KAPITEL 2
Am nächsten Tag ging ich nach der Arbeit erst nach Hause, bevor das Training mit Nell anstand. Die Fliegengittertür am Eingang unseres Hauses quietschte besorgniserregend, als ich sie öffnete, und ich nahm mir vor, demnächst die Scharniere zu ölen. Mein Schlüssel klemmte, wie immer, und ich rüttelte eine Weile daran, um mir schließlich Eintritt zu verschaffen. Mein Dad saß in unserem kleinen Wohnzimmer rechts von der Tür und schaute Poker.
»Hey, Dad!«, sagte ich sanft und vergewisserte mich erst, dass mit ihm alles in Ordnung war, bevor ich meinen Mantel aufhängte.
»Hallo, Liebes«, antwortete er. Er klang sehr müde und sah auch so aus.
»Wie fühlst du dich? Kann ich etwas für dich tun?« Ich wusste, dass er es hasste, wenn ich ihn bemutterte, aber ich konnte nicht anders. Im Bemuttern von ihm war ich nun mal gut.
»Oh, mir geht’s gut. Nur ein bisschen müde.«
Ich ignorierte seine Bemerkung und ging zu ihm, um ihn genauer zu betrachten. Trotz seiner offensichtlichen Müdigkeit sah er nicht allzu schlecht aus, und welches neue Medikament der Arzt ihm auch immer verschrieben hatte, es schien anzuschlagen. In letzter Zeit hatte er entschieden mehr Farbe, und er schlief auch besser.
»Wirklich, mir geht’s gut. Ich bin gestern nur zu lange aufgeblieben, um diesen dummen Film anzuschauen.«
Ich grinste ihn an. »Ich hoffe, du hast den Jungs nicht erzählt, dass du wach geblieben bist, um Magnolien aus Stahl anzuschauen«, zog ich ihn auf.
Er seufzte. »Machst du Witze? Damit würden sie mich bis an mein Lebensende aufziehen. Ich würde einen Baum fällen oder einen Reifen wechseln müssen, um meine Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Aber ich liebe diesen verdammten Film nun mal«, gestand er.
»Und deshalb liebe ich dich, Dad«, sagte ich und beugte mich zu ihm, um ihm einen Kuss auf die stoppelige Wange zu drücken.
»Ich liebe dich auch, Schatz. Und ich will nicht, dass du dir meinetwegen so viele Sorgen machst. Ich fühle mich wirklich gut. Die neue Behandlung scheint zu helfen.«
»Du siehst auch besser aus«, sagte ich nicht nur zu ihm, sondern auch, um mich selbst davon zu überzeugen.
Er nickte und wechselte das Thema. »Was gibt’s denn zum Abendessen?«
»Ich dachte, ich mache Fisch mit Ingwersoße, Reis und Salat.«
»Das klingt gut, Liebes. Und es könnte sein, dass in der Küche etwas auf dich wartet.« Ich kniff die Augen zusammen. »Was für eine Art etwas denn?«
»Ach, einfach etwas eben«, erwiderte mein Vater verschmitzt.
Nun ja, um einen nackten Vampir handelte es sich wahrscheinlich nicht, sonst wäre mein Vater nicht so gelassen. Trotzdem schlich ich misstrauisch in die Küche, denn ich kannte den Hang meines Lovers, ein Riesentamtam um so kitschige Erfindungen der Konsumindustrie wie den Valentinstag zu machen. Ich hatte wirklich Angst, dass gleich ein Feuerwerk losgehen oder aus einer überdimensionalen Torte doch noch ein nackter Vampir springen würde.
Mir lief das Wasser im Mund zusammen, aber ich war nicht sicher, ob dies geschah, weil ich an den nackten Ryu oder an die Torte dachte.
