Ich würde heut gerne zu Hause bleiben«, sagt Isa zaghaft. »Ich weiß nicht, ob ich so in die Nachtschicht kann.«
»Wie so? Schwanger?«, fragt Jenny frech. »Heißt das, du willst die kommenden sechs Monate nicht mehr arbeiten?«
»Doch, doch. Nur was ist, wenn ich mich dort übergeben muss?«
»Du bist nicht seit gestern schwanger«, antwortet Jenny rigoros. »Hast du dich schon mal abends übergeben?«
Isa schüttelt den Kopf. »Na bitte«, grinst Jenny, »deshalb heißt es Morgenübelkeit.« Dann wird sie ernst. »Die Chirurgie-Schicht war das Einzige, wo du dich in den letzten Wochen wie ein Fisch im Wasser gefühlt hast. Nur weil du jetzt Bescheid weißt, ändert sich doch nichts daran.«
Isa nickt. Und geht doch mit uns mit.
Ich packe heute vorsorglich ein Kleid ein. Nach der Schicht bin ich mit Alex verabredet.
»Schläfst du nur aushäusig oder ziehst du jetzt doch bei ihm ein?«, neckt mich Jenny.
»Ich ziehe nicht ein, ich ziehe um die Häuser«, entgegne ich schneidig. »Ich bin ja die Einzige, die sich noch um die Außenwirkung der Medizinstudenten und die Bewahrung der Sage von ihrer Schlafresistenz kümmert.«
Es stimmt tatsächlich. Jenny hat seit Tagen das Haus nicht verlassen. Felix kommt zu uns, bleibt auch über Nacht, fährt morgens von hier zur Arbeit – aber die beiden gehen nicht aus.
»Ich muss eben lernen«, schnaubt Jenny, »der Stoff fliegt nicht allen so zu wie dir.«
Aber dieses strikte Zuhausebleiben passt nicht zu ihr. Geht sie nicht mehr gern mit Felix aus? Ganz kurz drängt sich mir der Verdacht auf, dass sie vielleicht lieber mit ihm zu Hause bleibt, weil sie da Herrin der Lage ist. Und mit ihm allein …
Aber ich tue ihr sicher unrecht. Jenny und Isa lernen wirklich stundenlang. Selbst wenn sie es vielleicht nur tun, um sich nicht mit anderen Dingen beschäftigen zu müssen.
Die ersten drei Fälle in meiner heutigen Nachtschicht in der Notaufnahme sind Patienten, die über Bauchschmerzen klagen. Die ersten beiden haben nichts Ernsthaftes. Der dritte Patient hat so starke Bauchkrämpfe, dass er kaum laufen kann. Er ist 13.
Seine Mutter ist vollkommen aufgelöst. Sie hat den Jungen von einem Geburtstag abgeholt und weiß nicht, was er gegessen hat. Sie hält ihren kleinen Jannick die ganze Zeit fest, so dass sie regelrecht die Untersuchung behindert.
Jannick zeigt Symptome einer Vergiftung. Seine Mutter telefoniert inzwischen mit den Eltern aller anderen Geburtstagsgäste, keinem Kind geht es schlecht.
»Tut mir leid, Sie dürfen hier nicht telefonieren«, sage ich schließlich. Ich will eigentlich nur, dass sie rausgeht. Denn schon seit seiner Einlieferung habe ich das Gefühl, dass Jannick seine Mutter seltsam ansieht. Schuldbewusst. Ängstlich.
Auch Dr. Feinmann atmet erleichtert auf, als Jannicks Mutter in den Wartebereich verschwindet.
»So, Jannick«, sage ich ruhig. »Was hast du getrunken?«
Ich bin keine 13 mehr. Aber bei mir ist es doch noch nicht ganz so lange her wie bei seiner Mama. 13-Jährigen-Geburtstage sind die gefährlichsten. Weil manche Eltern immer noch glauben, dort würde nur Fang-den-Hut gespielt.
»Eine blaue Flasche«, sagt Jannick und fängt an zu weinen. »Ich hab bei Wahrheit oder Pflicht verloren.« Das überrascht mich doch. Nicht, dass er getrunken hat, sondern dass 13-Jährige immer noch Wahrheit oder Pflicht spielen.
Alkoholvergiftung. Die Benommenheit und die rötliche Gesichtsfarbe passen dazu, auch, dass Jannick sich bereits zweimal übergeben hat. Er riecht kaum nach Alkohol. Dr. Feinmann tippt auf Wodka oder Korn.
»Primäre Giftentfernung«, sagt Feinmann. Fängt er jetzt auch an, mir während der Arbeit Prüfungsfragen zu stellen?! Doch dann fange ich seinen nachdrücklichen Blick auf. »Sie verstehen?«
Das tue ich. Er hat nur die fachsprachliche Umschreibung verwendet, um vor dem Kleinen nicht »Magen auspumpen« zu sagen.
Als ich Jannick auf einer Trage über den Flur schiebe, entdecke ich seine Mutter am Ende des Ganges. Sie telefoniert immer noch und in enormer Lautstärke.
