»Wie auch immer«, sagte ich und wechselte das Thema. Was er eine Heldentat nannte, hielt ich für reines Anfängerglück, und in dieser Sache würden wir nie einer Meinung sein. »Wo ist Anyan überhaupt hin?«

Ryu sah mich stirnrunzelnd an. »Wer weiß? Er macht immer, was er will. Schon immer. Warum interessiert dich das so?«

»Ich will nur wissen, ob er okay ist.«

»Mach dir mal keine Sorgen um den Barghest. Er kann auf sich selbst aufpassen. Und jetzt bin ich ja hier.«

»Ich weiß, Schatz. Ich will mich nur vergewissern, dass alle in Sicherheit sind. Ich nehme an, Phädra ist schon wieder im Verbund?«

»Ja. Ich habe gleich mit Wally gesprochen, nachdem ich aufgewacht bin und während du dich schon in der Wanne geaalt hast. Er lässt dich herzlich grüßen. Auch wenn mir das gar nicht recht ist, nur damit du das weißt«, scherzte er. »Egal, jedenfalls hat mir Wally gesagt, dass Phädra schon wieder im Verbund ist und ihre Spuren verwischt. Sie erzählt überall herum, dass wir Helden und im Einsatz umgekommen sind. Sie wird sicher sehr überrascht sein, wenn sie herausfindet, dass wir alle ›Conleths Attacke‹ überlebt haben«, sagte Ryu schmunzelnd, und seine Augen blitzten. »Ich habe Wally gesagt, er soll vorerst für sich behalten, dass wir überlebt haben. Denn das will ich ihr selbst sagen. Ich freue mich fast auf ein Wiedersehen mit Phädra.«

Ich seufzte. Ryu liebte Intrigen, und ich wusste, dass all der Mist, den wir während der letzten Wochen erlebt hatten, für ihn nur ein weiterer Schachzug war in dem Spiel, das er sein Leben nannte. Aber ich war nicht wie er. Für mich war all diese Gewalt nichts Normales, und auch nicht, dass Leben weggeworfen wurden wie alte Socken. Okay, ich hatte überlebt, und dank Conleth hatte ich nicht einmal einen Kratzer davongetragen, der davon zeugte, was ich durchgemacht hatte. Aber ich fühlte mich trotzdem schwer angeschlagen, und ich hatte das ungute Gefühl, dass ich noch eine Weile an den seelischen Verletzungen, die ich in den letzten paar Tagen davongetragen hatte, zu knabbern haben würde.

Was mich besonders beschäftigte, waren meine Gefühle gegenüber dem Ifrit-Halbling. Ich konnte noch immer nicht fassen, dass Conleth tot war, und genauso wunderte ich mich darüber, wie sehr mich das mitnahm.

Er hatte so viel Leid verursacht und sich so barbarische Taten zuschulden kommen lassen, aber ich wusste, dass das Mitleid, das ich für ihn empfand, nie ganz vergehen würde. Nicht nach der schrecklichen Art und Weise, wie er umgekommen war. Conleth würde mich weiter verfolgen, aus verschiedenen Gründen. Nicht zuletzt, weil mir durch ihn klargeworden war, wie glücklich ich mich schätzen konnte, dass ich das Leben leben konnte, das mir gegeben war. Meine Mutter war zwar fortgegangen, aber mir war endlich bewusstgeworden, dass sie mich nicht im Stich gelassen hatte. Meine Erfahrungen standen in keinem Vergleich zu Cons.

»Und was jetzt?«, fragte ich.

»Was meinst du?«

»Was passiert jetzt mit Phädra? Und mit den anderen? Wir wissen schließlich verdammt genau, dass sie und ihre Bande die anderen Morde begangen haben. Was Graeme und Fugwat mit Edie und Felicia gemacht haben…« Ich erschauderte. Plötzlich war mir kalt, trotz der Körperwärme, die Ryu großzügig mit mir teilte.

»Gar nichts. Zumindest nicht gleich.«

Ich setzte mich bei diesen Worten ruckartig auf. Ich wusste ja, dass es so war, aber es zu hören, kotzte mich wirklich an. »Was soll das heißen, Ryu? Wir können doch nicht gar nichts unternehmen?«

Ryu zuckte mit den Schultern. »Phädra ist eine Alfar und noch dazu Jarls Vertreterin. Sie zu beschuldigen wäre, als würden wir Jarl anklagen. Und wir haben keine Beweise, abgesehen von unseren eigenen Aussagen. Sie wird alles auf Conleth schieben, und man wird ihr glauben.«

»Aber wenn du lebend im Verbund auftauchst…«

»Jarl wird eine Party für uns schmeißen, sich dafür entschuldigen, dass man uns für tot gehalten hat, und uns für unseren Heldenmut belohnen.«

Ich schüttelte den Kopf. Vor Ernüchterung brachte ich kein Wort heraus.

»Jane, es wird nichts passieren. Akzeptier das einfach.«

Wir starrten uns eine gefühlte Ewigkeit an.

»Ich glaube, ich hasse deine Welt«, seufzte ich und lehnte mich an das lederne Kopfende von Ryus Bett.

»Ich weiß, Baby. Ich bin auch nicht glücklich darüber. Aber sieh es mal so: Jetzt wissen wir sicher, dass Jarl irgendetwas vorhat, und wir wissen, wer sonst noch darin verwickelt ist.«

»Ich wusste schon, dass Jarl irgendetwas im Schilde führte, als er versucht hat, mich zu erwürgen, verdammt!«

Darauf schwieg Ryu betreten, und ich erkannte meinen Fehler.

»Tja, ich wusste bis vor ein paar Tagen ja nicht einmal, dass er versucht hat, dich zu erwürgen. Also schätze ich, habe ich noch einiges nachzuholen.«

Ich verfluchte meine eigene Ungeschicktheit und wandte mich wieder zu Ryu.

»Es tut mir leid, Ryu. Ich wollte dich bloß schützen. Das war dumm von mir.«

Ryu zog mich an sich. »Ja, das war es. Ich beschütze dich, nicht umgekehrt.«

Ich hätte beinahe einen Witz darüber gemacht, dass zuzulassen, dass ich entführt wurde, nicht exakt meiner Vorstellung von einem Beschützer entsprach, aber dann dachte ich, dass ich ihn auch gleich kastrieren könnte. Also hielt ich die Klappe.