Mhmmmm … Kuchen …
Doch sowohl meine Kuchen- als auch meine Sexfantasien wurden jäh beendet, denn nichts von beiden erwartete mich in der Küche. Stattdessen stand auf der Arbeitsplatte ein völlig normaler Strauß roter Rosen. Okay, es waren ziemlich viele Rosen – mindestens drei Dutzend –, aber es waren eben nur Rosen. Ich sah nach, ob es sich um einen Standardstrauß vom Floristen handelte oder ob die Vase vielleicht mit Diamanten besetzt war. Es hatte eine Weile gedauert, bis Ryu kapiert hatte, dass ich ihn wollte und nicht seine teuren Geschenke. Wo hätte ich auch schon groß Gelegenheit, Designerklamotten oder Schmuck zu tragen? Etwa im Old-Sow-Strudel? Also war ich glücklich über die Rosen. Er hatte nicht vergessen, wie sehr ich Blumen liebte. Hoffentlich würde der Strauß noch mit einem Besuch von ihm gekrönt werden – Valentinstag war schließlich nur heute –, aber die Rosen waren schon ein hübscher Auftakt …
… und der Ausklang zugleich, dachte ich, als ich die Karte an dem Strauß entdeckte. Denn dabei handelte es sich überhaupt nicht um eine Karte, sondern um ein offenes Ticket nach Boston. Für den nächsten Tag.
Ich kicherte nervös, als unser Telefon wie auf ein Stichwort der Götter klingelte.
»Hallo?«, meldete ich mich, obwohl ich verdammt gut wusste, wer dran war.
»Hey, Baby«, schnurrte die Stimme, die, egal wie vertraut sie mittlerweile geworden war, mir noch immer kalte Schauer über den Rücken jagte.
»Du …«, stammelte ich. »Du …«, fuhr ich fort, unsicher, ob ich ihm einfach nur danken oder doch lieber der Versuchung nachgeben sollte, den Hörer abzulecken.
»… bist großartig? Außergewöhnlich? Sexy? Dein Liebling? Ich kann gern weitermachen…«, sprang Ryu für mich ein.
»Ryu«, unterbrach ich ihn.
»Jane«, hauchte er, während mein Unterleib einen ekstatischen Tanz aufführte. »Gefällt dir dein Geschenk?«
»Die Rosen sind wunderschön, Schatz. Danke.«
»Nicht annähernd so bezaubernd wie du, meine Süße. Aber sie sind nicht das eigentliche Geschenk. Kannst du kommen?«
Ich lächelte, als ich hörte, wie er das letzte Wort in die Länge zog, und mein Herz pochte lautstark, wie immer, wenn Ryu im Spiel war. Wenn ich nicht sowieso schon total aufgeregt gewesen wäre, ihn so bald zu sehen, dann hätte er mich damit vor Vorfreude schier zum Platzen gebracht.
»Ja, ich kann kommen. Ich muss es noch mit Grizzie und Tracy abklären, aber ich bin sicher, es ist okay. Im Laden ist jetzt während der Ferien sowieso nichts los. Dann muss ich noch sicherstellen, dass die Jungs nach meinem Vater sehen. Aber das sollte kein Problem sein. Noch ein paar Anrufe, und dann bin ich ganz dein.«
»Ganz mein, Baby?«, schnurrte er. »Du weißt ja, ich nehme dich beim Wort…«
Ich lachte. »Vorsicht, Blutsauger. Wenn du jetzt schon dafür sorgst, dass ich mich spontan selbst entzünde, dann schaffe ich es nicht nach Boston. Aber ich freue mich schon sehr, dich zu sehen. Ich habe dich vermisst.«
»Ich dich auch, Liebling. Ich vermisse dich die ganze Zeit. Wir haben ja schon darüber gesprochen…«
Ich erstarrte. Ryu hatte das letzte Mal, als wir uns sahen, durchblicken lassen, dass er unsere Beziehung langsam einen Schritt voranbringen wollte. Aber ich hatte keine Ahnung, wie wir das machen sollten. Also ging ich mit dieser Situation auf meine typische, unheimlich reife Art um und ignorierte das Thema einfach.