Eigentlich kann sie aufhören, die Gastgebermutter zu terrorisieren. Aber ich sage es ihr nicht. Weil sie so wenigstens beschäftigt ist. Und weil Jannick noch früh genug beichten muss. Außerdem hat eine Gastgebermutter, die 13-Jährige nicht beaufsichtigt, mindestens diese kleine Strafe verdient.
Eine Magenspülung ist unglaublich unangenehm, doch Jannick ist tapfer. Er würgt, als der Schlauch eingeführt wird, er erbricht sich noch einmal. Aber er weint nicht mehr. Erst, als wir endlich den Schlauch entfernen.
»Es tut mir so leid«, flüstert Jannick, als Dr. Feinmann ihm erklärt, dass er zur Kontrolle noch einen Tag hierbleiben wird.
»Schon gut, du alter Säufer«, sage ich. »Du machst es garantiert nie wieder.«
»Und meine Mutter?«, fragt er. »Müssen Sie …«
Leider – das können wir ihm nicht ersparen. Dr. Feinmann seufzt. »Schon gut, Kleiner, wir gehen nicht raus und sagen: Ihr Sohn hat sich besoffen. Wir umschreiben es erst mal sensibel – und du beichtest dann alles andere, wenn sie sich beruhigt hat.«
Jannick nickt dankbar. Dr. Feinmann sieht mich nachdenklich an. »Fällt Ihnen was ein?«
»Alkoholintoxikation?«, schlage ich vor. Klingt das medizinisch genug? Er lächelt. »Wir nennen es ganz korrekt C2-Intoxikation.«
Das tun wir. Jannicks Mama flippt trotzdem aus. Weswegen ich mich bemüßigt fühle, ihr zu erklären, dass Jannick dem Gruppenzwang erlegen und die Vergiftung schon Strafe genug ist. Und dass man 13-Jährige besser beaufsichtigt. Und sie das der Geburtstagsmama bitte nachdrücklich ausrichten soll.
Ich habe es begriffen, Dr. Al-Sayed – ich kann die Patienten nicht nach Hause begleiten. Aber hier, solange sie meiner Obhut unterstehen, kann ich für sie so viel tun wie möglich. Und wenn es nur das ist: Dass ich ein gerechtes bisschen mütterliche Wut von Jannick weg auf die Gastgebermutti umlenke.
Als ich drei Stunden später in die Sommernacht stolpere, wartet Alex’ Wagen bereits auf dem Parkplatz. Aber da ist noch jemand.
Tobias.
Er betritt eben den Vorraum, vielleicht fängt er jetzt erst seine Schicht an, vielleicht hat er nur etwas aus dem Auto geholt. Aber ich stehe ihm direkt gegenüber.
»Hallo«, sage ich. Er auch. Dann sieht er meine Tasche, aus der die weiße Klinikhose ein bisschen herausguckt. Er schaut zu Alex’ Auto, aus dem Musik zu hören ist, und wieder zu mir. Ja, ich bin schon für mein Vergnügungsprogramm umgezogen. Und habe eben im Umkleideraum ein bisschen Make-up aufgelegt.
»Was ist das denn?«, fragt er und deutet knapp auf mein Kleid. Weil es kurz ist? Weil es nicht nach Klinikkleidung aussieht? Soll es ja auch nicht.
Das, lieber ewig-ernster Herr Oberarzt, ist ein ausgewogenes Lernen-UND-Spaß-Konzept! Weil ich beides kann. In der Nachtschicht sicher und hellwach Entscheidungen treffen und Mägen auspumpen. Und danach entspannt – aber ebenso hellwach – mit meinem Freund Partys besuchen.
»Wir gehen noch aus«, sage ich und bemühe mich, dass es nur nach Informationsübermittlung und gar nicht beleidigt klingt.
»Warum?«, fragt er.
Wäre es nicht an mir, warum zu fragen? Warum will er das wissen? Warum glaubt er, dass ich es ihm sage?
»Weil meine Schicht vorbei ist«, antworte ich, »aber die Nacht noch jung.«
»Du solltest dich mal hören.«
Wie bitte?!
Noch ein bis vier weitere Warums drängen sich auf. Warum sagt er so etwas Gemeines, beinahe Abfälliges? Warum ist er so wütend?
Er wendet sich ab und geht in den Aufnahmebereich.
So nicht! Drei schnelle Schritte, dann habe ich ihn eingeholt.
»Ich höre mich«, sage ich wütend. »Ich höre mich den ganzen Tag und finde nicht alles, was ich sage, notwendig, aber den allergrößten Teil doch inhaltlich vertretbar. Also WAS sollte ich hören, das dich so stört?!«
Er sieht mich an, fast als müsse er ungewollt lächeln. Na klar, ich hab mal wieder zu viel geredet. Aber ja, ich habe alles, was ich sagte, gehört – und meine es so.
Tobias lächelt nicht. Er sieht müde aus.