»Gut. Dann passiert eben erst mal gar nichts. Aber irgendwann trete ich dieser Phädra so was von in den Arsch für alles, was sie getan hat.«

»Tapfere Jane«, murmelte Ryu und strich mir mit der Hand seitlich am Körper entlang, während unsere Lippen sich trafen. Dann war seine Hand auch schon zwischen meinen Beinen, und wir liebten uns erneut, als wären wir die letzten beiden Überlebenden auf der Welt. Danach schafften wir Ordnung, zogen uns an, gingen nach unten und bestellten uns Pizza.

Es war so seltsam, nach allem, was in der Nacht zuvor geschehen war, mit Ryu darüber zu streiten, ob wir nun die normale Pizza oder die mit extra Fleisch bestellen sollten, dass ich ihm schließlich die Entscheidung überließ und nach oben ging, um das zu tun, was ich schon machen wollte, seit ich aufgewacht war.

Ich packte.

Ich hatte gerade die Schmutzwäsche von der sauberen getrennt, als Ryu nach oben kam, um nach mir zu sehen.

»Jane, was machst du da?«

»Ich packe. Soll ich mein Rückflugticket online bestellen? Oder soll ich die Fluggesellschaft anrufen? Ist morgen zu kurzfristig? Ich will nicht, dass du mehr für meinen Rückflug zahlen musst.«

»Jane, Schatz…«

»Ich hoffe, ich bekomme morgen überhaupt noch einen Platz. Sonst nehme ich vielleicht einfach einen Mietwagen. Das bezahle ich dann natürlich…«

»Jane, Sekunde.«

»Klar…«, murmelte ich und organisierte weiter im Geiste meine Sachen. Mein Make-up und meine Kosmetik hatte ich bereits fast vollständig gepackt, mit Ausnahme der Sachen, die ich morgen früh noch brauchen würde. Also fing ich an, meine dreckigen Klamotten in eine frische Mülltüte zu stopfen, die ich aus der Küche mitgebracht hatte, bis ich merkte, dass Ryu versuchte, meine Aufmerksamkeit zu erlangen.

»Entschuldige, was gibt’s?«, fragte ich, als ich alles in der Tüte verstaut hatte.

»Liebling, wir müssen reden.«

»Über was?«

»Über uns. Über diese Woche. Über alles.«

Ich hielt inne. In meinem müden Hirn ging alles durcheinander. Dann zwang ich mich, mein letztes Paar dreckiger Socken in die Tüte zu werfen und sie zuzubinden, bevor ich mich zu Ryu umwandte.

»Ist das jetzt das Gespräch, in dem du mir mitteilst, dass es nett mit uns war, aber dass du jetzt mit dem Satyr durchbrennst«, scherzte ich, wenig erfreut über die Wendung, die das Ganze jetzt nahm. Ich wollte nicht »reden«, zumindest nicht über ernste Dinge. Ich war so durcheinander und so müde, dass jede Art von »Gespräch« jetzt eine ganz schlechte Idee war.

»Nein, ist es nicht«, sagte Ryu lächelnd. »Es ist das Gespräch, bei dem wir die Sache auf den Punkt bringen und uns gegenseitig sagen, was wir fühlen. Bei dem wir über unsere Zukunft sprechen. Ich möchte, dass wir zusammen sind.«

»Ryu, wir sind doch zusammen. Wenn es hier um Exklusivität geht, dann kann ich dir versichern, dass ich zu Hause in Rockabill nicht hinter deinem Rücken mit Stuart rummachen werde.«

»Das ist genau der Punkt. Exklusivität.«

»Hä?«

»Ich brauche dich bei mir.«

»Ich bin ja bei dir…«

»Baby, bitte. Wenn mir diese Woche etwas gezeigt hat, dann wie sehr ich will, dass du Teil meines Lebens bist. Also möchte ich, dass du ernsthaft überlegst, zu mir nach Boston zu ziehen. Es muss ja nicht sofort sein. Aber ich will, dass du darüber nachdenkst.«

»Oh«, sagte ich und starrte auf meine Hände. Mein Hirn überschlug sich. Ich konnte meinen eigenen Gedanken kaum folgen, aber sie kreisten um ein einziges negatives Gefühl: Nein. Es kam nicht infrage, dass ich irgendwann in nächster Zeit nach Boston ziehen würde. Da war mein Training und mein Vater und mein Leben in Rockabill und die Tatsache, dass ich nicht einmal wusste, ob ich wirklich …

»Ist das alles, was du mir zu sagen hast?«

»Nein, ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll… Ich glaube nicht, dass ich für all das schon bereit bin…«

»Das reicht mir nicht als Antwort. Ich glaube, wir sind so weit. Ich liebe dich, Jane.«

Ich zuckte zusammen. Tat er das? Wirklich?

»Ryu, wir kennen uns doch kaum…«

»Was redest du denn da? Ich kenne dich nun schon seit Monaten. Ich weiß, dass du stark bist und schlau und mutig. Ich weiß, dass du zu mir passt. Wir passen gut zusammen, und wir mögen die gleichen Dinge. Wir würden uns gegenseitig noch stärker machen.«

Ich dachte über seine Worte nach. Wir hatten so vieles zusammen durchgemacht, und in mancher Hinsicht waren wir uns sehr nah. Aber in manch anderer kannten wir uns überhaupt nicht. Und passte ich wirklich so gut zu ihm?

Ich sah mich in seinem tadellosen, kühlen, teuer eingerichteten Schlafzimmer um, und wieder kam mir unwillkürlich der Gedanke: Nein.

»Okay, warum?«, fragte ich in dem Versuch, mich von dem negativen Wort abzulenken. »Warum jetzt? Warum können wir es nicht so belassen, wie es jetzt zwischen uns ist?«

»Muss ich dir das wirklich erklären?«

»Wenn man bedenkt, dass hierherzuziehen für mich bedeutet, dass ich meine Familie und meine Freunde zurücklasse und auch mein Training, dann ja. Ich sehe keinen Grund dafür, dass wir irgendetwas überstürzen.«

Ich hockte neben meinem Koffer, und Ryu kniete sich neben mich.

