wenn du nach so einem Vorwurf keinen klaren Satz rausbringst, machst du DICH nervös. Und ärgerlich. Und das Schlimmste ist, dass er das Gefühl kriegt, er wäre im Recht.)
»Der Patient ist stabil. Wir geben weiter Kristalloide«, erklärt Tobias der Schwester. »Besondere Beobachtung. Ich kontrolliere ihn nachher noch einmal.« Dann wendet er sich in meine Richtung und sagt: »Wir werden eine neue Konsultation ansetzen, Sie können es brauchen.«
»Das kann ich nicht annehmen«, entgegne ich und bemühe mich um ein Lächeln, nur für die Schwester. »Sie müssen ja jede Nacht hier Dienst tun. Ich schaffe das schon.«
Die Schwester nickt zustimmend; offenbar findet sie es nur angemessen, dass ich das großzügige Angebot des überarbeiteten Oberarztes nicht annehme.
»Dafür nehme ich mir die Zeit«, widerspricht Tobias. »Übernächste Woche. Den genauen Termin besprechen wir noch.«
Ich nicke. Die Schwester hat sicher erwartet, dass ich in überschäumende Dankbarkeit ausbreche angesichts dieser selbstlosen Unterstützung. Aber ich fühle mich nicht unterstützt – eher verhaftet. Und meine Knie zittern immer noch.
»Fräulein Weissenbach kann Schluss machen, ihre Schicht ist ohnehin bald um«, sagt Tobias.
Ich verabschiede mich in den Feierabend. Die Schwester wünscht mir eine Gute Nacht. Tobias sagt nichts. Ich bin noch nicht am Ende des Flurs, als jemand hinter mir herruft.
»Fräulein Weissenbach?«
Was ist denn noch?! Will er mich noch mehr ärgern? Die förmliche Anrede legt nahe, dass schon wieder die Schwester in Hörweite ist.
ICH habe gar nichts gehört. Außerdem bin ich noch beleidigt, so. Ich laufe einfach weiter. Es tut mir leid, ich war seit Tagen nicht mehr so müde, wie ich es jetzt plötzlich bin. Schlagartig. Ich muss ins Bett. Meine Ohren sind schon zu. Ich habe nichts gehört, auch das zweite »Fräulein Weissenbach« nicht.
Leider holt Tobias mich ein. Und wedelt mit etwas vor meiner Nase herum, das mir unangenehm bekannt vorkommt. Etwas, das aussieht wie eine Prüfungsvorladung, liebevoll entworfen, stilecht auf gelbem Papier gedruckt. Meine Partyeinladung.
»Förmliche Einladung zum Examen« Anstelle der Fächer steht dort in Nonsens-Medizin-Kauderwelsch, dass getanzt, gesungen und getrunken wird, als Prüfer habe ich Isa, Jenny und mich eingetragen. »Zusätzlich bereiten Sie sich bitte auf das Fach Klinische Chemie vor.« Ah, das ist Felix’ Einladung. Ich wollte sie in sein Fach im Labor legen, damit Jenny sie nicht sieht. Natürlich habe ich das in der Aufregung komplett vergessen.
Tobias hält mir die Einladung hin, wortlos. Na ja – stumm. Seine Blicke sagen eine ganze Menge. Ich lese: »Also das verstehst du unter Prüfungsvorbereitung. Ich bin enttäuscht, wie kindisch du bist« und »Dafür hast du Zeit?!«.
Hab ich. Hab ich wirklich!
»Vielleicht sollte das bis nach den echten Prüfungen warten?«, sagt Tobias und es klingt nicht wie eine Frage. Zugegeben, er ist zwar ernst, aber nicht bissig; vielleicht unterdrückt er sogar ein wenig irritierte Belustigung. Aber das macht die Sache weder besser noch mich irgendwie cooler. Warum sag ich ihm nicht, dass ihn das gar nichts angeht?!
»Es ist unser Geburtstag. Der leider jedes Jahr am selben Tag stattfindet.« Hm, das klang eine Spur uncooler als erhofft.
»Du wirst keine vier, Lena«, antwortet er, »und dein Geburtstag wiederholt sich jedes Jahr. Vielleicht solltest du acht Wochen vor der Prüfung nicht all deine Energie in eine Partyplanung stecken.«
Damit überreicht er mir die Einladung und wendet sich zum Gehen.