»Tja, du hast Glück; das war gutes Timing«, sagte ich. »Es ist der perfekte Zeitpunkt für einen Besuch. Aber das nächste Mal solltest du das besser vorher mit mir abklären. Was, wenn ich beschäftigt gewesen wäre?«
Ryu gluckste sein lustiges Lachen, und das Lustgefühl in meinem Bauch breitete sich in meinem restlichen Körper aus wie ein Feuerwerk. »Für mich bist du doch nie zu beschäftigt, Baby. Ich kenne dich.« Bevor ich gegen diese Behauptung protestieren konnte, fuhr er fort: »Und du wirst es lieben. Ich habe ein großartiges Wochenende für uns geplant. Du wirst nie wieder weg wollen.«
»Die Sachen, die du planst, sind immer großartig«, sagte ich dankbar. »Du bist schließlich Ryu.«
»Und du bist Jane. Für Jane versetze ich sogar Berge.«
Ich lachte. »Ich freue mich schon über ein Abendessen.«
»Dann versetze ich eben nur deine Beine – um meine Taille, während du an der Wand lehnst und ich vor dir stehe … nachdem ich dir auch noch den letzten Rest deiner Kleidung ausgezogen habe…«
Ich errötete, als mein beinahe unsterblicher Lover versuchte, mich in Telefonsex zu verwickeln, während ich in der hell erleuchteten Küche stand und mein Dad gleich nebenan in seinem durchgesessenen Lehnstuhl Poker schaute.
»Ryu«, sagte ich schluckend mit rauer Stimme. »Ich bin in der Küche … «
»Dann kannst du dich ja ein bisschen auf dem Tisch räkeln, während du mir zuhörst. Du weißt doch, was man auf Küchentischen Aufregendes machen kann…«
»Ryu«, unterbrach ich ihn verzweifelt. Ich konnte es kaum aushalten. Offenbar war ich es, die ein schlechtes Timing hatte. »Morgen. Wir sehen uns morgen. Dann können wir…«
»Ja.« Nun war er an der Reihe, mich zu unterbrechen. »Dann können wir. Und wir werden. Ich habe dich vermisst, Jane. Wie lange ist es her, zwei Wochen?«
»Ja.«
»Zu lang. Ich hasse es, dich zu vermissen.«
»Ich auch, Ryu.«
»Tja, morgen gehörst du wieder ganz mir. Das ganze Wochenende lang, und wenn du willst, auch länger. Das Rückflugticket ist offen.« Er wusste, dass ich ihm sagen würde, ich müsse wieder zurückfliegen, also ließ er mich diesmal nicht zu Wort kommen. »Aber dieses Wochenende gehörst du auf jeden Fall mir.«
»Ganz dir«, bestätigte ich.
»Denk heute Abend an mich, Jane. Wenn du ins Bett gehst.«
Es bestand sowieso keine Chance, dass ich nicht an ihn denken würde, nicht nach seiner Vorstellung heute am Telefon. »Das werde ich, Ryu. Glaub mir.«
»Gut. Und morgen wirst du dann in meinem Bett sein.«
Schweigend erbebte ich.
»Tschüss, Baby. Wir sehen uns morgen.«
Er hatte Unrecht, natürlich. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis ich wieder in seinen Armen war.
Aber dann war es doch endlich so weit.
Gerade hatte ich mir noch den Hals verdreht, um Ausschau zu halten, auf welchem Gepäckband sich mein Koffer befand, als ich im nächsten Moment fest gedrückt wurde und meine Füße in der Luft baumelten.
»Jane«, seufzte Ryu mir ins Ohr. »Gott, es ist gut, dich zu sehen.«
So fest an ihn geschmiegt, konnte ich genau spüren, wie gut er es fand.
Ich drückte mein Kinn an sein kurzgeschnittenes kastanienbraunes Haar und zog den Kopf dann ein wenig zurück, so dass meine Wange die etwas rauere Haut an seinem Kiefer streifte. Ich war umhüllt von seinem charakteristischen Geruch nach warmer Haut und Balsamseife mit einem Hauch Kreuzkümmel, der mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Während ich seinen Duft tief einatmete, verfolgte ich weiter meine Mission, bis ich mein Ziel fand und meine Lippen auf seine trafen. Die Hitze, die sich in meinem Bauch angesammelt hatte, breitete sich explosionsartig in meinem ganzen Körper aus, mit deutlich spürbarer Wirkung.
