Erinnerst du dich noch«, fragt Jenny mit flacher Stimme, »als wir vor 100 Jahren zwei Stunden mit Pharmakologie verbracht haben? Wir wollten Methoden zur Schicksalsbeeinflussung lernen, mit denen wir eine Pharma-Prüfung verhindern können …«
»Selbst schuld also«, antworte ich ebenso wehmütig. »Warum haben wir diesen Plan nie in die Tat umgesetzt?«
Es ist das erste Mal, dass wir heute den Mund aufmachen. Bisher haben wir nur gelesen und gelesen. Und höchstens verzweifelt vor uns hingemurmelt. Begriffe wie 2-Sympathomimetika, Phosphodiesterase-3-Hemmstoffe oder Opioidrezeptoren und ihre endogenen Liganden. Jede Überschrift ein Todesurteil.
»Ja, der Sommer unserer Jugend«, jammere ich. »Als wir noch dachten, das Leben sei schön und gerecht …«
»Sei still und lern!«, sagt Jenny grob. Dann ist wieder für drei Stunden nichts außer dem vereinzelten verzweifelten Murmeln zu hören, das uns unweigerlich entfleucht, wenn wir die nächsten Kapitelüberschriften lesen.
Wir waren bei Johanna und Patrick, um uns einen Überblick über das Fach zu verschaffen. Sie HATTEN ein Baumarkt-Bild: Baum am Meer, in Fake-Gold-Rahmen. Aber statt die Scheußlichkeit anzustaunen haben wir einen Blick in die unendliche, unbeherrschbare Welt der Pharmakologie geworfen und uns bestätigt, dass wir sie niemals komplett durchwandern werden.
Wir haben die Kapitel aufgeteilt, über die wir uns in den nächsten drei Wochen Vorträge halten werden. Dann sind wir nach Hause gewankt und haben Johanna und Patrick in ihrer Verzweiflung allein gelassen, weil wir hofften, dass uns unterwegs ein freundliches Alien-Volk von der Straße weg in eine fremde Galaxie beamt. Es muss nicht ZU freundlich sein. Meinetwegen können sie mich auch rauben, damit ich den Rest meines Lebens ihre sechsbeinigen Kinder in außerirdischem Gesellschaftstanz unterrichte oder ihre Schleimpfützen in den Raumfähren aufwische. Alles ist besser als Pharmakologie.
Das Schlimmste ist, dass wir die Pharmakologie wieder beiseitelegen müssen, bevor wir das Gefühl gewonnen haben, wir hätten nur einen Zipfel erwischt, an dem wir sie packen könnten. Denn ab morgen lernen wir wieder für die Schriftliche. Jetzt muss es organisiert zugehen. Die Schriftliche ist schließlich zwei Wochen eher. In vier Tagen.
Isa kocht uns Tee und verspricht, für uns Referate vorzubereiten. »Mutti hat ja Zeit«, lächelt sie friedlich. Jetzt bin ich es, die gern mit ihr tauschen würde …
Jenny lernt nicht mehr gut, seit sie von Felix getrennt ist. Ich weiß, dass sie den ganzen Tag über ihren Büchern sitzt, ich sitze ja daneben. Aber am nächsten Morgen kann sie kaum etwas vom Vortages-Stoff wiederholen. Als wir ins Krankenhaus fahren, um unsere Prüfer um ein Vorgespräch zu bitten, eilt sie so schnell durch den Eingangsbereich, als würde sie von einer Feuerwalze verfolgt. Dabei kommt Felix fast nie hier hoch …
Das Prüfungsvorgespräch kann einen entscheidenden Vorteil bringen. Als wir den ersten Pharma-Schock überwunden hatten und endlich lesen konnten, was der gelbe Brief außer dieser schrecklichen Mitteilung noch an Informationen bereithielt, waren wir eigentlich ganz zufrieden. Chirurgie prüft Dr. Thiersch persönlich, Innere Medizin Dr. Paulsen – beides wie erwartet. Den Professor für Pharma kennen wir nicht, aber in der Gynäkologie bekommen wir es zum Glück mit Dr. Al-Sayed zu tun. Nun müssen wir sie nur noch um ein Vorgespräch bitten.