Das hat er ja gern, der Herr Oberarzt. Jemandem eine verbale Breitseite verpassen – und dann einfach gehen. Mit mir nicht!
Aber ich sage immer noch nicht, dass es ihn nichts angeht. Stattdessen hat irgendwas in mir das Gefühl, ich müsste mich verteidigen. Weil ich vorhin die Stadien des hypovolämischen Schocks nicht korrekt benennen konnte. Und weil ich einfach nicht will, dass er mich für eine sich selbst überschätzende, blauäugige Vierjährige hält.
»Es ist … eine Vorprüfungsparty«, erkläre ich seinem Rücken. »Wirklich, wir werden den ganzen Abend lernen …«
Er dreht den Kopf, sieht mich über die Schulter an, sein Blick wirkt irgendwie fast mitleidig. »Wir lernen einfach mal anders …«, setze ich nach, »mit anderen …«
Er nickt knapp und geht weiter.
Geht’s noch, Lena?! Jetzt rechtfertigst du dich?! Warum ist es dir SO wichtig, dass er weiß, dass du nicht leichtfertig die Vorbereitungszeit verschwendest? Warum willst du denn unbedingt, dass er dir dein Geburtstagsfest gönnt? Und dann bitte auch noch, dass er deine Idee einfach großartig findet?!
Sag irgendwas Nettes, Lena! Was Nettes, Kluges, Souveränes und Unbeleidigtes. Etwas, das klingt, als wärst du dir deiner Sache ganz sicher. Sicher, dass du weißt, was du tust. Dass du keine Angst um deine Prüfungen hast und auch keinen Grund dazu. Weil du eine erwachsene Fast-Ärztin bist, die weiß, was das Examen kostet – und sich trotzdem nicht das ganze Leben verbietet.
»Möchtest du kommen?«
Ups. Ging’s nicht ETWAS kleiner?!
Das wäre das Ende der Party. Eine Zehntelsekunde genügt, um mir vorzustellen, wie er in unserer geschmückten Küche steht und meine Prüfungsparty-Deko mustert – mit diesem typischen distanzierten Lächeln, bei dem sich nur eine Augenbraue hebt. Und wie alle ringsum schweigen und ich mir plötzlich unheimlich blöd vorkomme.
Kann man eine Einladung einfach zurücknehmen? (»Haha, kleiner Scherz, ich weiß ja, du gehst nicht auf Partys«? »Hab mich geirrt, wir machen gar kein Fest«?) Vielleicht hat er es nicht gehört?
Er dreht sich um. Sieht mich an. Mustert mich, als denke er über das Angebot nach. Nein, ich habe mich versprochen. Ich meinte: »Es ist eine Party, auf die sogar du kommen könntest«. Aber nicht »Komm!«
Er sieht mich an. Und dann schüttelt er den Kopf. Vielleicht sieht er ein kleines bisschen traurig aus. Aber bevor sich dieser Eindruck überprüfen ließe, ist er in seinem Büro verschwunden.
Auf dem Weg aus der Klinik fühle ich mich irgendwie mies. Meine Party, auf die ich so stolz war, kommt mir plötzlich doof und kindisch vor. Und hat er wirklich traurig ausgesehen – oder sollte das sein Bedauern darüber sein, dass ich nicht rund um die Uhr lerne, sondern zwischendurch Geburtstage plane? Wieso gelingt es diesem Mann immer wieder, meine Gefühle derart gemein zu beeinflussen?! Warum mischt er sich ÜBERHAUPT ein?! Es mag ja sein, dass er mein neues, leichtes Leben mit Skepsis betrachtet. Aber das kann er schön für sich behalten! Sonst interpretiere ich es nämlich am Ende noch als Neid, Herr Oberarzt!
Zum Glück habe ich Alex. Der sagt, dass er die Karaokemaschine bereits in seine Wohnung geholt hat und dass alle Gäste, mit denen er heimlich konferiert hat, sich riesig freuen und unsere »besonderen Prüfungsfächer« nicht als stressige Gast-Pflicht, sondern als aufregende Herausforderung sehen.
