KAPITEL 6

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Ich starrte Ryu fassunglos an, als hätte er mir soeben eröffnet, dass Boston von einem tollwütigen Meerschweinchen terrorisiert würde, mit sehr spitzen und scharfen Zähnen.

»Ein Halbling?«, fragte ich entgeistert.

Ryu nickte kaum merklich, als er sich aufsetzte, um sich die Hose, die ihm noch zwischen den Knöcheln hing, und seine Socken auszuziehen. Erst jetzt begriff ich, wie bestürzt Ryu über diesen Angriff gewesen sein musste. Er hatte beim Sex noch nie die Socken anbehalten.

»Ein Alfar-Halbling?« Mein Hirn war sofort zu dem Schluss gekommen, dass Jarl, der Rassenpurist, auch ein Heuchler war und womöglich selbst einen Halblingssohn hatte.

»Nein, kein Alfar-Halbling. Conleth ist zur Hälfte Ifrit«, erklärte Ryu, sank wieder zurück aufs Bett und legte den Arm um mich.

»Ifrit?«, fragte ich und musste an das Feuerwesen denken, das ich vor einigen Monaten am Hof der Alfar getroffen hatte. Es hatte über und über aus Flammen bestanden, und ich wäre beinahe von ihm gegrillt worden, als ich versucht hatte, es anzufassen.

»Wie bitte schön kann ein Mensch mit einem Ifrit vögeln?«

»Wie die Stachelschweine«, sagte Ryu scherzend und zuckte mit den Schultern. »Sehr vorsichtig.«

Ich starrte ihn verblüfft an.

»Sie können ihr Feuer kontrollieren, wenn sie wollen, Liebling. Aber es ist trotzdem ein riskantes Unterfangen für einen Menschen«, stellte Ryu klar.

»Wow«, sagte ich bestürzt, als Ryus Worte schließlich zu mir durchgesickert waren. Ich hatte Schwierigkeiten zu glauben, dass Jarl nicht hinter dem Angriff auf mich und Ryu steckte. Für mich gehörten »mörderische Attacken« und »Jarl« einfach zusammen, so dass mein Hirn sofort zu dieser Annahme gekommen war.

Und jetzt musste ich mich also an den Gedanken gewöhnen, dass jemand anderes als Jarl uns umbringen wollte.

Und dieser jemand war noch dazu ein Halbling. Einer, dessen bloße Elementarkraft Ryu heute Abend hatte erzittern lassen, und Ryu war nun wirklich kein Schwächling. Ich hatte gesehen, wie er während eines Schwertkampfes die Kräfte des Naga-Prinzen, Jimmu, abgewehrt hatte.

Es wollte mir einfach nicht in den Kopf, dass ein Halbling so stark sein konnte.

»Aber wie…?«, war alles, was ich herausbrachte, doch Ryu verstand meine wirren Gedanken trotzdem.

»Nur weil jemand wie du halb menschlich ist, bedeutet das nicht, dass er irgendwie ›halbiert‹ ist. Erinnerst du dich noch, wie wir ganz am Anfang, als wir uns gerade kennengelernt hatten, mit Iris über Peter Jakes sprachen? Sie hat uns doch erzählt, dass viele Halblinge ihre Eltern übertrumpfen. «

Ich nickte. »Aber Jakes hatte fast gar keine übersinnlichen Kräfte, und ich habe mir erst mal die Augenbraue abgefackelt …«

»Erstens«, unterbrach mich Ryu, »war das mit der Augenbraue ein Unfall, der uns allen schon einmal passiert ist. Zweitens, Peter Jakes ist wichtig, aber nicht etwa, weil er ›schwach‹ war. Du hast Recht damit, dass er kaum Kräfte hatte, die die Fähigkeiten von uns anderen übersteigen. Im Wesentlichen war er ein Sterblicher, wenn man von Kriterien wie Magielichter, der Aura oder solchen Dingen ausgeht. Aber…« Ryu hielt einen Moment inne. » … Jakes war uns in einer Sache überlegen. Er konnte magische Kräfte spüren, selbst wenn sie nicht genutzt wurden, und – wenn genug Zeit war – ihr wahres Potenzial erkennen. Keiner sonst konnte das. Niemand. Sofern wir es nicht mit einem Satyr wie Caleb, einem Kobold oder irgendeinem anderen unverkennbaren Typ zu tun haben, können wir uns nicht gegenseitig identifizieren, außer wir benutzen aktiv unsere magischen Kräfte. Wenn ich dir einfach so auf der Straße begegnen würde, würde ich eine junge Frau in dir sehen. Und nichts weiter. Erst wenn du versuchen würdest, deine Aura auf mich anzuwenden, würde ich wissen, dass du übernatürliche Kräfte hast. Aber ich könnte noch immer nicht sagen, dass du ein Selkie-Halbling bist und wie groß deine Kräfte sind oder all die anderen Dinge, die Jakes aus irgendeinem komischen Grund feststellen konnte, nur indem er etwas Zeit mit jemandem verbrachte.«

Ich spürte, wie sich eine steile Falte zwischen meinen Augenbrauen bildete, die Ryu mit einem Finger glattstrich. »Und heute Abend«, fragte er, »was hat Julian für dich getan? «

»Er hat mich wiederaufgeladen«, erwiderte ich ohne nachzudenken, noch bevor mir bewusstwurde, wie unmöglich das eigentlich war. »Aber wie hat er das bloß gemacht? «, fragte ich Ryu zuliebe. Mittlerweile war ich schon ein sehr guter Stichwortgeber.

»Genau.« Ryu nickte. »Julian ist Camilles Sohn, den sie zusammen mit einem Menschen hat. Sie ist wie ich von der Gattung der Baobhan Sith. Und Julian ist im Grunde genau wie wir. Auch er gewinnt Elixier, und er zeigt all die Fähigkeiten wie wir anderen. Mit Ausnahme von einer. Aus irgendeinem Grund hat Julians menschliches Erbe seine Fähigkeiten dahingehend verändert, dass er nicht nur Elixier aufnehmen kann, sondern auch in der Lage ist, dieses Elixier in die verschiedenen Elementarkräfte zu verwandeln und andere damit zu versorgen. Ich habe noch niemals von übernatürlichen Kräften wie Julians gehört. Es gibt niemanden, weder in der Vergangenheit noch aktuell, von dem wir wissen, dass er über dieselben Fähigkeiten verfügt. Und doch gibt es Julian: das laufende, sprechende, mobile Aufladegerät. «

»Julian ist ein Halbling«, murmelte ich erfreut. Er war mir schon zuvor sympathisch gewesen, und nun mochte ich ihn noch mehr. Es erklärte außerdem das Interesse seiner Mutter an mir.

»Ja, das ist er. Und jetzt hör auf zu schwärmen, sonst werde ich eifersüchtig.«

Wo er gerade von Eifersucht sprach … »Und warum kann Julian dann nicht auch dich wiederaufladen? Anstatt dass …?«

Aus Rys Blick konnte ich ablesen, dass das, was zu gut schien, um wahr zu sein, eben das auch war.

Ryu zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Aus irgendeinem Grund kann Julian nur Elementarkräfte herstellen. Elixier gewinnt er wie seine Mutter. Wie ich…« Er verstummte verlegen. Julian musste also entweder Leute erschrecken oder verführen.

Warum sind Vampire nur so kompliziert?, jammerte mein Gehirn in seinem täglichen Anfall von Selbstmitleid darüber, wie sehr sich mein Leben doch verändert hatte. Inzwischen steuerte Ryu das Gespräch wieder in sichere Gewässer.

»Julian und Jakes sind gute Beispiele, denn beide wuchsen innerhalb unserer Gemeinschaft auf. Jakes, weil er einen verantwortungsbewussten Vater hatte, der sich um ihn kümmerte, als seine menschliche Mutter kurz nach seiner Geburt starb, und Julian, weil Mütter in der Regel mehr mit ihren Halblingskindern verbindet.«

Mein eifrig verblüffter Gesichtsausdruck wandelte sich zu einem Stirnrunzeln. Meiner Mutter war ich egal gewesen.

Ryu streichelte mir sanft mit der Hand über die Seite. »Es tut mir leid, das war taktlos von mir. Ich meine, dass Frauen von unserer Art ihre Halblingskinder eher in unsere Gemeinschaft integrieren. Im Falle deiner Mutter war es so, dass sie gezwungen war, dich zurückzulassen, weil du ihr nicht ins Meer hättest folgen können. Aber sie stellte sicher, dass Nell und die anderen ein Auge auf dich haben.«

Ich zuckte barsch mit den Schultern. Ein Zwergenbabysitter war nicht das Gleiche wie eine Mutter.

»Was ist mit den Vätern?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln.