»Jane, es gibt so viele Gründe, warum ich dich hier bei mir haben will. Aber am allermeisten will ich es, weil ich dir sonst nicht treu sein kann. Sag mir nicht, dass dir das nicht klar ist. Ich bin es müde, mich mit beliebigen Menschen einzulassen und mir immer Gedanken darüber machen zu müssen, bei wem ich als Nächstes trinken kann. Ich liebe dich, Jane. Ich habe noch nie für jemanden so etwas empfunden, und du kannst einfach alles für mich sein. Ich hasse es, zu sein, wer ich bin, wenn das bedeutet, dass ich dich betrügen muss.«

»Wow«, krächzte ich und atmete tief durch. Ganz so viel Ehrlichkeit hätte ich nicht erwartet.

»Ja, es nagt an mir.«

»Es nagt an mir, sagt der Vampir«, versuchte ich zu scherzen. Ich war wirklich überhaupt nicht bereit für dieses Gespräch.

Ryu schnaubte missgestimmt.

Ich wandte mich wieder meinem Koffer zu und packte die Tüte mit der Schmutzwäsche zu den Schuhen am Boden des Koffers. Dann fing ich an, die noch sauberen Klamotten darüber zu stapeln, wobei ich das, was ich nicht einmal ausgepackt hatte, zur Seite schob, um Platz zu schaffen.

Was er sagte, war die Wahrheit, aber ich wusste nicht, ob es ganz ehrlich war. Ich wusste nicht, wie viel von seinem Verlangen danach, dass ich eine wichtigere Rolle in seinem Leben übernahm, der Tatsache geschuldet war, dass er mich nicht betrügen wollte, und wie viel einfach nur darauf zurückzuführen war, dass er mit mir immer eine konstante Futterquelle zur Hand hätte. Ich hatte mich schon öfter gefragt, ob das nicht überhaupt der Grund gewesen war, warum er mich damals an den Hof mitgenommen hatte. Die andere Vampirin, Nyx, hatte schließlich auch ihren menschlichen Schoßhund oder ihr »Lunchpaket«, wie sie es ausgedrückt hatte, mitgebracht. Ich glaubte zwar nicht, dass Ryu mich bewusst benutzte, aber auch er organisierte sein Leben, wie jeder andere auch, seinen Bedürfnissen entsprechend. Und Elixier zu trinken, war einfach ein großes Bedürfnis für ihn. Also, wo hörte der Mann Ryu auf, und wo fing der Vampir Ryu an?

»Ryu, ich sehe einfach nicht, dass das so bald möglich sein wird. Da ist mein Vater und mein Job und mein Training. Ich bin nicht bereit, jetzt nach Boston zu ziehen, besonders wo ich praktisch noch keine Offensivmagie beherrsche. «

»Ich kann dich doch trainieren, Baby. Und für deinen Vater können wir eine Pflegerin engagieren. Geld spielt keine Rolle.«

Ich schnaubte. »Aber für mich spielt es eine Rolle. Ich kann nicht einfach auf deine Kosten leben. Ich müsste einen Job finden…« Ich schüttelte den Kopf und versuchte, mich auf das wahre Problem zu konzentrieren. »Und ich will nicht, dass sich irgendjemand um meinen Vater kümmert. Das will ich tun. Er ist mein Vater, und ich weiß nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibt.«

»Na ja, vielleicht können wir ihn ja auch hierherholen.«

»Nach Boston? Wo er niemanden kennt? Wo er sich allein nicht frei bewegen kann? Das ist unmöglich.«

»Ich sage ja nicht, dass es sofort sein muss, Jane. Ich sage nur … Ich will dir nur sagen, dass ich dich liebe.«

»Ryu…«

»Die einfache Frage ist: Liebst du mich oder nicht?«

Aber so einfach war es eben nicht. Ich wusste, dass er eine neue Taktik versuchte, indem er mich dazu bringen wollte, zuzugeben, dass ich ihn liebte, damit er es in den Verhandlungen mit mir verwenden konnte. Und außerdem war es auch deshalb nicht so einfach, weil ich die verdammte Frage nicht beantworten konnte. Ich schloss die Augen.

Liebte ich Ryu?

In vielerlei Hinsicht himmelte ich ihn an. Er brachte mich zum Lachen. Ich bewunderte seinen Mut und seinen Elan. Und er stellte Sachen mit meinem Körper an, die mich vor Lust zum Weinen brachten. Aber liebte ich ihn?

Nein…flüsterte die Stimme in meinem Kopf.

Ich merkte, dass Ryu darauf wartete, dass ich mich mit ihm einverstanden erklärte. Außerdem merkte ich, dass ich einen riesigen lila Dildo in der Hand hielt. Verdammt, Iris!, dachte ich, als ich ihn wieder in meinem Koffer versteckte und eilig mit ein paar Kleidungsstücken bedeckte.

Plötzlich hatte ich fertig gepackt, was bedeutete, dass ich kein Ablenkungsmanöver mehr hatte. Also machte ich den Reißverschluss zu und trug den Koffer zur Treppe, bevor ich zurückkam und mich zu Ryu kniete.

»Ryu…«, sagte ich bittend, aber er ließ mich nicht ausreden.

»Nein, Jane. Ich kenne dich doch. Ich weiß, dass du mich liebst. Okay, es ist vielleicht nicht das Gleiche wie das, was du für Jason empfunden hast. Aber ihr wart schließlich auch noch Kinder. Natürlich ist es nicht das Gleiche. Wir sind erwachsen und müssen mit all den Kompromissen und den Sorgen und dem ganzen Scheiß klarkommen, mit denen man als Erwachsener eben leben muss.«

Ich war bestürzt, den Namen Jason zu hören.

»Ryu«, sagte ich schließlich. »Hier geht es nicht um Jason …«

»Dann geht es um Anyan, oder?«

»Was zum Teufel soll Anyan damit zu tun haben?«

»Jetzt stell dich nicht blöd.«

Ich sah Ryu blinzelnd an, statt bestürzt war ich nun schockiert. Plötzlich war er stinksauer, und ich verstand nicht warum. War er etwa eifersüchtig auf den Barghest? Den ich in den Monaten vor Boston vielleicht ein paarmal gesehen hatte? Und der einzige Grund, warum ich ihn hier gesehen hatte, lag in Ryus irritierender Unfähigkeit, Beruf und Vergnügen auseinanderzuhalten.