Alex merkt, dass ich angespannt bin und fragt, ob ich die anstrengende Nachtschicht durch Schlaf oder durch aktiveren Stressabbau kompensieren möchte. Als ich mich für das zweite entscheide, überlegt er nur kurz – und fragt: »Benzin, Motorengedröhn, Geschwindigkeitsrausch … Wäre das was, wobei gestresste Ärztinnen Dampf ablassen können?«
»Diesmal liegst du total daneben«, antworte ich frech. »Geschwindigkeitsrausch und Motorgedröhn hab ich bei Jenny genug – und das entspannt mich NIEMALS!«
»Wart’s ab«, grinst er. »Ich glaube, in diesem Fall kenn ich dich besser als du.«
Ich verschränke die Arme und lehne mich abwartend zurück. Das soll er erst mal beweisen. Ich bin sehr gespannt.
Alex gibt Gas und ich denke bei mir, dass DAS eigentlich schon fast für meinen Stress-Ausgleich genügt: Dass ich einen Freund habe, der nachts auf mich wartet und sich für mich Überraschungen ausgedacht hat.
»Danke«, lächle ich leise, »auch wenn du total danebenliegst.«
Er liegt total richtig.
Das Ausflugsziel dieser Nacht ist eine Kartbahn. Die rund um die Uhr geöffnet hat, was eigentlich unrentabel wirkt, denn es ist niemand sonst da. Das aber ist das Allerbeste: Dass wir bis auf einen Einweiser im Möchtegern-Schumacher-Anzug ganz allein sind.
Alex zieht mir eine Art Sturmhaube über und sucht einen Helm in meiner Größe – und schon diese Rennfahrerverkleidung genügt, damit ich mich einfach großartig fühle. Unbesiegbar. Die rasende Lena. Speedy Gonzales, die schnellste Frau von Berlin. (»Nachts tauscht Dr. Weissenbach den Kittel gegen einen Renn-Overall und stellt Formel-1-Rekorde auf.«)
Okay, ganz so schnell geht es nicht. Die ersten drei Runden fahre ich eher Kinderwagen-Tempo, bremse vor den Kurven sicherheitshalber ab, suche danach das Gaspedal und fahre jedesmal vor Schreck zusammen, wenn Alex mich überholt. Während meiner ersten Runde schafft er sieben. »Drück das Gaspedal durch«, ruft er mir zu. »Es kann nichts passieren!«
Ich glaube, es kann einiges passieren;Vernunfts-Lena zählt innerlich auf, welche Quetschungen sich jemand zuziehen würde, der sein Kart umkippt, dass eine Kollision mit der Bahnbegrenzungsbande wohl eine Gehirnerschütterung auslösen könnte und wie weit es von Abgas-Geruch zu Kohlenmonoxid-Vergiftung ist.
An dieser Stelle trete ich das Gaspedal durch – und fahre Vernunfts-Lena einfach davon.
Es macht riesigen Spaß. Es macht süchtig. Weder überschlage ich mich, noch kollidiere ich mit der Bande. Zugegeben, ich fahre nicht Alex’ Geschwindigkeit. Aber so schnell, dass immerhin MIR die Luft wegbleibt. Und das nicht wegen des Abgasgeruchs, sondern wegen meines rasanten Tempos. Ich gebe am Ende sogar bergab Vollgas, ich schlittere durch die Kurven, ich trete das Gaspedal so stark durch, dass ich fast einen Krampf kriege. Eine Stunde später steige ich aus dem Kart und frage mich, woran mich meine zitternden Knie erinnern müssten.
An die Klinik. An Tobias. Die Rennfahrer-Aufregung hat dazu geführt, dass ich diese andere Nervosität für eine Stunde vollkommen vergessen habe.
Auf dem Heimweg kommt mir Alex’ Fahrstil geradezu opimäßig vor. Es ist wieder so spät, dass der Bäcker bereits geöffnet hat. Ich bin rechtschaffen schläfrig – seit dem Abend ein Adrenalinkick nach dem anderen, das ermüdet selbst mich. Aber trotz Lebensretter-UND-Rennfahrer-Erschöpfung kann ich nicht einschlafen. Ich liege ganz still in meinem Bett, lausche auf Alex’ regelmäßige Atemzüge und in mir tobt es. Die Glückshormone führen Indianertänze auf.
Ich fühle mich einfach großartig. Superfleißige Studentin UND lässige Nachtschwärmerin – es ist, als ob ich ZWEI Leben führen kann, gleichzeitig. Und das ist nicht kräftezehrend, sondern scheint mir immer noch mehr Kraft zu geben.