Ryu runzelte die Stirn. »Nicht so verantwortungsvoll«, antwortete er knapp. »Komm schon, Jane. Du kennst doch die Mythen – Wechselbälger aus der Feenwelt, alle möglichen übernatürlichen Wesen und Götter schwängern Menschenfrauen. Gerüchte haben für gewöhnlich auch einen wahren Kern.«

»Dann war Zeus also bloß ein übernatürlicher Kindsvater, der sich aus der Verantwortung stahl?«

Ryu ging nicht darauf ein. »Viele männliche Wesen unserer Art teilen leider die Auffassung, dass es okay sei, Kinder mit Menschenfrauen zu haben, ohne die Verantwortung dafür zu übernehmen – es sei denn, es stellt sich heraus, dass das Kind besondere Kräfte hat. Wenn das Kind übernatürliche Fähigkeiten besitzt, dann ergreifen sie beizeiten die Gelegenheit, die Erziehung des Kindes zu übernehmen. Mit anderen Worten, sie nehmen einfach an, dass schon alles gutgehen wird, bis das Kind seine besonderen Kräfte zeigt. Dabei ignorieren sie die Tatsache, dass solche Halblingskinder während der Pubertät oft ein echtes Desaster sind. Wenn das Kind aber bereits in die Gemeinschaft integriert ist, kann die späte, oft chaotisch verlaufende Offenbarung der Kräfte kontrolliert ablaufen, so dass der Schaden sowohl für das Kind als auch für die Gemeinschaft gering bleibt. Aber wenn es auf sich allein gestellt ist, dann hat das garantiert unschöne Folgen.«

Ich fröstelte, als ich daran dachte, welchen Schaden jemand mit Conleths Kräften in einer solchen Situation anrichten konnte.

»Also laufen da draußen jede Menge potenziell gefährliche Halblinge herum, die nur darauf warten, dass ihre speziellen Kräfte offenbar werden, und Conleth ist der Beweis dafür, warum das ein Problem ist?«

Ryu runzelte stärker die Stirn. »Eigentlich nicht«, sagte er. »Wir haben im Moment relativ wenig Halblinge auf dem Schirm. Was zwar verwunderlich ist, aber nichts mit Conleth zu tun hat. Und Conleth ist eigentlich zu alt, als dass er erst jetzt seine Kräfte entdeckt haben kann. Vermutlich ist er etwa in deinem Alter, aber wir wissen relativ wenig über ihn.«

»Was wisst ihr denn?«

»Kurz nach unserem Besuch im Verbund gab es eine Explosion in einem Laborgebäude in Dorchester, bei dem einige Menschen getötet wurden. Der Vorfall schien keinerlei übernatürlichen Hintergrund zu haben, also kümmerten wir uns nicht weiter darum. Nicht zuletzt deshalb, weil ich noch mit den Konsequenzen von Jimmus Machenschaften zu tun hatte. Aber dann wurden einige Übernatürliche, angefangen mit einem männlichen Ifrit, von jemandem, der unglaublich große Elementarkräfte haben muss, ermordet. Am Ende kamen wir zu dem Schluss, dass die Morde mit der Explosion in dem Labor in Zusammenhang stehen.«

»Warum sollte Conleth plötzlich auftauchen und einfach so ein Labor angreifen?«

»Nein«, erwiderte Ryu mit finsterem Blick, »er hat es nicht angegriffen. Er ist von dort geflohen.«

»Geflohen?« Ich wurde blass.

»Ja.«

»Also war er … Was? Ein Testobjekt?«

»Ja.«

»Ach du Scheiße«, sagte ich atemlos, »kein Wunder, dass er angepisst ist!«

»Angepisst halte ich für eine Untertreibung, selbst aus deinem Mund.«

»Wie lange war er in diesem Versuchslabor?«, fragte ich, schockiert von dem, was ich da hörte.

»Wir glauben, sein ganzes Leben lang. Wir sind fast sicher, dass der Ifrit – der, der ermordet wurde – ein Kind mit einer Menschenfrau hatte. Er war nicht da, als das Kind geboren wurde, und das Baby muss irgendwie ins Blickfeld der Behörden geraten sein, vermutlich unter recht unerfreulichen Umständen, und Conleth landete in dem Labor.«

»Wie kann denn ein Baby einfach so verschwinden?« Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie Conleths Leben ausgesehen haben musste. Ich fühlte mich noch immer von meiner Mutter verraten, weil sie mich und meinen Vater im Stich gelassen hatte. Aber gemessen an einem Leben als eine Art Versuchskaninchen …

»Wer weiß.« Ryu zuckte mit den Schultern. »Wenn das Baby schon mit voll ausgeprägten Kräften geboren wurde, muss seine menschliche Mutter vermutlich geglaubt haben, sie hätte den Antichristen persönlich auf die Welt gebracht. Und der Vater wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass er ein Kind mit ihr gezeugt hatte. Aber du hast Recht, irgendwer hätte von der Existenz dieses Labors wissen müssen. Wir haben Leute auf jeder Ebene der Regierungsbehörden der Menschen sitzen. Wir sind auch im Gesundheitswesen, dem Militär und an den Universitäten vertreten. Dass ein Forschungslabor, das sicher Verbindungen zu all diesen Bereichen hatte, so lange ohne unser Wissen existieren konnte, ist Wahnsinn.«

»Militär und Regierung? Wirklich?« Dass Übernatürliche an den Unis vertreten waren, wunderte mich dagegen überhaupt nicht. Endlich ergab die Verschrobenheit einiger meiner Professoren einen Sinn. Aber ich konnte mir meine übernatürlichen Kumpels weder im Kampfanzug noch im Oval Office vorstellen.

»Natürlich, Jane. Und mittlerweile haben wir auch Leute im privaten Sektor. Seit dem Roswell-Debakel hat das Militär Richtlinien festgelegt, nach denen alles Engagement der Regierung im Bereich des Paranormalen an private Firmen vergeben wurde, wie eben das Labor, aus dem Conleth geflohen ist.«

»Roswell?«, kreischte ich. Langsam wurde mir das ein bisschen viel Information.

Ryus Augenbrauen schossen fast bis an die Decke. »Ja, Roswell. Das war natürlich einer von uns. Du glaubst doch nicht etwa an Außerirdische, oder?«

»Bis vor ein paar Monaten habe ich auch nicht an Vampire geglaubt, Ryu. Also sei mal nicht so streng mit mir. Ihr habt demnach Leute, die die Menschen ausspionieren und das so gut wie überall?«

»Ja.«

»Und wem berichten diese Spione?«

Ryu zögerte, wich meinem Blick aus. »Traditionsgemäß dient der Stellvertreter des Monarchen auch als Oberster Spion.«

Ich schloss die Augen und verfluchte stumm die Alfar-Tradition. »Du willst mir also erzählen, dass Jarl derjenige ist, bei dem all die Informationen zusammenlaufen, die für die Alfar bestimmt sind?«

»Ja. Aber bevor du dir gleich irgendwelche verrückten Verschwörungstheorien ausdenkst…«

»Ryu, komm schon! Ernsthaft? Jarl ist für die Spionage zuständig? Also ist alles, was sie wissen, von ihm gefiltert worden. Er kann für sich behalten oder übertreiben oder sogar frei erfinden, was immer er will.«

»Ja, jeder Oberste Spion könnte das, Jane. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass Jarl das auch tut. Vergiss nicht, er ist noch immer einer von uns. Für unsere Sicherheit zu sorgen, ist also in seinem eigenen Interesse, genauso wie in unserem.«

»Du gehst davon aus, dass er dieselben Prioritäten hat wie du. Aber was, wenn nicht? Ich glaube, wir wissen noch immer nicht die ganze Wahrheit darüber, warum Jimmu diese Halblinge getötet hat, und ich glaube auch, dass der wahre Grund, was auch immer er sein mag, etwas mit Jarl zu tun hat.«

»Jane, ich werde das nicht wieder diskutieren. Nein, auch ich traue Jarl nicht. Aber du gehst zu weit. Du machst ja geradezu einen typischen Hollywood-Bösewicht aus ihm, der seinen Schnurrbart zwirbelt und die Zerstörung des Planeten anordnet. Mein Team und ich sind akribisch jedes einzelne Verbrechen der Nagas durchgegangen, und wir konnten niemand anderen als Jimmu und seine Geschwister damit in Verbindung bringen. Sie haben eigenmächtig gehandelt.«

Ich wollte widersprechen, aber auf meinem Misstrauen gegenüber Jarl herumzureiten, würde bloß zu dem einzigen Geheimnis führen, das ich vor Ryu hatte: dass Jarl mich vor fünf Monaten im Verbund der Alfar beinahe erwürgt hätte. Nachdem Anyan mich gerettet hatte, hatte er mich davon überzeugt, Jarls Übergriff zu seinem eigenen Schutz vor Ryu geheimzuhalten. Ich hielt unsere damalige Entscheidung für richtig, aber ich wusste ebenso, dass Ryu ausrasten würde, wenn er dahinterkäme, dass ich ihm etwas verheimlichte … besonders etwas, bei dem Anyan Barghest eine Rolle spielte.