Ich erinnerte mich, dass Anyan vor Monaten etwas in der Richtung zu Ryu gesagt hatte, und wurde rot. War ich nur ein weiteres Beispiel für Ryus Problem, die Dinge zu trennen?

»Ryu, ich habe keine Ahnung, wie du auf all das kommst. Ich vergleiche dich nicht mit Jason und ganz bestimmt nicht mit Anyan. Aber du verlangst wirklich ein bisschen viel von mir. Ich kann eine so große Entscheidung nicht so schnell treffen.«

Ich sah zu, wie Ryu sich mit der Hand durch sein dichtes kastanienbraunes Haar fuhr. Ich wollte ihn berühren, um all das auszulöschen, was soeben zwischen uns gesagt worden war, wollte die Zeit zurückdrehen bis zu dem Moment vor ein paar Stunden, als wir noch eng aneinandergeschmiegt im Bett lagen.

»Ich frage doch nur, ob du mich liebst, Jane. Das sollte doch wirklich nicht so schwer zu beantworten sein.«

Verdammte Scheiße, dachte ich. Plötzlich hatte ich die ganze Diplomatie satt.

»Tja, es ist aber schwer zu beantworten. Wir sehen uns schließlich nicht so oft, und wenn, dann wird alles abgefedert von der Tatsache, dass wir im Urlaub sind, in irgendeinem netten kleinen Hotel, fernab der harten Realität. Ich weiß nicht, ob ich dich kenne, Ryu. Und um ehrlich zu sein, bezweifle ich, dass du mich besser kennst.«

Er sah mich betroffen an, und ich seufzte. »Hör zu, ich sage ja nicht, dass ich dich nicht besser kennenlernen will. Oder dass ich nicht glaube, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben. Ich weiß es nur nicht. Und ich will es nicht herausfinden, indem ich alles, was mir wichtig ist, aufgebe, für den unwahrscheinlichen Fall, dass es mit uns klappt. Wie würdest du entscheiden, wenn ich dich fragen würde, ob du nach Rockabill ziehst?«

Er sah mich herablassend an. »Jane, bitte…«

Ich nickte spitz mit dem Kopf. »Genau. Warum sollte etwas, das für dich ein Ausschlusskriterium ist, für mich ein akzeptabler Kompromiss sein, bitte?«

»Aber so kann es doch nicht weitergehen, Jane.«

»Warum denn nicht? Beziehungen brauchen Zeit, um sich zu entwickeln. Wir haben unserer erst vier Monate gegeben.«

»Tja, dann kann ich eben nicht so weitermachen«, erwiderte er störrisch und starrte hinab auf seine Hände.

Oh Scheiße, dachte ich, als mir klarwurde, dass es in diesem Streit für ihn längst um eine Frage des Stolzes ging.

Als er mich diesmal ansah, erstarrte mein Herz. Ich kannte seinen Blick, denn ich hatte ihn schon einmal gesehen. Ryu war ein Spieler, einer der hoch pokert, und ich wusste, wenn er alles auf eine Karte setzte.

»Jane«, fing er an, aber ich unterbrach ihn.

»Ryu«, sagte ich bittend. »Mach das nicht. Stell mich nicht vor die Wahl.«

Aber Ryu hatte mir gar nicht zugehört. Er dachte, ich sei ihm schon sicher. Er war so sehr davon überzeugt, dass er mich kannte, so überzeugt, dass er all die Trümpfe in der Hand hielt.

»Liebling, ich weiß, dass du es willst. Du hast bloß Angst, und es ist ein großer Schritt. Aber es ist richtig, und das weißt du.«

»Ryu…«

»Nein, Jane. Ich kann so nicht leben. Du kannst so nicht leben. Entweder wir sind zusammen oder eben nicht. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«

»Bitte tu das nicht.«

»Nein, so ist es. Entweder du liebst mich oder eben nicht. So einfach ist das. «

»Du setzt mir ein Ultimatum? Sind wir jetzt schon so weit?«

»Ja«, sagte Ryu, aber ich wusste, dass er bluffte. Er glaubte nicht, dass es wirklich ein Ultimatum war. Er dachte, dass er mir damit nur eine Hilfestellung gab, um mir die Entscheidung leichter zu machen. Wenn er mich dazu »zwang«, nach Boston zu ziehen, dann müsste ich kein schlechtes Gewissen haben, dass ich meinen Vater oder Nell und die anderen in Rockabill zurückließ.

Er war sich so sicher, mich zu kennen. So sicher, dass er meine Wünsche und Ziele kannte und wusste, was mich glücklich und stolz machte. Was Jane aus mir machte.

Ich saß da und starrte ihm in die Augen. Darin sah ich eine Frau, die ich noch nicht einmal ansatzweise erkannte. Und plötzlich wurde mir klar, dass er rein gar nichts wusste.

Nichtsdestotrotz war ich genauso überrascht wie er, als ich aufstand und ging.

Überrascht und mit gebrochenem Herzen und absolut überzeugt davon, dass ich das Richtige tat.

Also hast du dich von Ryu getrennt?«, fragte Iris, ihre schönen, blauen Augen weit aufgerissen.

»Nein, nicht so richtig. Nur gewissermaßen. Ich weiß auch nicht. Ich bin gegangen.«

»Du bist gegangen?«

»Ja, das bin ich tatsächlich. Ich denke, ich habe mich, wie man so schön sagt, ›aus dem Staub gemacht‹, bin ›verduftet‹. Ich habe kalte Füße bekommen und bin abgehauen … So ein Rob-Roy-Cocktail ist wirklich lecker, wusstest du das?«

»Ja, das hast du mir schon gesagt. Vor zwei Rob Roys.«

»Quatsch. Ich hatte doch erst einen. Das ist mein zweiter.«

»Nein, das ist dein dritter. Du bist schon total betrunken, Jane True.«

»Das ist überhaupt nicht wahr, Elbe. Ich bin höchstens … gut geölt.«

»Du weißt, was passiert, wenn du so ein Wort in meiner Gegenwart verwendest. Also sei so gut und erzähl mir lieber, was passiert ist, um Himmels willen.«

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Ich seufzte und nahm einen großen Schluck von meinem zweiten Rob Roy. Oder war es wirklich schon mein dritter? Sarah hatte nur einen Blick auf mein derangiertes Aussehen geworfen und direkt zu den Schweinestall-Geheimvorräten gegriffen. Sie und Marcus waren Scotch-Trinker, und für besondere Freunde horteten sie eine kleine Auswahl von richtig gutem Stoff hinter der Bar. Sie hatte eine Flasche Balvenie Signature hervorgeholt, da sie wusste, dass ich Bourbon mochte, und hatte mir einen Rob Roy gezaubert. Schon nach dem ersten Schluck stand für mich fest, dass Rob mein neuer bester Freund war.