»Ich versteh einfach nicht, warum du dich dazu verleiten lässt«, sagt er leise. »Warum du deine Energie aufteilst. Gerade jetzt.«
»Ich teile sie nicht auf«, widerspreche ich. »Ich hab einfach momentan mehr Energie. Ist es wirklich so schlimm, dass ich mich nach allem hier …« Meine Geste schließt die ganze Notaufnahme ein, den kleinen Jannick, Schwester Marianne, »… noch ein bisschen erholen und ablenken möchte?«
Warum versteht er das nicht? Eine ganze Menge Warums heute Abend. Scheint, als verstünden wir uns überhaupt nicht mehr.
Er geht nicht auf meine rhetorische Frage ein, nicht auf meine hilflose, anklagende Geste. »Wenn du nach ALL DEM noch Energie übrig hast«, fragt er nur, »warum nutzt du sie dann nicht für die Prüfungsvorbereitung?«
Weil ich so viele Nächte durchgelernt habe? Weil ich auch ein Leben haben möchte? Weil man durchdreht, wenn man nichts weiter tut als Lernen? Wegen Alex?
»Ich kann nicht IMMER arbeiten«, sage ich nur und versuche ein Lächeln. Das muss er doch verstehen.
»Du kannst noch nicht den ganzen Stoff«, entgegnet er.
Nein. Damit hat er recht. Aber muss ich den wirklich noch heute Nacht komplett beherrschen? Ich liege gut in der Zeit. Ich werde morgen wieder acht bis zehn Stunden am Schreibtisch sitzen … Lass mich doch einen schönen Abend erleben, ohne mir ein schlechtes Gewissen zu machen! (Oder lass es dir doch endlich egal sein, Lena, ob er meint, du müsstest dich deswegen schlecht fühlen!)
Tobias wirkt enttäuscht. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Das Gefühl, ihn zu enttäuschen – oder dass mich das immer noch so aus dem Gleichgewicht bringt.
»So warst du früher nicht«, sagt Tobias. »So bist du nicht. Du wolltest nicht irgendeine Ärztin werden, sondern die beste.«
Ich weiß. Aber ist es fair, das zu sagen? Mit einer so enttäuschten Miene?
»Muss ich das?«, frage ich. Nicht aus Trotz, es ist eine ganz ernst gemeinte Frage. Muss ich die Beste sein? Ist das wirklich die einzige Art, wie man eine Prüfung bestehen kann – als Beste? Oder ist das nicht nur in Tobias’ Welt so, in der es keine Ablenkung gibt, keine Partys und nicht mal Freunde? Muss ich auch so werden? Ist das die einzige Art, wie man Arzt sein kann?
Tobias sieht mir in die Augen. Es ist schwer zu ertragen.
»Ja«, antwortet er leise. »Das musst du. Es ist deine Pflicht, die Beste zu sein.«
Ich bin sprachlos. Mehr will er nicht?! Gibt es sonst nichts, was man um vier Uhr morgens nach einer Nachtschicht und vor dem Klinikeingang von einer End-PJlerin verlangen kann? (Wieso nicht noch, dass sie nebenbei das Medikament gegen Krebs entdeckt? Das gleich noch vor Feigheit, Falschheit und Rachsucht schützt? Und bei einmaliger Einnahme alle Kriege beendet?)
»Weil du es könntest, Lena«, unterbricht Tobias mein vor Gekränktheit wild trudelndes Gedankenkarussell. »Eine Drei reicht nicht für dich. Das würde dir einfach nicht gerecht.«
Dagegen kann man nichts sagen. Weil es ein Lob ist, das zum Heulen stolz machen könnte. Nur verpackt in einen Tadel, der zum Heulen wehtut.
»Ich will nicht mit einer Drei abschließen«, sage ich. Ich höre mich selbst und höre mich jämmerlich an. »Ich glaube, dass ich mehr schaffe.«
»Und ICH glaube«, entgegnet er, »dass du jede Minute Ablenkung irgendwann bereuen wirst.«
Und damit geht er endgültig. Ich will ihm nicht nachlaufen. Ich wüsste auch nichts mehr zu sagen.
Am Rand des nächtlichen Krankenhausvorplatzes steht Alex’ alter Wagen, drinnen läuft Musik. Ich gehe langsam darauf zu. Ein ganz leichter Regen fällt, kaum spürbar. Es könnte eine wunderschöne Endsommer-Nacht sein.
Ich werde mir das nicht zu Herzen nehmen. Ich will nicht mehr, dass er mich mit so knappen, harschen Sätzen so durcheinanderbringt. Ich schaffe eine Eins bis Zwei. Auch wenn ich zwischendurch den Kopf ausschalte.
Noch zehn Schritte bis zum Auto. Ich werde die Tür öffnen, Alex küssen und eine wunderschöne Nicht-Ärztinnen-Nacht verbringen.
Noch fünf Schritte.
Ich weiß, was Tobias meint. Dass ich noch besser sein könnte, wenn ich auf das Kopf-Ausschalten verzichte. Und dass das mein Ansporn sein muss. Nicht besser zu sein als alle anderen, sondern so gut ich nur kann.
Ich öffne die Autotür, Alex dreht die Musik leiser und lächelt mich an. »Alles okay?«
»Ja«, lüge ich. Dann bitte ich ihn, mich nach Hause zu bringen. Nur nach Hause.