»Gut«, sagte ich daher und wechselte das Thema. »Also, Conleth befand sich in einem Versuchslabor, von dem du eigentlich hättest wissen müssen. Aber könnte es sich nicht einfach um das eine private Labor handeln, das euch irgendwie durchgerutscht ist?«

»Kann schon sein. Trotzdem…« Ryus Gesicht verfinsterte sich nachdenklich. Dann seufzte er. »Wie auch immer, was zählt, ist, dass Conleth zurück ist, und wir müssen ihn stoppen.«

Die Art, wie Ryu »stoppen« sagte, gab mir zu denken.

»Und was macht ihr mit Leuten, die ein Verbrechen begehen? «, fragte ich. »Ich meine, habt ihr Gefängnisse wie wir?«

Ryu sah mich lange an. Es war der Blick, den er immer aufsetzte, wenn er mir etwas über die übernatürliche Welt erzählte, von dem er wusste, dass es mir nicht gefallen würde.

»Wir haben natürlich Methoden der Einkerkerung, ja. Und manchmal nutzen wir sie auch, in der Regel für hochrangige Mitglieder unserer Gemeinschaft, die etwas getan haben, über das man nicht einfach hinwegsehen kann, aber die man auch nicht… normal behandeln kann.«

»Und wie sieht die ›normale‹ Behandlung aus?«

Ryu schürzte die Lippen, und ich wusste, was er sagen würde. Also kam ich ihm zuvor.

»Ihr tötet sie einfach, oder?« Der Gedanke an Exekution war nicht allzu weit hergeholt, schließlich hatte ich selbst erlebt, wie Orin und Morrigan, Ryus König und Königin, Jimmu ohne weitere Beratung zum Tode verurteilt hatten.

Ryu zuckte mit den Schultern.

»Ich nehme doch an, dass ihr die Tatsache, dass Conleth ohne Eltern in einem Versuchslabor aufwachsen musste, bei eurer Entscheidung, ob ihr den Kerl einfach umbringt, als mildernde Umstände anerkennt…«

»Jane, er ist bösartig. Ja, er hat gelitten. Aber das hat ihn zum Tier gemacht. Da ist nichts zu retten.«

»Das hätte auch ich sein können, Ryu! Was, wenn man mich als Kind im Old-Sow-Strudel erwischt hätte und ich deshalb in diesem Labor gelandet wäre? Wäre ich dann auch nur ein weiteres Problem, das es zu lösen gilt?«

Ryu schnaubte. »Du bist nicht wie Conleth, Schatz. Man kann euch nicht mal annähernd vergleichen.«

»Ja, aber ich hatte auch einen liebevollen Vater, der sich um mich gekümmert hat. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich Conleths Leben geführt hätte. Ich meine, kannst du dir überhaupt vorstellen, was er durchgemacht haben muss…?«

Ryus beschwichtigende Hände ließen mich verstummen.

»Jane, ist dir klar, dass du den Typen verteidigst, der gerade versucht hat, uns beide umzubringen? Conleth ist ein Monster.«

»Vielleicht ist er das, Ryu, aber er wurde erst zum Monster gemacht

Ryu drehte mich herum und zog mich dann aus dem Bett. »Komm mal mit.«

Ich schlüpfte erst in mein Höschen und sein Anzughemd, bevor ich ihm aus dem Schlafzimmer die Treppe hinunter folgte.

Ryu war bereits in seinem Arbeitszimmer und erwartete mich mit einem Aktenordner. Ich atmete zischend aus, als er Bilder von verschiedenen Tatorten auf dem Tisch vor mir ausbreitete. Ich musste den Blick abwenden von dieser grausigen Collage aus verrenkten, verkohlten Leichen.

»Conleth hat neun Menschen getötet, als er aus dem Labor floh. Unter diesen Umständen könnte man über solch extreme Handlungen ja vielleicht noch hinwegsehen. Doch dann stellte er draußen noch verschiedenen Labormitarbeitern nach. Aber auch Rache wäre noch verständlich gewesen. Allerdings tötete er einfach jeden, der auch nur im Entferntesten mit dem Labor zu tun hatte. Nicht nur die Wissenschaftler, sondern auch den Hausmeister. Die Sekretärin. Den Parkwächter. Und ihre Familien, wenn sie das Pech hatten, mit dem Opfer zu Hause zu sein. Irgendwann im Laufe dieses Gemetzels fand er die Identität seiner leiblichen Eltern heraus. Da tötete er sogar seine Mutter, ihren Ehemann und deren drei Kinder im Teenageralter. Seine Halbgeschwister. Er setzte das Haus in Brand, während sie schliefen.« Ryu zeigte auf ein Foto. Ich sah nur gerade so lang hin, dass ich die zusammengekrümmten, verkohlten Körper erkannte, bevor ich mich abwenden musste, sonst wäre mir schlecht geworden.

»Dann hatte er es auf seinen Ifrit-Vater abgesehen. Und danach fing er an, einfach jedes übernatürliche Wesen umzubringen, das er in die Finger bekam. Insgesamt drei erwischte er. Und all das geschah in nur zwei Wochen, Jane. Zwei. Dann verschwand er. Wir nahmen an, er habe seine Rachegelüste gestillt und sich abgesetzt. Dass er irgendwo in die Grenzregion abgehauen oder von nun an das Problem eines anderen Territoriums sei. Aber wir lagen wohl falsch.«

Ich wappnete mich, um mir das Foto genauer ansehen zu können. Überall lagen bäuchlings Körper herum. Conleth war nicht bloß ein Serienkiller; er war der Tod auf Beinen.

Ich verließ Ryus Büro und ging in die Küche, wo ich ein Glas mit Leitungswasser füllte. Ich trank es halb leer und stellte es in die Spüle. Als ich mich umdrehte, lehnte Ryu an der Kücheninsel aus Granit und betrachtete mich.

»Auf einem der Bilder war etwas, das verdächtig nach einem explodierten Porsche aussah«, sagte ich.

Er lächelte bitter. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich einen Unfall hatte.«

»Wann hat Conleth versucht, dich umzubringen?«

»Direkt bevor er verschwand. Deshalb habe ich nichts gesagt. Ich ging davon aus, dass die Bedrohung vorüber sei, also gab es keinen Grund, dich zu beunruhigen.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. Ich hasste es, wenn Ryu mich verhätschelte. Ich wusste, ich war halb menschlich und dass ich von vielen Dingen in Ryus Welt keine Ahnung hatte, aber ich war kein kleines Kind.

»Wie nah wart ihr dran, ihn zu fassen?«

»Nicht sehr nah. Er hat außergewöhnliche Kräfte. Und er kann Sachen, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Allein die Art, wie er sich fortbewegt … wie ein verdammter Komet. Ich habe noch nie jemanden wie ihn gesehen.«

Ich verstummte, als mir langsam dämmerte, was heute Abend passiert war und was es für mich und Ryu bedeutete.

»Offenbar will er dich noch immer tot sehen«, sagte ich. Er nickte nur.

»Aber das ist es nicht, was mir Sorgen macht. Ich habe nur Angst, dass Conleth dich gesehen hat.«

»Er wird doch nicht hinter mir her sein, oder?«

Ryus Gesicht verfinsterte sich. »Ich weiß nicht, Baby. Aber es könnte gut sein, sei es, um über dich an mich heranzukommen oder weil er denkt, du seist reinblütig.«

Ich dachte über die Tragweite dessen, was Ryu mir da eröffnete, nach, bevor ich etwas dazu sagte. »Welche Optionen haben wir dann?«

»Tja, du könntest hierbleiben. Ich könnte dich beschützen, aber gleichzeitig wäre die Gefahr, dass du zur Zielscheibe wirst, größer. Oder wir schmuggeln dich zurück nach Rockabill und betrauen Nell damit, immer ein Auge auf dich zu haben.« Ryu zuckte zerknirscht mit den Schultern. »Ich sage es nur ungern, aber bei ihr bist du am sichersten.«

Er sah die Skepsis in meinem Gesicht, noch bevor ich sie zum Ausdruck bringen konnte.