Wenn du mich fragen würdest, ob ich nach Boston ziehe, wäre die Sachlage vielleicht anders, sagte ich zu dem charmanten Mr. Roy, obwohl mein köstliches Scotchgebräu mir zuflüsterte, dass es eine gute Idee sein könnte, wenn ich meine Geschichte damit begönne, wie ich nach Hause gekommen war, denn das war ziemlich irre gelaufen. Also erzählte ich Iris, wie der Pizzaservice-Typ gerade aus seinem Wagen stieg, als ich aus Ryus Eingangstür gekommen war. Er hatte sich einverstanden erklärt, mich die Commonwealth Avenue hinunter zu der Autovermietung, die ich dort gesehen hatte, zu fahren, nachdem ich ihm versprochen hatte, die Pizza zu bezahlen und ihm noch einen Zwanziger extra zu geben. Allerdings war der Pizzalieferant nicht gar so begeistert, als Ryu uns hinterhergejagt kam, weil er gemerkt hatte, dass ich meinen Koffer nicht bloß runtergetragen hatte, um zu schmollen.

Leider war die Autovermietung geschlossen gewesen. Also hatte ich Julian angerufen, damit er mich zu einem Hotel brachte, aber er war zusammen mit Caleb aufgetaucht, und die beiden bestanden darauf, mich den ganzen Weg nach Maine zu fahren.

»Ich habe ihnen gesagt: ›Er wird ganz schön angepisst sein, wenn er erfährt, dass ihr mich nach Hause gefahren habt.‹ Aber es war ihnen egal.«

Tatsächlich hatte Caleb auf meine Warnung mit einem »Scheiß drauf« reagiert, und sein Mahagoni-Bariton hatte diese Obszönität erstaunlich würdevoll klingen lassen.

»Ja, scheiß drauf!«, hatte auch Julian geschnaubt, wie ein trotziges, kleines Kind. Mein Mithalbling freute sich diebisch, dem Mann eins auszuwischen. Oder dem Vampir. Wie auch immer.

»Also haben sie mich nach Hause gefahren«, stellte ich abschließend fest. »Und obwohl ich seit bestimmt achtundvierzig Stunden kein Auge zugemacht hatte, konnte ich noch immer nicht schlafen. Also habe ich dich angerufen, und du bist mit mir losgezogen, damit wir uns betrinken. Weil du, Iris, wirklich eine Freundin bist.« Ich seufzte und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. In Wahrheit konnte der winzige Teil von mir, der noch erstaunlich nüchtern war, es nicht fassen, dass ich Ryu verlassen hatte.

»Also ist es so richtig vorbei vorbei?«, fragte Iris.

»Puh. Nein. Ich mag ihn wirklich. Aber er musste begreifen, dass ich kein totaler Schwächling bin. Okay gut, körperlich bin ich ein totaler Schwächling, das hat dieser Scheißelb ja demonstriert. Aber ich ziehe nicht nach Boston, nur weil man mich unter Druck setzt.«

»Du solltest dich auch nicht unter Druck setzen lassen, Jane«, sagte Iris verständnisvoll, und ich erhob mein halb leeres Glas – oder war es halb voll?

Iris’ Frage veranlasste mich, in mich zu gehen und zu ergründen, welche von Ryus Forderungen mich so gestört hatte. Natürlich war da diese Dramaqueen-Aktion von ihm, mir überhaupt dieses Ultimatum zu stellen, besonders nach allem, was wir durchgemacht hatten. Nach allem, was ich durchgemacht hatte. Man verlangte einfach von niemandem, sein Leben grundlegend zu ändern, der am Abend zuvor zu Brei geschlagen worden war. Und warum musste ich überhaupt umziehen? Das wäre ein verdammt großer Kompromiss von meiner Seite.

Aber ist ein Kompromiss denn so eine schlechte Sache?, philosophierte die Maraschinokirsche in meinem Drink. Schließlich ist das das Erste, was man im Kindergarten lernt. Dass man das Spielzeug miteinander teilen muss. Ich stöhnte leicht genervt und rieb mir die Augen. Dann verschlang ich die verdammte Kirsche.

»Die Sache ist die, Iris. Mir hat die Idee, einen Kompromiss eingehen zu müssen, noch nie gefallen. In Filmen oder Büchern bringen zwei Menschen, die sich lieben – sich richtig lieben – Riesenopfer. Sie spenden dem anderen eine Niere, sie ziehen auf die andere Seite des Erdballs, sie sterben. Oder sie werden zu Untoten, weil, du weißt ja, dass ich die Art von Büchern besonders mag. Im Grunde braucht der Geliebte der Heldin bloß eine Forderung zu stellen, und sie erfüllt sie. Was total bescheuert ist. Weißt du auch warum?«

Iris schüttelte den Kopf.

»Weil er dann immer fordert, verdammt

Iris nickte und schob mir ein Wasser hin. Ich ignorierte es und griff lieber zu einem weiteren Glas meines neuen, goldbraunen besten Freundes.

»Also hat mir diese Idee nie gefallen, Iris. Und weißt du warum?« Iris schüttelte wieder den Kopf. »Weil ich glaube, dass man jemandem, den man wirklich liebt, keinen Kompromiss abverlangt, der eigentlich ein Opfer ist. Die Art von Opfer, bei dem einer alles aufgibt, was er hat und was er ist, nur damit er mit dem anderen zusammensein kann. Und ganz bestimmt erwartet man das nicht. Man erwartet nicht von jemandem, dass er einem seine Liebe beweist. Dass er einen ein kleines bisschen mehr liebt als man ihn.«

Ich nahm einen weiteren großen Schluck von meinem Drink. Zu predigen machte durstig, also musste ich mir die Kehle befeuchten. Dann könnte ich erst so richtig poetisch werden. Oder dich um Kopf und Kragen reden wie eine Irre, murmelte die Kirsche rachsüchtig aus meiner Magengrube. Daraufhin machte ich sie mundtot, indem ich sie direkt verdaute.

