Am Montagabend bin ich mit den Nerven absolut am Ende. Komplett erledigt.
Ja ja, als ich mich am Morgen auf den Weg zur nächsten Konsultation bei Tobias gemacht habe, wusste ich eigentlich, was mich erwartet. Na gut, ein klein wenig habe ich doch darauf gehofft, dass unser Gespräch nach der letzten Konsultation irgendwas bewirkt haben könnte. Hat es aber nicht. Ich erlebe ein Déjà-vu. Jenny, Isa, Johanna und Patrick, Tobias verteilt Fragen durch den Raum … und ich kriege die gemeinen.
Na gut, GANZ genau wie beim letzten Mal ist es nicht. Erstens, weil heute noch drei PJler aus der Pädiatrie und zwei aus der Neurologie dabei sind – mein Gestotter diesmal also fünf Zeugen mehr hat – und zweitens, weil ich mich nicht mehr ganz so hilflos vorführen lasse wie bei der letzten Konsultation. Und das nicht nur, weil das Fragenniveau insgesamt etwas höher ist und auch andere mitunter verlegen die Schultern zucken. Sondern auch, weil ich gelernt habe wie verrückt … und deswegen immerhin einen Teil meiner schweren Sonderaufgaben lösen kann.
Tobias wirkt zufrieden. Anfangs. Dann habe ich den Eindruck, dass er sich von meinen richtigen Antworten irgendwie herausgefordert fühlt. Es scheint, als ob ich mit jeder korrekten Antwort eine noch kompliziertere Frage provoziere.
Ein Test bestätigt meinen Verdacht – nachdem ich einmal passen musste, ist die Anschlussfrage einfach. Als ich diese richtig beantworte, folgt eine schwerere.
Ich könnte die Methode torpedieren, indem ich bei den fiesen Fragen immer passe und nur die leichten beantworte. Aber ich bin sauer. Und sauer bin ich am besten. Also stelle ich mich diesem bescheuerten Wettkampf. So leicht lasse ich mich nicht schlagen.
Mein Kopf raucht, ich muss eine ganze Armee von inneren Lehrbuchseiten mobilisieren. Aber obwohl das Hirn so heißläuft, dass sich meine Haare im Dampf zu Locken kringeln und mein Schädel zu explodieren droht … alles ist besser als Tobias’ leicht enttäuschtes Lächeln, wenn ich falschliege oder eine Wissenslücke eingestehen muss. (Wommm. Wenn sich der Rauch verzieht, sieht man nur noch einen weiblichen Oberkörper im blauen Pullover – über dem Halsansatz eine qualmende Ruine. Ein paar Notizzettel-Fetzen segeln still zu Boden. Tobias würde sicher ganz cool bleiben. Einfach weiter Fragen stellen: »Benennen Sie bitte die Ursachen dieser Zerebralexplosion, Fräulein Weissenbach! … Ach, das Fräulein ist nicht mehr antwortfähig, ich gebe die Frage weiter.« Und das kann er – die ist ja so leicht, dass selbst Johanna sie beantworten könnte.)
Aber noch explodiert nichts, auch wenn sich mein Kopf gefährlich dicht dran fühlt. Noch halte ich stand. Tobias merkt es und es scheint ihn zufriedenzustellen.
Ich erkenne, wohin seine Fragen führen: Er versucht rauszufinden, was ich noch nicht draufhabe. Aber vorerst gelingt es mir, alle Aufgaben zu parieren. Diesmal ist es eine Pädiatrie-PJlerin, die ängstlich zwischenfragt, ob das wirklich alles drankommen kann. Tobias lächelt kühl und sagt »Man weiß ja nie« – und ich zucke ebenso cool mit den Schultern und gebe die korrekte Antwort. Kann sein, dass das die Pädiatrie-PJlerin erst richtig fertigmacht: Nicht, dass so was geprüft werden könnte, sondern dass jemand es scheinbar mühelos beantworten kann. Aber das WIRKT erstens nur mühelos und ist es keineswegs – und zweitens antwortet nicht irgendjemand. Sondern Mich-kriegst-du-nicht-klein-Lena. Ich-habe-extra-alles-vorbereitet-Lena.