»Ich weiß, es fällt dir schwer, Nell wirklich ernst zu nehmen, aber das solltest du. Ich habe dir doch erzählt, wie mächtig Zwerge sind, und ich bin mir sicher, du hast ihre Kräfte gespürt. Und das war nur ein Bruchteil, was sie im Alltag einsetzt. Stell dir vor, wie es ist, wenn sie wütend wird.«

»Es ist nicht wegen Nell, Ryu. Mir gefällt der Gedanke nicht, dich so zurückzulassen, in dem Wissen, dass da irgendein Irrer herumrennt, der es auf dich abgesehen hat.«

»Ich weiß, Jane, und ich weiß das auch zu schätzen. Aber ehrlich, was könntest du schon tun?«

»Ganz unfähig bin ich nun auch nicht«, sagte ich säuerlich. »Das letzte Mal, als uns ein Mörder nachstellte, habe ich mich doch als ganz nützlich erwiesen, schon vergessen?«

»Ich weiß, Babe. Aber das war etwas anderes. Wir haben nicht geahnt, in welcher Gefahr du dich befandest, als wir an den Hof der Alfar fuhren. Wenn ich damals gewusst hätte, dass Jimmu hinter der ganzen Sache steckt, hätte ich dich ihm nicht auf dem Silbertablett serviert, das kannst du mir glauben.«

»Aber was, wenn Conleth mir nach Rockabill folgt? Ich mache mir weniger Sorgen um mich selbst, als um meine Familie und meine Freunde.«

»Nell wird verstehen, wie ernst die Sache ist. Ich sorge dafür, dass sie für deine umfassende Sicherheit sorgt.«

Mein Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Nell war ja vielleicht stark, aber sie war bloß eine einzelne Person. Äh, ein Zwerg.

»Außerdem ist da auch noch Trill…« Bei dieser Bemerkung sah ich Ryu entgeistert an. Ich mochte die Kelpie wirklich gern, und sie war eine tolle Schwimmpartnerin, aber im Ernst – jeder Angsthase war mutiger als sie.

»Ryu, wir setzen meinen Vater und alle meine menschlichen Freunde einer Riesengefahr aus…«

»Okay, gut. Ich werde Anyan anrufen. Bist du dann zufrieden? «

Ich blinzelte angesichts der Schärfe in seiner Stimme. »Ryu, hier geht es doch nicht darum, es mir recht zu machen, sondern darum, dass ich die Menschen, die mir lieb sind, schütze. Erst einmal gefällt es mir überhaupt nicht, dich hier allein zu lassen. Und ich will auch keinen feurigen Todesengel nach Rockabill locken. Also ja, ich würde mich tatsächlich besser fühlen, wenn ich wüsste, dass Nell Verstärkung hat, und ich wäre dir dankbar, wenn du Anyan anriefst, oder wen auch immer du für diesen Job für geeignet hältst.«

Ich merkte, dass Ryu noch immer nicht besonders erfreut darüber war, aber er bemühte sich um eine neutrale Miene.

»Ich weiß, Jane. Es tut mir leid, dass du da mit reingezogen worden bist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Con eine Möglichkeit hat, dich zu finden, sobald du aus Boston raus bist. Also solltest du dann in Sicherheit sein. Und bis dahin sorge ich dafür, dass du sicher bist. Ganz gleich wie.«

Ich ging zu ihm und schlang die Arme um seine Taille. »Ich weiß, Liebling. Es tut mir leid, dass wir unser gemeinsames Wochenende abkürzen müssen.«

»Nicht so leid wie mir, Babe«, sagte er, beugte sich zu mir herunter und küsste mich leidenschaftlich. Und ich wusste, dass er es so meinte. Es nervte, dass ich weg musste. Aber ich konnte Ryu nicht vorwerfen, dass wir angegriffen worden waren, und auch nicht, dass unsere gemeinsame Zeit so kurz war, das wäre ihm gegenüber unfair. Schließlich war ich nicht mit einem Buchhalter zusammen. Ich hatte gewusst, mit was Ryu seinen Lebensunterhalt verdient; verdammt, wir hatten uns überhaupt erst wegen Ryus Beruf kennengelernt, und ich hatte mit eigenen Augen und von Anfang an gesehen, dass es gefährlich war. Also konnte ich jetzt keine Kehrtwende machen und mir wünschen, er würde bloß Taxi fahren oder in irgendeinem Büro sitzen.

Also unterdrückte ich meine Enttäuschung und setzte ein glückliches Gesicht auf. Okay, in Wahrheit setzte ich mein lüsternes Gesicht auf, aber mit Ryu war das ja eigentlich so ziemlich dasselbe.

»Darauf würde ich nicht wetten«, säuselte ich. »Ich hatte mich so darauf gefreut, diese Sache auszuprobieren, von der Iris mir erzählt hat. Aber dafür bräuchten wir erst eine von diesen aufblasbaren Hüpfburgen, mindestens vier Meter Aluminiumleisten und jede Menge Rapsöl. Also würde es eine Weile dauern, bis wir das Material besorgt hätten …«

Ryus elegant geschwungene Augenbrauen hoben sich interessiert, und meine sowieso schon recht lebhafte Libido wurde in einer pawlowschen Reaktion darauf noch munterer.

»Komischerweise habe ich rein zufällig eine Hüpfburg in meinem zweiten Schlafzimmer«, sagte er. Ich quietschte, als er mich wie ein Feuerwehrmann über die Schulter warf. Er steuerte mit mir auf die Treppe zu, blieb dann aber stehen und ging zurück in die Küche. Er drehte sich um, so dass ich auf einen seiner Schränke schaute.

»Hast du wirklich eine Hüpfburg?«, keuchte ich, weil mein Zwerchfell von seiner Schulter gequetscht wurde.

»Nein, aber ich bin sicher, uns fällt etwas ein … du weißt ja, was man sagt, oder?«

»Nein, was denn?«

»Ein Paar, das zusammen hüpfen kann, bleibt auch zusammen. «

»Ist das wissenschaftlich belegt?«, fragte ich kichernd.

»Weiß nicht. Aber wir können ja einen Versuch anstellen. Und jetzt hol mal das Rapsöl aus dem Schrank, ja?«

Ich zwinkerte und streckte die Hand danach aus.

Wenn das Ryus Art von wissenschaftlichen Versuchen war, dann hatte ich absolut nichts dagegen, die Kontrollgruppe abzugeben.

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Also Linda Allen kommt mit ihrem Vater rein und benimmt sich total daneben«, sagte Tracy zu Grizzie, und ich bekam rote Backen.

Grizzie war mal wieder auf einem ihrer mysteriösen Ausflüge gewesen, als ich aus Boston zurückgekehrt war, und erst heute Morgen wiedergekommen. Also erzählte Tracy Griz, was sie verpasst hatte, während ich mir die Frage verkniff, wo zur Hölle sie gewesen war.

»Klar, wie immer … «, klinkte sich Grizzie ein und zwinkerte mir verschwörerisch zu, als sie sich mit ihrem Kaffee auf dem Platz neben mir niederließ. An diesem Tag gab es im Laden überhaupt keine Laufkundschaft, also saßen wir gegen drei alle um einen der Cafétische herum und machten ein kleines Caffè-Latte-Kränzchen.

»Linda ignoriert Jane einfach, obwohl ich gerade mit Kaffeekochen beschäftigt bin. Sie steht einfach da, klammert sich an ihr Buch und starrt über Janes Kopf hinweg, obwohl der arme Mr. Allen Linda anschaut, als wolle er sagen: ›Was soll denn das, verdammt?‹«

»Jane, völlig cool, streckt die Hand nach dem Buch aus und säuselt: ›Ich kann das übernehmen.‹ Aber Linda ignoriert sie weiter, bis es Mr. Allen reicht und er sie anblafft. Jane tippt also den Preis in die Kasse ein, und Linda macht mit ihrer dämlichen Prada-Tasche rum, mit der sie schon die ganze Zeit angibt, als hätte sie den Messias zur Welt gebracht und würde ihn darin herumtragen…«

Grizzie konnte sich einen bissigen Kommentar nicht verkneifen: »Wenn das Ding eine echte Prada ist, dann bin ich die gottverdammte Jungfrau Maria…«

Tracy lachte. »Warte, du stiehlst Jane die Show!«

»Tut mir leid, Passionsblume«, entschuldigte Grizzie sich bei ihrer Freundin. »Und sorry, Jane«, fügte sie hinzu und legte ihren Arm um mich.

»Sie wühlt also in diesem Monstrum von einer Tasche herum und sagt zu den Leuten hinter ihr – Zitat: ›Meine Prada ist einfach sooooo groß!‹« Grizzie schnaubte verächtlich, und ich konnte mir beim Anblick von Tracys Gesicht das Lachen nicht verkneifen.

»Logisch, dass Linda das sagt; sonst wäre sie ja auch nicht so eine Schnepfe«, murmelte Grizzie, worauf ich mich prompt an meinem Kaffee verschluckte. Tracy kam zur Pointe: »Irgendwann zieht sie endlich ihren Geldbeutel raus und bezahlt das Buch. Als sie ihren Krempel einpackt, sagt Jane ›Übrigens, Linda, die Leute bei Prada sind eigentlich nicht Mad in China‹ und zeigt auf das Label in der verdammten Tasche. Auf dem stand doch tatsächlich MAD IN CHINA. Ich wäre beinahe gestorben. Und dann setzt Jane zum Todesstoß an und sagt: ›Sie sind nämlich ganz zufrieden in Italien.‹«

»Ich wusste doch, dass das Ding bloß ein billiger Fake ist!«, jubelte Grizzie triumphierend und drückte mir einen Kuss auf die Wange.