Wir wissen, dass nicht alle Prüfer diesem Gespräch zustimmen. Trotzdem sind wir vor den Kopf gestoßen, als Dr. Thiersch uns abwimmelt.
»Wozu?«, fragt sie. »Wir kennen uns bereits. Und über die Prüfungsinhalte werden Sie von mir sicher nichts erfahren.«
Wir sehen sie bestürzt an, bis sie mit einem knappen: »Wir sehen uns bei der Prüfung« die Tür schließt.
Bei Dr. Paulsen läuft es besser. Vielleicht auch, weil ich mit »Da wir uns ja noch gar nicht kennen …« beginne. Sie gibt uns einen Termin für nach der schriftlichen Prüfung.
Dr. Al-Sayed lächelt uns an und bittet uns in ihr Büro. »Wir erledigen das am besten gleich, Sie wissen ja, wie unberechenbar unsere Station ist.« Ja, das wissen wir.
»Was haben Sie denn für Fragen?«, erkundigt sie sich und ich habe das Gefühl, dass sie schon wieder auf dem Sprung ist.
Jenny und ich wechseln einen Blick. »Was kommt denn dran?« kann man wohl nicht gut fragen. Zumindest nicht so direkt.
»Wir haben Schwangerschaft und Wochenbett vorbereitet, gynäkologische Leitsymptome und Notfälle …«, beginne ich. »Gibt es noch irgendwas Besonderes, worauf wir Wert legen sollten?«
Jennys Blick ist anerkennend. Sieh mal an, so schlau bin ich.
Dr. Al-Sayed aber lächelt nur. »Sie werden in der Prüfung auf nichts treffen, was Sie nicht kennen«, sagt sie. »Zumindest nicht, wenn Sie hier aufmerksam waren.«
Waren wir. Wir nicken beide. Und sind kein bisschen schlauer.
Dr. Al-Sayed lehnt sich zurück. »Und? Was wird aus Ihnen?«
Sie sieht mich dabei an. Ich weiß nicht, was ich antworten soll.
»Bleiben Sie hier? Trotzdem?«
Wie bitte? Trotz WAS?
Trotz Tobias. Sie spricht es nur nicht aus. Wegen Jenny. Oder weil sie denkt, es sei nicht nötig.
»Ich denke, Sie könnten hier eine Menge lernen«, sagt sie ruhig. »Und wer weiß, was die Zukunft noch so bringt. Beruflich und privat. Sie sind noch jung.«
Was? Was meint sie mit privat? Will sie wissen, ob ich … ob Tobias … ob ich mich noch mal umentscheide?
Jenny wirkt ebenfalls verdutzt.
Ich muss es deutlich sagen. »Beruflich würde ich mich natürlich freuen, irgendwann als Ärztin am St. Anna zu arbeiten«, erkläre ich. Hat sie das verstanden? Beruflich. Von privat habe ich nichts gesagt.
Sie nickt und steht auf. »Dann sehen wir uns bei der Prüfung.«
Wir sind noch keine drei Schritte von ihrem Büro entfernt, als Jenny meint: »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, es ging eigentlich um Tobias.«
»Sie sind Freunde«, erkläre ich.
»Ja toll«, schnaubt Jenny. »Aber davon abgesehen haben wir gar nichts erfahren.«
»Keine Sorge«, entgegne ich fatalistisch, »wir haben ja noch den Prüfungsratgeber.«
Wie wenig der uns hilft, wird spätestens klar, als Jenny am Samstag vor der Schriftlichen laut daraus vorliest: »Das Wochenende vor dem Examen sollte man sich unbedingt Freizeit gönnen und NICHT MEHR in die Lehrbücher sehen.«
Haha. Wir gönnen uns stattdessen eine Extra-Lernschicht. Eine so konzentrierte, dass ich selbst mit Alex nur ein fünfminütiges Telefonat führe. Und am Sonntagabend sehen wir in die Lehrbücher, bis Isa uns um zehn ins Bett scheucht. Dann lese ich heimlich in meinem Zimmer weiter, bis mir die Augen zufallen. Obwohl ich nicht glaube, dass ich mich morgen früh noch an einen einzigen Satz erinnern werde.