»Sehen Sie, Fräulein Weissenbach«, lächelt Tobias mir zu, nachdem ich eine besonders schwere Frage pariert habe. »So gut fühlt es sich an, wenn man in einem Thema wirklich sicher ist. Ich hoffe, Sie sind stolz auf sich.«
Das bin ich, danke.
Wenn er nur nicht nach diesem einen Thema fragt, in dem ich noch nicht sattelfest bin. Band 7 Nephrologie ist irgendwie verschwunden – vielleicht liegt er ja in Isas Bett – und ich habe den Lernbereich Niere deshalb aufgeschoben.
Ich hab das nicht laut gesagt. Aber klar: wenn man sich einmal darauf verlässt, dass die eigenen Gedanken ohne Untertitel nicht vom Gesicht ablesbar sind … Tobias lächelt mich plötzlich an. Ich kann die Comic-Glühbirne über seinem Kopf aufblitzen sehen. Und ahne Schlimmes. Nein! Die Gedankenübertragung zwischen ihm und mir hat doch NIE funktioniert!
»Neues Thema, neues Glück«, lächelt Tobias. »Kommen wir mal zur Niere.« Und dann geht es los. Was tun bei akutem Niereninfarkt? Welche Komplikationen können bei chronischer Niereninsuffizienz auftreten? Was gibt es für Nierenersatzverfahren?
Ich kann schon nach einer Viertelstunde nicht mal mehr das Wort Niere ertragen. Und muss passen und passen, schulterzucken und kopfschütteln. Er hat mich. Da nutzt auch die Wut nichts mehr.
Band 7 ist wahrscheinlich wirklich unter Isas Kopfkissen verschollen – jedenfalls kann sie den Großteil der Fragen beantworten und meldet sich, so oft es geht, um mir beizustehen. Trotzdem wünsche ich mir, mein Kopf wäre vorhin tatsächlich explodiert. Dann wäre ich wenigstens als die PJlerin in Erinnerung geblieben, die selbst die schwierigsten Fragen parieren konnte … (»Sie hat ihr Leben für die Medizin gegeben.«, »Das enorme Wissen hat einfach ihren Körper gesprengt.«) … und nicht als Totalversagerin.
Dass auch die anderen eine Menge mit den Schultern zucken müssen, ist nur ein kleiner Trost. Denn ich weiß genau, dass es hier nicht um die anderen geht. Nur um mich.
»Lernen Sie morgen Nephrologie«, sagt Tobias zum Abschluss. »Da haben Sie noch wesentliche Defizite.« Er sieht alle an – aber ich weiß, dass er mich meint. Nur kann ich in Gegenwart der anderen schlecht antworten, was ich im Moment für SEINE Defizite halte. Lässigkeit im Umgang mit Ex-Geliebten. Lernen Sie das morgen, Herr Oberarzt, ich habe diese unangenehm mehrdeutigen Begegnungen nämlich satt.
Als Tobias seine Unterlagen zusammenpackt, schleichen wir alle aus dem Raum wie nach einer 30-Tage-Polarexpedition. Und ich bin so erschöpft, dass ich froh sein kann, überhaupt noch schleichen zu können. (Bei MEINER Polarexpedition saßen nämlich die Hunde im Schlitten und ICH habe gezogen. Fett gefütterte Bernhardiner mit Bleirucksäcken.)
Die Kraft reicht nicht mal mehr für eine hitzige Geteiltes-Leid-Beschwerde-Diskussion, wir wechseln nur mitleidige Blicke und, ja, ich ernte die meisten. Aber was nutzt mir das?!
Während die anderen sich bei einer Zigarette erholen (Jenny) oder die hastig und abgekürzt hingekritzelten Mitschriften ergänzen (Isa), beschließe ich, meine Wut zu konservieren, bis ich wieder sprechen kann … und dann schnurstracks zu Tobias’ Büro zu marschieren, um sie freizulassen.