Da standen wir also und knutschten wie die Teenager, während meine Mitreisenden ihr Gepäck vom Band holten. Doch sie bemerkten uns gar nicht. Ryu setzte ganz automatisch seine Aura ein, die die Aufmerksamkeit der anderen entweder abwehrte oder anzog, je nach Situation. Obwohl ich wusste, dass wir unsichtbar waren, wäre mir das Gedränge um uns herum normalerweise trotzdem unangenehm gewesen. Aber wir hatten uns seit zwei Wochen nicht gesehen, und ich verlor mich an Ryus zärtlichem Mund. Unser Kuss wurde immer intensiver. Ich zog die Beine an, schlang sie um seine Taille und keuchte, als seine ausgefahrenen Fänge sich tief in meine Lippe bohrten. Ich schmeckte Blut, nur für einen Augenblick, bevor Ryu die leicht schmerzende Stelle fand. Zärtlich saugte er an der Wunde – oooh! –, seine Zunge fuhr über den Biss, einmal, zweimal und dann ein drittes Mal, bis die Stelle schließlich wieder ganz geheilt war.
Wir atmeten beide heftig, und ich konnte spüren, wie er zitterte. Ich löste meine Beine und ließ mich an seinem muskulösen Körper hinuntergleiten. Dann lehnte ich mich in seinen Armen zurück und ließ meinen Blick über seine breiten Schultern in dem makellosen weißen Hemd schweifen und weiter seinen kräftigen Hals hinauf bis zu seinen goldgrünen Augen, von denen ich nie genug bekommen konnte. Eigentlich waren sie haselnussbraun, aber mit winzigen grünen Sprenkeln, die sich rund um seine Pupillen sammelten, so dass der restliche Bereich beinahe rein bernsteinfarben war. Eine Woge der puren Lust überschwemmte meinen Körper. Wenn ich nicht bei ihm war, vergaß ich beinahe, wie umwerfend Ryu war und welche Wirkung er auf mich hatte.
Ich wusste, er konnte jedes Anzeichen meiner Erregung richtig deuten – meine erweiterten Pupillen, das wild klopfende Herz, das Blut, das durch meine Adern pulsierte –, als prangte sie groß und breit auf einer Reklametafel. Aber nur für den Fall, dass er noch irgendwelche Zweifel hatte, rieb ich meine Hüften ganz leicht an seiner bereits recht prallen Hose. Er schloss seine schönen Augen und stöhnte auf. Dann zog er mich kurz noch fester an sich, bevor er mich von sich schob.
»Falls du keine geheimen Sexfantasien hast, die mit dem Logan Flughafen zu tun haben, schlage ich vor, du hörst auf, mich zu foltern«, sagte Ryu, und seine sonst so zärtliche Stimme klang ganz heiser vor unterdrückter Lust.
Ich grinste ihn an. »Du verdienst Folter nach gestern Abend. Ich musste extra noch eine Stunde schwimmen, um mich wieder abzuregen.«
»Tja, ich hoffe, du hast nicht alle Erregung weggeschwommen«, sagte er und fuhr mir mit der Hand über den Hintern, um mich dann zum Gepäckband zu bugsieren.
»Ich bin sicher, ich kann noch ein bisschen was aufbringen«, erwiderte ich trocken und wollte nach meinem schweren Koffer greifen. Aber Ryu kam mir zuvor und hob ihn, über seine Größe grinsend, mit Leichtigkeit vom Band.
»Hast du vor, länger zu bleiben?«, erkundigte er sich mit hoffnungsvoller Stimme.
»Nein, ich muss auf jeden Fall Montag zurück, spätestens. Aber ich habe den Fehler gemacht, Iris zu bitten, mir beim Packen zu helfen.«
Die Elbe war noch am Abend zuvor zu mir gekommen, mit einer Monatsration Kleidung, die bereits in dem riesigen Koffer verstaut war. Sie hatte einen kurzen Blick auf den kleinen Rollkoffer geworfen, den Ryu mir geschenkt hatte, und war in lautes Lachen ausgebrochen. Der Rollkoffer verschwand, und die paar Sachen, die sich bereits darin befunden hatten, wurden noch in dem riesigen Ungeheuer verstaut.