»Das war echt toll! Ich hätte beinahe applaudiert.« Tracy seufzte zufrieden, bevor sie mir zunickte. »Und Jane lässt ihren Pony rauswachsen«, fügte sie hinzu.

Ich fing an nervös herumzurutschen, während Grizzie Tracy wissend angrinste.

»Unsere kleine Jane wird erwachsen«, sagte Grizz und reichte ihrer Freundin über den Tisch hinweg die Hände. »Als Nächstes ist sie wahrscheinlich schwanger und geht in Mutterschutz.«

Ich zeigte meinen besten Freundinnen zwei freundliche Mittelfinger und löste dann, weil mir die Aufmerksamkeit unangenehm war, nervös meinen Pferdeschwanz, um ihn fester zu binden. Erst als Grizzie zu fauchen begann, wurde mir klar, dass das ein Fehler war.

»Was zum Teufel hast du mit deinen Haaren gemacht?«, rief sie entsetzt. »Etwas davon… fehlt

Ich seufzte. Mein Körper mochte Conleths Attacke in Boston zwar unbeschadet überstanden haben, meine Frisur jedoch leider nicht. Das erste Mal, als ich mir nach dem Übergriff die Haare gekämmt hatte, war mir aufgefallen, dass die Bürstenstriche hinten irgendwie kürzer ausfielen. Ich musste es wirklich in Ordnung bringen lassen, aber ich hatte Angst, dass ein Friseur einfach alles abschneiden würde, und ich hatte immer lange Haare gehabt.

Allerdings hatte ich jetzt eine Art umgekehrten Vokuhila. Außerdem erinnerte mich meine Frisur ständig an die schreckliche Woche, die hinter mir lag. In der ersten Zeit zurück in Rockabill hatte ich jede Minute am Tag furchtbare Angst, dass mich auf der Arbeit die Nachricht erreichte, mein Vater sei verbrannt worden, oder ich zu Hause einen Anruf bekäme, dass Grizzie und Tracy in ihren Betten abgefackelt worden waren. Ich war zwar auch nicht scharf drauf, selbst attackiert zu werden, aber noch mehr Sorgen machte ich mir um meine Familie und meine Freunde.

Nell war jedoch ständig präsent gewesen. Sie war an den unwahrscheinlichsten Orten aufgetaucht, hatte mir mit ihren kleinen Wurstfingerchen zugewinkt und mir versichert, dass sie alles im Griff hatte. Und Ryu hatte, nachdem er Anyan nicht erreichen konnte, Daoud und Caleb damit beauftragt, mich nach Rockabill zu begleiten. Ich hatte sie als alte Collegefreunde vorgestellt, und sie hatten ein wahres Aurafeuerwerk veranstaltet, damit Dad Calebs Ziegenhälfte nicht sehen konnte. Dann waren sie sofort dazu übergegangen, mit meinem Vater Poker zu spielen, und seither unterbrachen sie das Spiel nur, um hin und wieder zu schlafen oder etwas zu essen. Glücklicherweise spielten sie nur um Pfennigbeträge, ansonsten wären die beiden Übernatürlichen mittlerweile finanziell ruiniert. Sie hatten wohl angenommen, mit einem einfachen Menschen könnten sie schnelles Geld machen, bis mein Vater, der Pokergott, sie fast bei jeder Runde besiegte.

Glücklicherweise hatte bisher nicht einmal eine kleine Rauchfahne darauf hingewiesen, dass Conleth auch nur ahnte, wer ich war oder wo ich lebte. Er war eindeutig noch in Boston, wo er allerdings Ryu, Stefan und ihre Mitarbeiter aufs Geratewohl angreifen konnte, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab. Aber er schien abgelenkt zu sein oder zumindest nicht ganz so wild entschlossen, alle umzubringen, wie bei seinem ersten Rundumschlag. Was mich darüber nachdenken ließ, ob er nicht bloß versucht hatte, nach Hause zu kommen, und es einfach nur in der einzigen superverqueren, gewalttätigen Art angepackt hatte, die er eben kannte.

Caleb und Daoud sollten planmäßig noch ein paar Tage bleiben, und ich fühlte mich langsam endlich wieder sicher. Obwohl ich Ryu noch immer mehr als ungern allein mit einem mordlüsternen Halbling zurückgelassen hatte, hatte ich allmählich das Gefühl, dass wir das Richtige getan hatten. Ryu musste sich keine Sorgen um mich machen, ich musste nicht wegen Conleth beunruhigt sein, und so »normalisierte« sich unser Leben langsam wieder. Für mich hieß das Training, für Ryu Bösewichte aufspüren.

Und für Grizzie bedeutete es, wegen meiner Haare total auszuflippen.

»Ernsthaft, was hast du damit angestellt? Sieht irgendwie aus wie verbrannt. Es sieht… richtig scheiße aus!«

»Grizzie!«, schimpfte Tracy.

»Was denn?«, wehrte sich meine ach so ehrliche Freundin. »Stimmt doch. Ich meine, schau sie dir an!«

Ich vergrub mein Gesicht in den Händen, und Grizzie nahm eine der kürzeren Strähnen aus meinem Nacken und hielt sie hoch, damit Tracy sie besser sehen konnte.

Selbst Tracy war sprachlos.

»Wir bringen das jetzt sofort in Ordnung, Fräulein«, drohte Grizzie entschlossen.

»Griz, nein bitte… ich werd’s einfach rauswachsen lassen«, jammerte ich panisch.

»Bloß nicht! Das kannst du nicht einfach rauswachsen lassen. Es sieht grauenvoll aus.«

»Ich weiß, aber ein Friseur schneidet bestimmt einfach alles ab, und ich will keine kurzen Haare! Also werde ich es einfach rauswa…«

»Papperlapapp!«, schnauzte Grizzie und griff nach ihrem Handy. Als ich weiter protestieren wollte, brachte sie mich mit einem strengen Blick zum Schweigen – und mit einem Tritt vors Schienbein.

»Salim?«, gurrte sie in den Hörer. »Ich weiß, das ist jetzt etwas kurzfristig, aber ich habe hier einen Notfall. Und ich meine einen echten N-O-T-Fall. Biblischen Ausmaßes … Nein, nicht ich. Eine Freundin … Gott sei Dank! … Ich weiß, aber ich warne dich, sie sieht absolut kacktastisch aus… Wenn ich sie so in einer Stunde vorbeibringe, kannst du eines deiner Wunder bewirken? … Alles klar, bis gleich… Mmah!«, beendete sie das Telefongespräch mit einem Schmatzer in den Hörer.

»Jane, hol deine Jacke! Wir müssen sofort los, damit wir rechtzeitig in Eastport sind«, drängte Grizzie und sprang wie von der Tarantel gestochen auf.

Ich warf ihr einen störrischen Blick zu. »Ich will nicht, dass man mir die Haare absäbelt!«

»Salim wird nichts absäbeln, sondern diese Katastrophe in Ordnung bringen. Er ist ein Genie! Und du siehst aus wie aus einer Irrenanstalt entflohen, Jane. Mehr noch als damals, als du wirklich in der Klapse warst.«

»Grizzie!«, zischte Tracy und warf mir einen entschuldigenden Blick zu. Aber ich kicherte bereits.

»Du bist so ein Miststück, Griz!« Dann erinnerte ich mich, dass ich noch einen Trumpf im Ärmel hatte. »Okay, gut«, sagte ich listig. »Ich gehe mit zu diesem Salim, wenn … du mir verrätst, wohin du immer gehst, wenn du verschwindest. « Ich nahm natürlich an, dass ich sie damit in der Hand hatte. Denn das war ihr größtes Geheimnis; die Sache, die niemand außer Tracy wusste. Sie würde sich nie einverstanden erklären, mir das zu sagen …

Grizzie beäugte mich abschätzig mit geschürzten Lippen. Tracy schien den Atem anzuhalten. Schließlich nickte Grizzie abrupt.

»Also gut, Jane, nach all den Jahren schulde ich dir die Wahrheit. Und ich hatte sowieso schon längst mit dir darüber reden wollen. So schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Also hol deine Jacke.«

Überrascht tat ich, was sie sagte, und ging hinter ihr her zum Auto. Ich konnte es nicht glauben, dass Grizzie mir endlich ihr größtes Geheimnis verraten würde. Die Frage war nur …

Würde ich mit der Wahrheit auch umgehen können?