Leider wird mein Vorsatz auf dem Weg zu seinem Büro immer dünner und dünner. Vielleicht kühlt durch die schnellen Schritte auch die Zugluft meinen Kopf etwas ab. Ich werde langsamer. Das kann es ja auch nicht sein, oder?! Dass ich jedes Mal nach der Konsultation bei ihm antanze wie die beleidigte In-allen-anderen-Fächern-Klassenbeste bei der Sportlehrerin?
Nein, diesmal stehe ich wirklich drüber. Ich mache kehrt. Und stehe – statt über den Dingen – Tobias gegenüber. Er lächelt.
»Tut mir leid, ich hab noch ein paar Unterlagen in den Arztraum zurückgebracht. Deshalb konnte ich nicht so schnell in meinem Büro sein wie du mit deiner Beschwerde.«
Hm. Peinlich. Jetzt komme ich mir doch vor wie die unsportliche Streberin. (»Bei allen anderen Lehrern habe ich Einsen. Und meine Mama sagt, wenn Sie mir eine Vier geben, versauen Sie mir das Zeugnis.«) Könnte ich nicht schnell irgendwas anderes vorschützen? Ich bin nur hier, weil …
Er sieht, dass mir auf die Schnelle nichts anderes einfällt. Und zeigt schon wieder sein amüsiert-distanziertes Oberarzt-Lächeln. »Wir haben doch darüber gesprochen, Lena.«
Eben! Und du hast gesagt: »Tut mir leid, wenn es dir so vorkam!« Das heißt: »So war es aber nicht« und »Ich werde mich bemühen, dass du beim nächsten Mal nicht denselben Eindruck bekommst!« Also: WARUM?!
»Ich möchte, dass du mehr kannst«, sagt er knapp. »Nein, ich weiß, dass du mehr kannst. Und möchte nicht, dass du dich mit dem Notwendigsten zufriedengibst.«
Dem Notwendigsten?! Dass ich sechs Wochen vor der Prüfung Fragen beantworten kann, mit denen andere ihren Professorentitel verteidigen?! Nur ein EINZIGES Sachgebiet noch nicht parat habe?
Na schön. Jetzt bin ich doch wieder wütend. Und zwar so richtig.
»Schade, dass du das nötig hast«, fauche ich. »Aber beim nächsten Mal findest du NICHTS, was ich nicht kann!«
Er nickt. Na bitte.
Und nun werde ich gehen. Und die blöde Niere auswendig lernen. Anatomie und Physiologie und all ihre möglichen Erkrankungen. Okay, vielleicht nicht mehr heute. Weil ich doch grade erst von dieser Bernhardiner-Zieh-Expedition zurückgekehrt bin.
Tobias sieht mich an und fragt plötzlich: »Wann hast du zum letzten Mal geschlafen, Lena?«
Heute Nacht. Ich hab sehr gut geschlafen. Bei meinem Freund. Am Morgen war ich topfit. Bis du kamst. Mit deiner bescheuerten Nephrologie.
»Ich bin nicht müde«, antworte ich knapp.
Tobias’ Tonfall wird ebenfalls kühler. »Vielleicht bist du nicht müde«, sagt er. »Aber du bist unkonzentriert. Die Pankreatitis-Anzeichen kennst du. Du hattest im ersten Tertial eine Patientin mit dieser Diagnose.«
Ja. Nicht, dass ich mich nicht daran erinnere. Eine Polizistin mit Pankreasinsuffizienz und einer Vorliebe für anzügliche Witze. Ich könnte Diagnose und Therapie im Schlaf aufsagen. Ich könnte es selbst jetzt, selbst hier. Nur vorhin, als mir deine Fragen raketenähnlich um die Ohren geschossen sind wie zu Silvester in Neukölln, war ich einfach zu verwirrt.