»Was Ryu von mir will«, krähte ich und fuchtelte energisch mit dem Finger in der Luft herum, »kann ich ihm nicht geben. Nicht jetzt und vielleicht auch nie. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich ihn nicht liebe, oder weil ich ihn nicht lieben kann, wo er so etwas von mir verlangt. Oder weil er mich keinen Deut kennt. Ich kann ihm doch nicht mein ganzes Leben unterordnen. Aber das hat er gewollt. Er wollte alles von mir, und ich wollte, dass er mich so nimmt, wie ich bin.« Ich hielt inne, weil ich plötzlich beunruhigt war. Und weil ich Schluckauf bekommen hatte.

»Iris, bin ich ein schlechter Mensch?«

»Nein, Süße, du bist kein schlechter Mensch«, erwiderte meine Freundin und nahm meine Hand.

Ich blinzelte aus zwei Gründen, als sie mich berührte. Erstens weil ich merkte, dass ich völlig besoffen war. Und zweitens, weil mir auffiel, dass meine Schilde dennoch, und obwohl ich von den Ereignissen der vergangenen Woche immer noch völlig fertig war, reflexartig hochgefahren waren, als Iris nach mir griff.

»Ich glaube, ich habe im Urlaub viel gelernt«, flüsterte ich meiner Freundin zu und beugte mich verschwörerisch über den Tisch zu ihr.

»Das glaube ich auch, Süße«, sagte Iris lachend.

»Und ich habe jetzt auch die Sache mit den zwei Fingern und den Erdbeerstangen verstanden, von der du mir erzählt hattest …«

Iris lachte noch lauter, und ich fühlte mich gut dabei, hier zusammen mit meiner Freundin zu sitzen. Allerdings konnte es auch nur der Alkohol gewesen sein. Ich wusste zwar, dass ich die Sache mit Ryu noch wie eine Erwachsene zu Ende bringen musste, aber wir – ich und die drei Rob Roys in meinem Bauch – freuten sich insgeheim diebisch darüber, dass ich einfach so gegangen war. Ich fühlte mich … verwegen. Wie aus einem Rockvideo.

Dann war ich mit dem Lachen dran, als Iris mir erzählte, was während meiner Abwesenheit alles im Buchladen passiert war. Ich hatte mich zwar sofort nach meiner Rückkehr nach Rockabill schon lange mit Grizzie und Tracy unterhalten. Die beiden waren unglaublich verständnisvoll gewesen. Grizzie meinte, sie könne sich über mein plötzliches Verschwinden kein Urteil erlauben, weil sie selbst immer wieder abhaue. Und Tracy sagte, so sei das Leben eben manchmal. Trotzdem fühlte ich mich schuldig und versprach, einen Monat lang den Laden morgens allein aufzusperren, damit die beiden ausschlafen konnten.

Aber sie hatten nur angedeutet, was während meiner Abwesenheit passiert war. Ich glaube, sie wollten mir nicht noch mehr Schuldgefühle machen. Also packte Iris aus.

Anscheinend hatte Miss Carol sich mit Linda angelegt. Nicht dass da ein Missverständnis aufkommt, Miss Carol war eine durchaus wollüstige Zwergin, aber sie war ausdrücklich für einvernehmliche Wollust. Also hatte sie sich geweigert, Linda ihre üblichen Schund-Vergewaltigungsfantasien zu verkaufen. Stattdessen hatte Miss Carol ihr eine Erstdosis feministische Antibiotika verpasst: Wollstonecraft, Millett und Greer. Als Linda nicht auf die Medikamente ansprach, hatte Miss Carol zu aggressiveren Mitteln gegriffen. Wenn Linda nun mal Gewalt wollte, dann konnte Miss Carol ihr Qualen, abgelöscht mit Philosophie, geben. Also verließ die arme Linda Read It and Weep schließlich mit einem ganzen Berg an Henry Miller, D. H. Lawrence und Marquis de Sade. Zwei Tage später kam sie heulend mit einer Ausgabe von Justine in den Laden gerannt. Doch bevor Miss Carol ihr auch noch Die Philosophie im Boudoir unterjubeln konnte, hatte Amy eingegriffen und Linda mit Danielle Steel und einem kleinen Cupcake nach Hause geschickt, bevor sie Miss Carol streng wegen des Manipulierens von Menschen getadelt hatte.

Mir kam vor Lachen schon fast der Rob Roy aus der Nase, als Iris’ Handy klingelte. Aber ich erholte mich schnell, als sie »Moment« sagte und mir das Telefon hinhielt.

»Ryu ist dran. Soll ich ihm sagen, dass er dich in Ruhe lassen soll?«

Ich atmete tief durch, nahm einen Schluck Wasser und schüttelte dann den Kopf.

»Nein, ich rede mit ihm.«

Sie gab mir ihr Handy und verließ dann unsere Tischnische, um mit Marcus an der Bar zu plaudern.

»Jane?«

»Ja. Ich bin dran.«

»Bist du gut nach Hause gekommen?«

»Ja, bin okay.«

Peinliches Schweigen folgte.

»Ich habe versucht, auf deinem Handy…«

»Ich habe es auf lautlos gestellt«, unterbrach ich ihn.

Grillen zirpten.

»Warum bist du einfach so weg?«

Ich zuckte mit den Schultern und dachte erst dann daran, dass er mich gar nicht sehen konnte. »Weiß nicht. Ich hatte nicht das Gefühl, dass du mir andere Optionen gelassen hast.«

»Also bist du einfach gegangen.«

»Du hast nicht zugehört. Du hast bloß Reden geschwungen, aber du bist ja nicht George Bush.«

»Was?«

»Ich bin weder für noch gegen dich, Ryu. Ich mag dich wirklich, aber ich kann nicht einfach so mein Leben hier aufgeben. Es war unfair von dir, das von mir zu verlangen, und ganz besonders unfair, es in diesem Moment zu tun.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Ich wollte gerade noch zickiger werden und die Auflegen-Taste drücken, als er schießlich doch etwas sagte.