Der haarige Mann beäugte mich lüstern, seine vollen Lippen verzogen sich zu etwas, das wohl ein verführerisches Lächeln sein sollte. Ich wich einen Schritt zurück.

»Salim, das ist Jane. Ihre Haare sind der Horror. Hilf ihr.«

Salim ließ seinen Blick genüsslich über Grizzie schweifen. Dann sah ich, wie er ihn noch über eine andere vorbeigehende Kundin schweifen ließ. Anschließend schweifte er auch noch über sein eigenes Bild im Spiegel, und bei dieser Gelegenheit zog er merklich seine Wampe ein. Erst dann ließ er sich dazu herab, uns wieder seine Aufmerksamkeit zu schenken.

»Darling, natürlich, ich helfe deiner kleinen Freundin.« Sein Blick glitt wieder über mich. »Oh ja, eine Stunde mit Salim, und sie wird eine echte Schönheit sein.«

Salims kehliger Akzent klang nach Wüstenhitze, süßem Tee, von samtäugigen Frauen eingeschenkt, und nach Sex. Tonnenweise irre scharfem Sex. Was kein Pappenstiel war, wenn man berücksichtigte, dass er keine zehn Zentimeter größer war als ich mit meinen nicht mal einen Meter sechzig und vermutlich genauso breit.

Ein Flokati an Brusthaaren quoll aus seinem halb aufgeknöpften Hemd. Am Hals gingen sie praktisch nahtlos in ziemlich lange Bartstoppeln über und sprangen dann sorgfältig frisiert in dicken, pechschwarzen Wellen aus seinem Kopf.

»Darling, deine Haar… es ist… etwas unglücklich. Aber Salim machen es schön. Kennst du Technik von Salim?«

Ich schüttelte unbeholfen den Kopf. Ich hatte nicht gewusst, dass da auch noch eine »Technik« mit im Spiel war.

»Erst schneiden ich dich nass. Dann schneiden ich dich trocken«, sagte Salim und blickte mir dabei tief in die Augen. »Bist du schon mal trocken geschnitten worden?«

Ich hatte keine Ahnung, was er meinte, aber ich hatte das ungute Gefühl, er sprach nicht bloß von Haaren. Ich antwortete mit einer zweideutigen, kreisenden »Vielleicht ein Nicken, vielleicht ein Schütteln«-Kopfbewegung.

Salim klatschte unvermittelt in die Hände, und ich zuckte erschrocken zusammen. »Heute schneiden ich dich trocken. ALFRED!«, brüllte er, was mich beinahe zu Tode erschreckte.

Ein großer Mann mit teigigem Gesicht schlurfte zu uns herüber, sichtlich verängstigt von dem haarigen Tyrannen, der vor mir stand.

»Alfred. Nimm Jane. Bereite sie für mich vor.«

Ich könnte schwören, dass Alfred sich tatsächlich verbeugte, bevor er sich mit einem freundlichen, wenn auch leicht geplagt wirkenden Lächeln zu mir wandte und mit einer Kopfbewegung auf eine Reihe von Waschbecken im hinteren Bereich des Salons wies. Ich folgte ihm, froh darüber, dass es sich bei meiner »Vorbereitung« bloß um eine Haarwäsche zu handeln schien. Denn zu diesem Zeitpunkt war ich mir nicht mehr sicher, ob Salim meinen Wunsch nach einem neuen Haarschnitt nicht vielleicht missverstanden hatte und mir stattdessen eine Kostprobe seiner speziellen sexuellen Belästigungsbehandlung angedeihen lassen wollte.

Vermutlich konnte ich mich glücklich schätzen, dass ich nicht zu einem Kosmetiktermin hier war.

Alfred ging mit seinen riesigen Händen unbeholfen, wenn auch behutsam ans Werk, und er schaffte es dabei, meinen ganzen Rücken nass zu machen. Da ich Angst hatte, Salim könnte Alfred vor meinen Augen schlagen, gelobte ich, das Geheimnis um meine feuchte Haut mit ins Grab zu nehmen. Schließlich wurde ich dorthin zurückgebracht, wo mich Salim hinter einem leeren Friseurstuhl stehend bereits erwartete. Grizzie, deren lilafarbener Catsuit sich eng an ihren chirurgisch perfektionierten Körper schmiegte, räkelte sich in dem Stuhl gleich daneben.

Als Alfred mich übergab, bellte Salim ihm etwas in einer fremden Sprache zu, und der große Mann hastete davon.

»Mein Cousin. Aus dem Libanon«, informierte Salim mich, während er mich auch schon in Plastik wickelte und anfing, wie wild meinen Stuhl hochzupumpen, indem sein dickes, kleines Beinchen sich so schnell auf und ab bewegte wie bei einem Kaninchen, das sich kratzt. »Er ist Idiot. Aber Familie … Hat er dich nass gemacht?«

»Nein«, erwiderte ich eifrig und achtete darauf, nicht zu erschaudern, während sich mein durchnässtes Oberteil gegen die Stuhllehne drückte.

»Gut. Nur ich darf hier nassmachen. Ha!«

Grizzie zuckte entschuldigend mit den Schultern, und Salim fing an, meinen Kopf von allen Seiten in Augenschein zu nehmen. Er beäugte meine Haare, stocherte hinein und zog daran herum. Grizzies und mein Blick trafen sich im Spiegel, und ich versuchte, sie daran zu erinnern, dass sie jetzt dran war. Sie grinste.

»Jane will mein Geheimnis wissen, Salim.«

Ich machte ein langes Gesicht, denn ich konnte nicht fassen, dass sogar Grizzies Friseur ihr Geheimnis kannte, während ich, eine ihrer besten Freundinnen, ahnungslos war. Aber offenbar stimmte es, was man über Friseure und Gynäkologen sagt, nämlich dass sie alles über ihre Kundinnen und Patientinnen wissen.

»Ha!«, bellte Salim wieder und begann wie wild mit beiden Händen meine rechte Kopfhälfte zu bearbeiten.

»Soll ich’s ihr sagen?«

»Hmm…« Der haarige, kleine Mann zuckte mit den Schultern und fing an, an meiner linken Kopfseite herumzufummeln.

»Wo soll ich anfangen?«

»Erst Geld … «, sagte er kryptisch, während er mit seinen Patschehändchen meine Haare auf beiden Seiten an meinen Kopf drückte und uns beide im Spiegel betrachtete, bevor er endlich von mir abließ und nach seiner Schere griff.

»Dann Sex!«, fuhr er fort, während er bedrohlich in der Luft herumfuchtelte.

»Dann Liebe!«, fügte er abschließend hinzu und machte sich über meinen Haarschopf her. Ich wäre beinahe in Ohnmacht gefallen.

Ströme, Sturzbäche, Fluten von Haar wirbelten um mich herum durch die Luft, und Grizzie begann zu erzählen.

»Das Geld ist tatsächlich ein guter Einstieg«, räumte sie ein. Offensichtlich bereitete sie sich darauf vor, weit auszuholen.

»Ich bin als keine der Frauen geboren worden, die du kennst, Jane. Weder als Grizzie noch als Dusty. Ich wurde als Amelia Vanderbilt Bathgate geboren. Amelia ist der Name meiner Großmutter mütterlicherseits und mein zweiter Vorname.«

Ich riss sprachlos die Augen auf, zum einen wegen dem, was Grizzie mir über ihre Herkunft erzählte, und zum anderen deshalb, weil ich buchstäblich in einem Meer aus meinen eigenen Haaren saß. Langsam begann ich zu fürchten, dass Salims »Trockenschneide-Technik« darin enden würde, dass er mir eine Glatze verpasste.

»Ja, diese Vanderbilts. Aber meine Bathgate-Verwandtschaft hielt sie insgeheim für vulgär. Für Neureiche eben, aber solche, die so reich auch wieder nicht waren. Immerhin sorgten die Bathgates für das »pur« in »Puritaner«. Sie standen am Steuer der May flower. Sie stellten die Kohle bereit, die die Gesichter der Boston Tea Party schwärzte. Die Tinte, mit der die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet wurde. Das Lampenöl, das Paul Revere auf seinem berühmten Ritt nach Lexington und Concorde den Weg leuchtete, wo er die Einwohner vor den herannahenden britischen Truppen warnte.«

Mir blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Ich hatte mit allen möglichen schockierenden Dingen aus Grizzies für gewöhnlich schockierendem Mundwerk gerechnet… aber ich war nicht darauf vorbereitet gewesen, zu erfahren, dass sie eine echte Tochter der Amerikanischen Revolution war.