»Ach ja?«, fragte Ryu erwartungsvoll, als er mit einer Hand den ausfahrbaren Griff und mit der anderen meine Hand nahm, die er dann in einer typischen Gigolo-Geste an seine Lippen zog, bevor er mich zum Ausgang führte. »Und was genau hat Iris dir empfohlen einzupacken?
Ich wurde rot. Wenn mein Koffer in diesem Moment aufspringen und seinen Inhalt vor die Augen aller Umstehenden ausspucken würde, dann würden die meisten Leute hier wohl glauben, in Boston fände gerade eine Sexmesse statt und ich arbeite für eine der großen Produktionsfirmen.
»Vorräte, Vitamine, das Übliche eben«, sagte ich piepsig. Ich wusste, die Elbe war an meine »Schmuddelschublade« gegangen, wo ich all die Geschenke von Grizzie aufbewahrte. Grizzie fand zu jedem Anlass das richtige unartige Geschenk, und da ich sie nun schon eine ganze Weile kannte, enthielt die geheime Lade inzwischen ein stattliches Sammelsurium an fetisch-tastischem Schweinkram. Die vorgesehene Nutzart einiger der irgendwie phallisch wirkenden Gegenstände konnte ich nicht mal erahnen, also blieben sie ungeöffnet und sicher verstaut in der Schublade. Aber als ich gestern Abend aus dem Badezimmer, wo ich meinen alten Kulturbeutel ausgegraben hatte, in mein Zimmer zurückgekommen war, stand meine Schmuddelschublade offen, und Iris tätschelte mit wie Fernlicht leuchtenden Augen meinen Riesenkoffer.
»Mmm-hmm«, sagte Ryu genüsslich und musterte mich mit hochgezogenen Brauen. Der Kerl hatte eine Form der Kommunikation entwickelt, die der von Frauen im 19. Jahrhundert mit ihren Fächern sehr ähnlich war; er konnte sich allein mit seinen Augenbrauen eloquent und ausgiebig unterhalten. Gerade eben sagte der Mund des galanten Vampirs: »Sehr erfreut, dass Sie hier sind, Miss True.« Seine Brauen sagten jedoch: »Ich werd’s dir besorgen, Kleine.« Mir gefiel sowohl, was sein Mund, als auch was seine Brauen sagten, also stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste beide nacheinander. Ryu beugte sich entgegenkommend zu mir herunter.
»Ich bin auch froh, hier zu sein«, bemerkte ich und versuchte ihm mit meinen eigenen Augenbrauen zu sagen: »Und ich werd’s dir erst besorgen, Süßer!« Aber ich fürchte, es sah eher so aus, als hätte ich Verstopfung.
»Allerdings werden wir diesen Koffer wohl hierlassen müssen. Ich habe keine Ahnung, wie wir ihn in mein Auto bekommen sollen…« Ryu war zu Recht beunruhigt. Der Koffer war wirklich ungeheuer groß, und er fuhr einen Porsche Boxter.
Zumindest früher.
Denn entweder hatte er vor, den klitzekleinen, schwarzen BMW zu stehlen, auf den wir auf dem Flughafenparkplatz zusteuerten, oder er hatte sich ein neues Auto gekauft. Diesmal sprachen meine Augenbrauen wirklich Bände.
Ryu grinste. »Der alte ist mir zu langweilig geworden«, sagte er schelmisch.
»Was ist denn das für ein Ding?«, fragte ich. Das kleine Auto war toll. Aber es roch verdächtig nach Überkompensierung, Midlife-Crisis oder nach Schlampenschleuder. Ryu hatte nichts zu kompensieren, und er war eher ein Macker als eine Schlampe. Also blieb nur Midlife-Crisis. In ein paar Jahrzehnten würde er dreihundert Jahre alt sein, also war es für ihn womöglich an der Zeit für eine kleine Nervenkrise.
»Ein Z4 M Roadster«, antwortete er und fuhr mit der Hand genüsslich über die Motorhaube.