»Du hast Recht. Es tut mir leid. Ich war ein Idiot.«

»Richtig.«

»Es tut mir leid. Wirklich. Ich hatte einfach solche Angst, als wir dich verloren… Ich hatte die Vorstellung, dass ich dich verlieren könnte, bis dahin gar nicht so ernst genommen. Aber ich kann nicht zulassen, dich zu verlieren, Jane. Unmöglich.« Ryus gebrochene Stimme gab mir den Rest.

»Oh, Ryu…«, seufzte ich, und Tränen traten mir in die Augen.

»Ist dann wieder alles okay zwischen uns?«

Ich dachte darüber nach und wischte mir mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Dann blickte ich auf der Suche nach moralischer Unterstützung meinen Rob Roy an. Als nichts von ihm kam, trank ich ihn aus.

»Jane?«

»Ich weiß es nicht, Ryu.« Ich hasste es, ihm das sagen zu müssen, aber es führte kein Weg daran vorbei. »Weil du auch Recht hattest. Wir können nicht einfach so weitermachen, glaube ich. Besonders jetzt. Vielleicht brauchen wir eine Pause. Es passiert gerade so viel mit mir, und ich denke, ich muss … stärker werden, um mit dir zusammenzusein. «

»Baby, ich würde dir nie wehtun.«

Ich schnaubte. »Ryu, ich meinte doch nicht stärker für dich. Ich meinte, stärker, damit ich überall mit dir hingehen kann. Ich wäre letzte Woche beinahe Matsch geworden. Mit mir wurde der Boden gewischt. Und ich will nie wieder in so eine Situation kommen.«

»Du bist doch klargekommen, Jane. Du hast das gut gemacht. Du hast uns gerettet.«

»Du hast mich doch bloß gesehen, nachdem Caleb mich geheilt hatte, Ryu, nicht, was Graeme mit mir gemacht hatte. Ich bin geschlagen worden. Und zwar nicht wenig. Und gebissen, und es waren keine Liebesbisse wie von dir. Ich meine, richtig gebissen. Wahrscheinlich bräuchte ich eine Tollwutimpfung. Ach ja, und ausgepeitscht hat man mich auch noch. Vergessen wir das Auspeitschen nicht. Und das war bloß der Anfang von dem, was Graeme eigentlich draufhat.«

Ryu schwieg eine Weile, dann fluchte er leise.

»Jane, es tut mir so leid. Das war mir nicht klar.«

Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, auf der Tatsache herumzureiten, dass ihm das nicht klar war – dass ihm nicht klar war, wie fertig mich das, was passiert war, gemacht haben musste. Dass ich noch immer komische Schmerzen an der Lippe hatte, die Graeme mir zerbissen hatte, von denen ich verdammt gut wusste, dass sie rein psychologischer Natur waren. Dass ich hoffte, der Alkohol würde mir helfen, endlich Schlaf zu finden, trotz der Alpträume, die mich verfolgten. Dass immer, wenn ich die Augen zumachte, Conleth auf mich wartete…wenn ich Glück hatte. Denn wenn er sich nicht zeigte, dann war da immer noch Graeme.

Aber am Ende ließ ich es einfach bleiben. Stattdessen sagte ich ihm, es sei okay, wenn wir bald wieder telefonierten. Dass ich mich erst ein paar Tage ausruhen und mir über einiges klarwerden müsste. Dass ich ihn anrufen würde, wenn ich so weit wäre.

Ich wusste, dass Ryu nicht glücklich darüber war und lieber etwas Konkreteres von mir hören wollte. Aber da hatte er nun mal Pech gehabt.

Nachdem ich aufgelegt hatte, saß ich eine Weile wie betäubt da. Nicht zuletzt, weil ich auch noch den letzten Rest meines Rob Roys ausgetrunken hatte. Mittlerweile war ich mehr Alkohol als Jane.

»Bist du okay?«

»Iris, deine Stimme ist wie Honigtau und Sterne. Mit einem Einhorn drauf.«

»Ich glaube, es ist Zeit zu gehen.«

»Nein, lass uns lieber tanzen gehen. Weißt du, dass ich nie tanzen gehe? Ich lebe so was von zurückgezogen.«

»Ich weiß, Süße. Komm, wir reden im Auto weiter.«

»Oder wir könnten nach Mexiko fahren. Wie in Super Troopers«, rief ich begeistert. »Ich liebe Super Troopers.«

»Ich weiß, Jane. Ein Klassiker. Jetzt halt dich mal an meinem Arm fest …«

Iris gelang es, mich auf den Parkplatz hinaus zu bugsieren. Als Marcus ihr helfen wollte, hatte sie dankend abgewinkt. »Sie hat mich«, erklärte ich der Kühlbox, die draußen vor dem Eingang des Stalls stand.

»Natürlich, Jane. Ich lehne dich nur mal kurz hier hin … ich muss meine Schlüssel rausholen…«

Iris wühlte in ihrer voluminösen Tasche. Ihr goldenes Haar umgab sie wie ein Heiligenschein aus Licht und Zitronenfaltern. Da fiel mir etwas ein.

»Ich liebe dich, Jane.«

Die Elbe lachte. »Ich weiß, Jane.«

»Nein, wirklich. Ich liebe dich.«

»Ich weiß, Mäuschen.«

»Nein, ernsthaft. Ich liebe dich wirklich. Und ich weiß, dass du immer mit mir knutschen willst, es aber gar nicht so meinst, weil du ja ein Sexteufel bist und so. Ich versteh das total.«

»Wir sind keine Teufel, Jane. Verdammt, wo habe ich nur meinen … Ah, da ist er ja. Komm, Süße.«

»Habe ich dir schon gesagt, dass ich dich liebe?«

»Ja, das hast du. Ich liebe dich auch.«

Ich schüttelte den Kopf und zog sie nahe an mich heran. »Nein, Iris. Ich mag mein Leben, wie es jetzt ist, und du bist ein Teil davon. Danke.«

Iris lachte und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Gern, meine Süße«, sagte sie und drückte mir einen sanften Kuss auf den Mund.

»Habe ich dir schon gesagt, dass ich dich liebe?«, nuschelte ich an ihren Lippen.

Sie küsste mich noch immer lachend, als wir überrascht wurden. Eine mir nur zu vertraute Stimme schallte vom Parkplatz des Stalls herüber.