Grizzie ignorierte meine erstaunte Reaktion und fuhr mit ihrer Erzählung fort. »Als die Bostoner Gesellschaft ihr zu wenig puritanisch wurde, zog meine Familie nach Chicago, um noch einmal von vorne zu beginnen, in einer Stadt, deren soziales Milieu sie noch per Handauslese bestimmen konnten. Das taten sie dann auch, und sie überwachten es mit eiserner Hand, bis die Stadt zu einer Größe anschwoll, die selbst sie nicht mehr kontrollieren konnten. Aber bis dahin waren die Bathgates praktisch Chicago. Zumindest hinter den Kulissen…«

»Wieso?«, fragte ich bloß. Was ich meinte war, wie war es dazu gekommen, dass sie dort wegging? Warum war sie weggegangen? Besonders, wo sie offenbar aus einer Familie stammte, die sowohl in der Bostoner Gesellschaft als auch in der Politik so bekannt war, dass selbst ich, die ich im letzten Winkel der Ostküste lebte, von ihr gehört hatte?

»Das ist ganz einfach, Jane. Als eine Bathgate geboren zu sein, ist nicht so toll, wie man vielleicht meinen würde. Ich wurde in eine Welt der Privilegien geboren. Und der totalen Unwissenheit. Versteh mich nicht falsch; ich war auf den besten Schulen, hatte die besten Privatlehrer und all das.« Grizzie grinste, doch es war ein Grinsen voller Sarkasmus und Bitterkeit. »Aber ich hielt alles für selbstverständlich. Ich habe die Art, wie ich erzogen wurde, nie hinterfragt – die Privilegien, die ich genoss – im Vergleich zu der Weise, wie andere Leute lebten. Wenn ich überhaupt über die Tatsache nachdachte, dass andere vielleicht weniger besitzen könnten als ich, dann ging es lediglich darum, festzustellen, ob sie da waren, um mich zu bedienen oder als meine Spielkameraden zu fungieren. ›Freunde‹ waren diejenigen, deren Eltern dieselbe Steuerklasse hatten wie meine. Alle anderen waren da, um etwas für mich zu tun.«

Schweißperlen bildeten sich auf Salims Stirn, während er um mich herumtänzelte und seine Wurstfinger durch die Luft sausten wie korpulente Kolibris.

»So lebte ich die ersten sechzehn Jahre meines Lebens«, fuhr Grizzie fort und schlug ihre langen Beine auf dem Friseurstuhl unter, damit sie den herumwirbelnden Derwisch nicht zum Stolpern brachte, der gerade dabei war, mich zu scheren wie ein Schaf.

»Wenn ich überhaupt darüber nachdachte, war ich fest davon überzeugt, dass ich all das verdient hatte, und Leute, die nicht so reich wie ich waren, hatten es meiner Meinung nach eben verdient, weniger zu haben. Wie nennt man das? Klassendiskriminierung? Und dann wären da noch der Rassismus, der Sexismus und die Homophobie. Ach ja, und die Heuchelei. Meinesgleichen fand es zwar von jeher völlig in Ordnung, Analsex mit mittellosen, schwarzen oder hispanischen, schwulen Liebhabern zu haben, aber wehe einer hätte sich geoutet oder offen gesagt, er unterstütze Antidiskriminierungsmaßnahmen, oder hätte auch nur angedeutet, dass auch Leute mit weniger privilegiertem Hintergrund vielleicht, ganz vielleicht, Zugang zu den Möglichkeiten verdient hätten, die wir hatten, weil wir nun mal mit dem Silberlöffel im Mund geboren wurden.«

»Und was passierte, als du sechzehn warst?«, fragte ich mit durch Salims Wampe gedämpfter Stimme, der sich über mich gebeugt hatte, um irgendetwas an meinem Hinterkopf zu machen, bei dem beängstigend viel Herumgeschnippel im Spiel war.

»Ich verliebte mich in ein Mädchen. Was, wie du dir sicher vorstellen kannst, beim Establishment ziemlich gut kam.«

»Ha!«, stieß Salim aus und wirbelte meinen Stuhl herum, um sich Grizzie zuwenden zu können. »Gut kam!«

Grizzie zielte mit einer imaginären Pistole auf ihn. »Wie auch immer, ich verliebte mich in ein Mädchen, das noch dazu bloß aus der Mittelklasse war. Ich weiß nicht, was in den Augen meiner Eltern schlimmer war.« Sie grinste. »Natürlich verboten sie uns den Umgang miteinander. Schickten mich in Therapie, um mich ›umzudrehen‹, denn in der Welt meiner Eltern geht es noch immer zu wie Mitte des 19. Jahrhunderts. Natürlich rebellierte ich dagegen, und schließlich taten meine Freundin und ich das, was alle jungen verliebten Paare tun würden, deren Liebe unter einem schlechten Stern steht. Wir räumten mein Bankkonto ab, stahlen meiner Mom einen Haufen Schmuck und brannten durch.«

Es hielt mich buchstäblich kaum noch auf dem Stuhl, zum Teil, weil mich Grizzies Geschichte so fesselte, aber auch weil mein Körper hochgezogen wurde, als mein Haar versuchte, sich dem libanesischen Wahnsinnigen zu entziehen, der sich daran vergriff. Ich starb fast vor Spannung, als Salim Grizzies Erzählung unterbrach, indem er den Föhn anschaltete. Ich erblasste, als mir klarwurde, dass nun der Part begann, bei dem ich »trocken geschnitten« wurde.

Als er schließlich fertig war, griff Salim zu einer anderen Schere und einem Kamm. Ich schloss die Augen. Aller Mut verließ mich.

»Und?«, quiekte ich auffordernd in Grizzies Richtung.

»Natürlich reichte das Geld, das uns erst so viel vorgekommen war, kaum ein halbes Jahr. Und dann ging meine Freundin zurück nach Hause. Ihre Mutter und ihr Vater hatten sich einer Elternorganisation zur Bekämpfung der Diskriminierung von Homosexuellen angeschlossen und angefangen, ihr Haus mit Regenbogenfähnchen zu schmücken. Als sie zurückkam, wurde sie mit offenen Armen empfangen. Aber immerhin hatte ich durch das Weglaufen die Welt kennengelernt, wie sie wirklich war. Ich hatte Angst, war noch viel zu jung und total überfordert. Aber um wieder nach Hause zurückzugehen, hätte ich mich vorher freiwillig einer Gehirnamputation unterziehen müssen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, in Kreise zurückzukehren, die an so hirnrissigen Vorstellungen festhielten. Mir war klargeworden, dass wir als soziale Schicht einfach nur das Geld in Umlauf hielten. Und ich wollte leben

Salims Bewegungen wurden langsamer, sein Geschnippel bedachter. Ich ahnte, dass er mit seinem Werk bald fertig war. Aber ich weigerte mich noch, die Augen zu öffnen. Falls ich gleich feststellen musste, dass ich aussah wie Vin Diesel, könnte ich theatralisch in Tränen ausbrechen, um ihm damit wenigstens ein paar Schuldgefühle abzuringen.

»Also machte ich, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, allerhand verrückte Sachen. Du weißt ja, womit das endete: mit Dusty Nethers, die gegen Geld unsäglich pikante, sittenlose Akte vollzog. Es gibt Millionen von Sachen, von denen ich mir heute wünsche, ich hätte sie anders gemacht, und Tausende, die ich bereue. Aber mit Amelias Welt gebrochen zu haben, habe ich nie bereut. Niemals. Auch wenn ich manchmal als »Amelia« dorthin zurückkehre, um meinen Treuhandfond zu kontrollieren oder dem Bauch, der Amelia geboren hat, die Ehre zu erweisen.«

»Bist du denn nicht verstoßen worden, Grizzie? Deine Familie kann doch unmöglich akzeptiert haben, wer du jetzt bist, ganz zu schweigen davon, wer du warst.«

Grizzie lachte bitter. »Zunächst musst du verstehen, dass meine frühere Welt nur auf Schein beruht und von lauter Arschkriechern am Laufen gehalten wird. Wer also würde meiner Mutter da eine Wahrheit sagen, die sie nicht hören will? Sie würde den Überbringer der Nachricht mit dem größten Vergnügen erschießen. Und was mein Verschwinden betrifft, da will sie nicht mehr wissen, als ich ihr eben verrate. Also akzeptiert sie meine Lügen über irgendwelche Abschlüsse in Paris oder Freiwilligendienst in Afrika und stellt keine weiteren Fragen. Außerdem bin ich als Amelia eine völlig andere Person. Eine Person, die nicht einmal du erkennen würdest, nehme ich an, Jane. Ich bezweifle, dass es viele Leute gibt, die überhaupt eine Verbindung zwischen Dusty und Amelia erkennen würden. Und auch wenn ich überglücklich wäre, wenn meine Mutter Grizelda Montague und ihre liebende Frau, Tracy, kennenlernen würde, so weiß ich doch, dass das niemals passieren wird. Jedenfalls bin ich froh, dass Dusty ad acta gelegt wurde. Von ›Crystal‹ oder ›Tyler‹ möchte ich gar nicht reden; die waren ein einziges Desaster. Aber jetzt kann ich die meiste Zeit über einfach ich sein: Grizzie.«

Ich schlug die Augen auf und bemerkte, dass ich noch immer ihr zugewandt dasaß. Sie lächelte mich an, und für eine winzige Sekunde sah ich all die Frauen, die in Grizzie zu einem komplexen Gewebe aus Erfahrungen verwoben waren. Dann lösten sie sich wieder zu der Frau auf, die ich kannte, die sich in einem Friseurstuhl räkelte, genau wusste, wo sie hingehörte und tiefe Zufriedenheit ausstrahlte. Ich musste die Tränen unterdrücken.