»Was ist mit dem Porsche passiert?«
Ryu lächelte mich unschuldig an. Dieses Lächeln kannte ich nur zu gut. Das setzte er immer auf, bevor er etwas unaussprechlich Versautes machte. »Ich hatte einen Unfall«, war alles, was er dazu sagte, bevor er den Kofferraum öffnete und versuchte, meinen Koffer darin zu verstauen.
»Will ich das genauer wissen?«, erkundigte ich mich misstrauisch, nachdem er mein Gepäck letztendlich doch untergebracht hatte.
»Nein«, erwiderte er und kam um das Auto herum, um mir die Tür aufzuhalten. Ich ließ mich auf den Beifahrersitz schieben und vergewisserte mich dann zweimal, ob ich auch sicher angeschnallt war. Ich zog jäh am Gurt, um zu überprüfen, dass er auch funktionierte.
»Bei dem Unfall, nach dem ich dich nicht näher fragen soll, hast du doch bestimmt eine wichtige Lektion in puncto sichere Fahrweise gelernt, oder?«, wollte ich von meinem Vampir wissen, nachdem er auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte. Ryu warf mir sein engelhaftestes Lächeln zu, das er immer dann einsetzte, wenn ich wirklich in Schwierigkeiten war.
»Und du willst dieses schöne, neue Auto doch auch nicht gleich wieder zu Schrott fahren, oder?«, schob ich hinterher und betete insgeheim, dass er dieses schöne, neue Auto wirklich nicht gleich wieder zu Schrott fahren wollte. Der Vampir ignorierte meine Frage einfach.
»Ryu, das sind doch echt tolle neue Autositze. Du willst doch nicht, dass ich mir darauf in die Hosen mache, oder? Ryu? Ryu?«
Nachdem er sich angeschnallt und den Rückspiegel in Position gebracht hatte, geruhte er endlich, mir Beachtung zu schenken.
»Liebling, warum machst du dir so einen Kopf? Du weißt doch, dass ich ein sicherer Fahrer bin.«
»Nein«, erwiderte ich, »du bist kein sicherer Fahrer, du rast wie ein verdammter Irrer.«
»Jane, keine Sorge«, antwortete Ryu lachend, als er den Motor anließ. Er knurrte wie ein tollwütiger Dingo. »Wir sind hier in Boston.«
Ich dachte darüber nach. Wenn er Heimvorteil hatte, musste er bestimmt nicht so aggressiv fahren, oder? Und Boston war berüchtigt für sein hohes Verkehrsaufkommen und die winzigen Straßen. Boston hat niemals gebrannt!, rief ich mir in Erinnerung. Wie irre konnte man schon in einem wahren Labyrinth fahren?
Er schoss so schnell aus dem Parkplatz, dass mein Magen überrascht gurgelnd zurückblieb.
Angriffslustig drängelte er sich vor einen dieser Wichsmaschinen-SUVs, die uns leicht hätte plattwalzen können. Er bremste gerade lang genug, um der gelangweilten Parkwächterin in ihrer Kabine Geld zuzuwerfen. Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er das kleine Auto so rasant in die Ausfahrt jagte, dass wir beinahe die sich gemächlich öffnende Schranke gerammt hätten.
»Wie war das? ›Wir sind hier in Boston, Jane‹?«, fragte ich meinen Lover im Geschwindigkeitsrausch mit zusammengebissenen Zähnen.
»Das ist Boston, Jane«, rief Ryu, als er zu einem komplizierten Manöver ansetzte, das sieben Spurwechsel, zwei Milchlaster und einen alten VW-Bus, der über und über mit »Unterstütz deine Truppen«-Stickern und einigen Kraftausdrücken beklebt war, miteinschloss.
Das Herz klopfte mir bis zum Hals, und mein Magen hing irgendwo zwischen meinen Fußgelenken.
»… und alle in Boston fahren wie verdammte Irre«, fügte er noch hinzu, als er abrupt abbremste, um im letzten Moment zu verhindern, dass wir mit dem Auto kollidierten, das uns gerade bei Tempo 145 geschnitten hatte.
Es war ein schwarz-weißes Polizeiauto ohne Licht.
Ich war nie ein besonders spiritueller Mensch gewesen, aber in diesem Moment lernte ich zu beten.