»Wusste ich’s doch, dass du eine Scheiß-Lesbe bist, Jane. Kein Wunder, bei all deinen Lesbenfreunden.«

Der gute Stuart hatte schon immer ein Talent dafür, im falschen Moment aufzutauchen, aber diesmal hätte es ihn beinahe Kopf und Kragen gekostet.

Ich fuhr herum, eine rotierende Kugel aus stahlgrauer Energie schwebte über meiner Hand. Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, sie nicht auf Stu zu schleudern, als ich merkte, dass er nicht einer meiner viel gefährlicheren Feinde war.

»Scheiße, was ist das denn jetzt?«, stammelte Stuart, während er, kalkweiß im Gesicht, schleunigst zu seinem Geländewagen zurückstolperte.

»Ja, Scheiße, was passiert hier?«, gurgelte der Balvenie in meinen Adern. Ich hatte keine Ahnung, wo ich die Magiekugel hergezaubert hatte.

»… scheiß Freak«, zischte Stu just in dem Moment, als er in ein Schlagloch trat und auf den Hintern fiel.

Röste das Arschloch, empfahl mir der Teil von mir, der nach Rache dürstete, erschöpft und es leid war, immer herumgeschubst zu werden. Dann bist du diesen Drecksack für immer los …

Ich sah erst Stuart an und dann die Lichtkugel. Dann ließ ich sie knisternd verpuffen und reabsorbierte ihre Energie wieder, wie es sich für ein braves Mädchen gehörte.

»Mach, dass er vergisst, was er gesehen hat, bitte«, bat ich Iris und drehte mich zu ihrem kleinen pinken Wagen.

Ihre sowieso schon großen Augen waren riesig, als sie sich an Stuart wandte und ihn mit einer Aura belegte. Ich lehnte meine plötzlich ganz heiße Stirn an das kalte Metall ihrer Autotür und wartete, bis mein Zittern nachließ. Ich war so nah dran gewesen, Stu zu töten, und der Gedanke entsetzte mich. Auch wenn er wirklich ein Riesenarschloch war.

Dann fuhr Iris mich nach Hause, und wir blieben in der Einfahrt noch eine Weile im Auto sitzen und redeten.

»Ich dachte wirklich, du machst Holzkohle aus dem Kerl.«

»Ja, na ja, er nervt wirklich. Aber er hat es trotzdem nicht verdient, zu sterben.«

»Darüber lässt sich streiten. Hast du seine Schuhe gesehen? Sie waren mit Klettverschluss

Ich musste lachen. Iris hatte ihre ganz eigenen Prioritäten.

»Nacht, Iris.«

»Gute Nacht, Jane.«

Als ich dabei war, aus dem Auto auszusteigen, hielt mich Iris noch einmal zurück.

»Jane? Als du gesagt hast, dass du während der letzten Woche viel gelernt hast, hattest du Recht. Ich bin wirklich stolz auf dich.«

»Klar, danke, Iris.«

»Nein, ich meine es ernst.«

» Okay, gut, danke.«

»Wenn du mich brauchst, dann ruf mich.«

Ich murmelte noch immer meinen Dank dafür, dass Iris mir eine so gute Freundin war, während ich ins Haus ging. Dann, nachdem ich dem Schnarchen meines Vaters gelauscht hatte, um sicherzugehen, dass er schlief, hinterließ ich ihm eine Nachricht und schnappte mir meinen Schlafsack.

Der Sand in meiner kleinen Bucht war weich wie ein Bett, und mit einem Seufzer kuschelte ich mich hinein. Mit schweren Augenlidern blickte ich hinauf zu den Sternen und dachte über die kommenden Wochen nach.

Ich glaube, ein Teil von mir hatte mein neues Leben noch immer für ein Spiel gehalten, trotz der Ereignisse im Verbund vor einigen Monaten. Aber jetzt wusste ich, dass es kein Spiel war. Oder falls doch, dann Russisch Roulette.

Also war mir klar, dass ich auf alles, was da kommen würde, vorbereitet sein musste. Kein Herumgeblödel mehr. Morgen würde ich zu Nell gehen und richtig trainieren. Ich würde mir nicht mehr ausmalen, sie an ihrem Haarknoten herumzuwirbeln. Oder auf ihrem kleinen Pony wegzureiten. Ich würde mich richtig anstrengen, bis ich Arschtreten konnte wie eine echte Actionheldin.

Aber erst musste ich mich ausruhen.

Die vertraute Behaglichkeit meiner Bucht zusammen mit dem tröstenden Rauschen des Old-Sow-Strudels gaben mir endlich die Geborgenheit, schlafen zu können.

Irgendwann in der Nacht träumte ich doch von Graeme, doch der Alptraum wurde von einem Hauch von Kardamon an meiner Wange vertrieben, gefolgt von der Berührung einer Hundezunge. Ich machte automatisch Platz, als sich eine weiche, flauschige Gestalt neben mich in den Sand kuschelte. An den großen Hund geschmiegt, murmelte ich meinen Dank dafür, dass er mich vor dem Alptraum-Graeme gerettet hatte, in sein Fell, und mein erschöpftes Gehirn sank in noch tieferen Schlaf, als ich mich nach Wochen endlich wieder sicher fühlte.

In meinem friedlichen Schlummer verließ Graeme die Bühne meiner Träume zur Linken, und Anyan betrat sie von der rechten Seite her. In der Realität lag der echte Anyan in seiner Hundeform neben mir zusammengerollt. Aber in meiner Traumwelt war mein Unterbewusstsein es müde, den Verdrängungstaktiken meines Bewusstseins nachzugeben. Also sah die Traum-Jane, wie der Traum-Anyan sich vom Hund zum Mann wandelte. Und dann wurden Traum-Janes Augen ganz groß, als sie feststellte, dass ihr schlafendes Gehirn den Barghest in sein breites Lächeln gekleidet hatte. Und in nichts sonst.

Der Traum, der darauf folgte, war definitiv kein Alptraum. Abgesehen von der Tatsache, dass ich auch nach dem Aufwachen noch schwitzte, große Augen machte und ziemlich durcheinander war. Wenigstens war ich allein. Aber ein langes, schwarzes Hundehaar hing noch zwischen meinen Lippen.

Ich legte es in den Sand neben mir und starrte es eine Weile an. Dann zog ich mir den Schlafsack über den Kopf.

Ryu würde richtig sauer sein.