»Vielleicht ist es zu viel für dich«, sagt Tobias. »Vielleicht musst du den Nachtschicht-Job aufgeben.«
Auf keinen Fall! So weit kommt es noch! Ich bin fit! Und wenn ich nicht das Gefühl habe, dass jemand nur rausfinden will, was ich NICHT weiß – dann weiß ich fast alles!
»Auf keinen Fall!«, ist alles, was ich sage.
Tobias nickt. »Gut. Ich habe auch nicht wirklich erwartet, dass du Ja sagst.« Er lächelt. Na also. Dann habe ich vielleicht wenigstens einen einzigen Punkt gesammelt.
»Aber dann organisier weniger Partys zwischendurch.«
Damit öffnet er seine Bürotür und will mich stehen lassen.
In diesem Moment nähern sich schwere Schritte auf dem Flur. Der Chefarzt. Dr. Dr. Friedrich-Kreuz, der Albtraum meiner PJ-Zeit. Der bei seinen Visiten immer ins Schwarze fragt. Der bei allen PJlern Panikanfälle auslöst. Und der in einer stillen Winternacht auf den Parkplatz kam, als Tobias und ich uns aus der Klinik geschlichen haben. Zusammen. Wir dachten, er hätte uns nicht gesehen. Wir haben darüber gescherzt, was wäre, wenn …
Wir haben es erfahren.
Nie werde ich den Abend vergessen, an dem Tobias auf dem Ärzteball erschien, um sich zu mir zu bekennen. Und alles, was danach geschah. Die Blicke der anderen, das Getuschel. Die Erkenntnis, dass es unmöglich ist, Oberarzt und PJlerin zu sein – und gleichzeitig ein Liebespaar. Tobias, der immer den geraden Weg geht, was es auch kostet … Unsere Trennung, sein Abschied. Ohne Dr. Friedrich wäre es vielleicht ganz anders ausgegangen.
Er sieht uns beide vor Tobias’ Büro stehen. Und nickt uns im Vorbeigehen knapp zu. Man kann sehen, was er denkt.
Tobias nickt zurück und verschwindet im Büro. Aber ich habe es gesehen. Für eine Sekunde stand es deutlich in seinem Gesicht. Dass er sich eben an denselben Abend erinnert hat wie ich.
Ich zerre den Bernhardiner-Schlitten grade noch bis in die Cafeteria, dort breche ich am Tresen zusammen.
Ruben schiebt mir wortlos einen Kaffee hin und fertigt die Tee-Bestellung einer Schwesterngruppe in fast unhöflicher Eile ab, um mich danach in den Arm zu nehmen.
»Du siehst müde aus«, sagt er einfühlsam, »schläfst du genug?!«
Ruben hat sicher keine Ahnung, warum er auf diese mitfühlende Frage einen so durchdringend-eisigen Blick erntet.
»Iss was«, sagt er, »mit dieser Laune bist du eine Zumutung.«
»Gib mir was«, entgegne ich, »irgendwas, das mich den ganzen Prüfungsstress vergessen lässt!«
»Im Gegenteil«, grinst er, »ich bin für Angstabbau durch Gewöhnung. Ich starte gerade ein neues Experiment saisonaler Kochkunst: Gerichte aus prüfungsrelevanten Zutaten.«
»Solange du den Neurochirurgen kein Affenhirn servierst«, sage ich müde – und beleidige ihn damit leider doch ein bisschen.
»Das ist keine Küche, das ist Folter!«, faucht er. »Bei mir gibt es Geflügel-Herz–Ragout, Lungenhaschee, Gänseleber und so was.«
»Klingt herrlich«, besänftige ich ihn.
Er weiß, dass ich lüge, nimmt das Friedensangebot aber an.
»Was gibt es heute?« Ich hoffe, es ist NICHT das Lungenhaschee.
Ruben lächelt zufrieden. »Geschmorte Nierchen mit Spätzle.«
Nein danke! Für mich nicht.
»Das macht verdammt viel Arbeit!«, erklärt Ruben empört. Ich glaube ihm. Und es schmeckt sicher wirklich toll. Aber es tut mir leid: Für heute bin ich mit den Nieren absolut fertig.