Okay, ich gebe zu, es war teilweise auch deshalb, weil ich einen Blick auf die Berge von schwarzem Haar erhaschte, die sich am Boden um meinen Stuhl herum häuften.

»Wie?«, fragte ich und versuchte die drohende Gefahr, die von einem Blick in den Spiegel ausging, auszublenden. »Wie hast du Grizzie kennengelernt?«

Meine Freundin lächelte. »Nichts leichter als das. Wir haben uns einfach gefunden. Ich lernte sie kennen, als es mir ziemlich schlecht ging. Ich befand mich in einem ›schlechten Umfeld‹, wie es im Talkshow-Jargon heißen würde. Ich wollte wirklich raus aus der Branche, wusste aber nicht wie. Ich wollte auf keinen Fall wieder als ›Amelia‹ leben, aber alle meine anderen Identitätskonstrukte waren beinahe genauso katastrophal, bloß auf andere Art. Dann traf ich Tracy. Und sie hat mich gesehen. Ich meine, so wie ich wirklich bin. Ich weiß, das klingt jetzt total kitschig, aber es ist die Wahrheit.« Grizzie wurde rot. »Ich schaute in ihre Augen, und da war ich.«

Ich hatte gerade zu einer Frage angesetzt, da hob Salim meinen Kopf, glotzte mich an und grunzte zufrieden. Er wirbelte meinen Stuhl zum Spiegel herum und drückte mir einen weiteren Spiegel in die Hand, damit ich mich von allen Seiten betrachten konnte.

Ich schnappte überrascht nach Luft, ehrfürchtig. Mein Haar sah toll aus. Es war noch immer lang, fiel mir bis über die Schultern, aber die verbrannte Stelle wurde nun durch den raffinierten Schnitt getarnt. Salim hatte es sogar geschafft, dass sich mein fast herausgewachsener Pony gut einfügte, so dass mein Haar makellos, gesund und schön aussah. Wenn ich nicht verdammt genau gewusst hätte, dass er mich als Reaktion darauf sofort vernascht hätte, wäre ich meinem perversen kleinen Retter aus Dank um den Hals gefallen.

»Salim«, hauchte ich. »Es ist wundervoll.«

Er grunzte. »Natürlich!«, rief er. »Hattest du etwa Zweifel daran? Salim ist ein Genie!« Er wischte sich mit einem Taschentuch aus lilafarbener Seide über die Stirn. »Ich bin erschöpft. Wie wäre es mit einer Abkühlung?«, erkundigte er sich und wackelte mit seinen sonderbaren und einmalig beeindruckenden Augenbrauen.

»Nichts leichter als das«, mischte Grizzie sich ein, faltete ihren langen Körper auseinander und stellte sich hinter mich, um an meiner neuen Frisur herumzuspielen. Unsere Blicke trafen sich im Spiegel.

»Jetzt reden wir über dich. Und Ryu.«

Ich wurde blass und ließ den Spiegel in den Schoß sinken.

»Keine Sorge, meine Liebe. Du weißt, dass ich keine Ratschläge erteile«, sagte sie ernst. »Ich habe genug Fehler für vierhundert Frauen begangen und kein Recht, anderen vorzuschreiben, wie sie ihr Leben zu leben haben.« Nachdenklich hielt sie inne. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme mild. Zögerlich. Als wäre sie sich nicht sicher, wie ich reagieren würde. »Du sagst zwar immer, dass die Sache mit Ryu kompliziert ist. Aber ich weiß, dass du ihn wirklich gern hast. Und ich weiß auch, dass du Zeit brauchst, um dir über den ganzen Mist klarzuwerden, insbesondere nach Jasons Tod und allem, was du durchgemacht hast. Aber ich will nicht, dass du Angst vor dem Risiko hast. Wenn es die Sache wert ist… wenn die Person, die du in seinen Augen siehst, diejenige ist, die du sehen möchtest, die Person, von der du weißt, dass du sie sein willst … dann hab keine Angst. Das ist alles.« Sie zerrte fester an meinen Haaren, wie um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen.

Ich dachte über ihre Worte nach. Ich spürte, dass es ein guter Rat war, auch wenn ich nicht genau wusste, wie ich ihn verstehen sollte. Ich war zwar schon weit gekommen, seit jener Nacht in der kleinen Bucht vor einigen Monaten, als ich meinen Frieden mit Jasons Tod gemacht hatte. Aber ich wusste auch, dass er davon nicht wieder lebendig wurde. Grizzie hatte außerdem ins Schwarze getroffen, als sie mich auf die Tatsache hinwies, dass meine Antwort auf Fragen nach Ryu immer »Es ist kompliziert« lautete. Das klang sehr nach einem Beziehungsstatus auf Facebook. Aber unsere Beziehung war nun mal verdammt kompliziert …

»Bist du okay?«, fragte sie und zupfte erneut an einer meiner dicken Haarsträhnen.

»Ja, Griz. Bin ich. Ich denke nur drüber nach, was du gesagt hast. Und es ergibt wirklich Sinn. Danke.« Ich lehnte den Kopf gegen ihren Bauch, und unsere Blicke trafen sich. »Und danke, dass du mir dein Geheimnis verraten hast. Bei mir ist es sicher.«

»Das weiß ich, Süße. Und gern geschehen.« Sie beugte sich zu mir hinunter und küsste mich auf die Stirn. Ich schloss die Augen, dankbar für Grizzies Freundschaft und das Vertrauen, das sie gerade in mich gesetzt hatte. Sie hielt ihre Lippen noch ein paar Sekunden lang auf meine Stirn gepresst, bevor sie die Geste noch auf typische Grizzie-Manier abrundete, indem sie mir, als sie sich aufrichtete, mit der Zunge über die Stirn fuhr. Ich schüttelte mich kichernd.

»Iiih, Griz!«

Sie lachte und klatschte mit Salim ab. »Heulsuse! Lass uns lieber los, damit wir im Stall mit deiner neuen Frisur angeben können, du heißes kleines Luder…«

Ich rieb mir mit dem Ärmel noch immer lachend die feuchte Stirn trocken, als Grizzie mich auch schon vom Stuhl hochzog. Ich bezahlte Salim, der mir glücklicherweise den »Grizzie-Rabatt« gab, denn die Preise auf der Tabelle hinter ihm waren völlig absurd. Dann zogen Griz und ich los. Es war eine schöne Nacht in Eastport: Die Sonne war eine Stunde zuvor untergegangen, aber den Himmel über uns überzogen noch immer glänzend saphirblaue Streifen. Das Meer lockte mich, und ich versprach ihm in Gedanken, dass ich später noch auf ein nächtliches Bad vorbeischauen würde. Ich stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Meine Familie war in Sicherheit; meine Freunde ebenfalls; ich trainierte fleißig, und meine übernatürlichen Kräfte wuchsen. Die Welt war in Ordnung und meine Haare waren es jetzt auch.

Was könnte sich ein Mädchen noch wünschen?

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Am nächsten Tag ging ich nach der Arbeit wie gewöhnlich zu Nell zum Trainieren. Caleb und Daoud waren bei meinem Vater. Da sie am nächsten Tag abreisen würden, waren sie wild entschlossen, noch so viele Pokerrunden wie möglich zu absolvieren, in der Hoffnung, ihre Verluste wettzumachen und ihren verletzten Stolz wiederherzustellen.

Trotz der Bedrohung durch Conleth hatten Nell und ich unsere täglichen Trainingseinheiten nicht ausgesetzt. In der ersten Woche, als die Gefahr noch überall lauern konnte, hatten wir hauptsächlich daran gearbeitet, meine Schilde zu verbessern. Aber nun, da wir uns wieder etwas beruhigt hatten, waren wir dazu übergegangen, gezielt an meiner Aura zu arbeiten. Leider hatte ich feststellen müssen, dass ich eine Niete darin war, eine Aura zu schaffen. Mein Gehirn war einfach nicht in der Lage, die Verbindung zwischen dem Hervorbringen eines Bildes und seiner Projektion herzustellen. Nell meinte, das läge daran, dass ich eher physikalischen statt magischen Gesetzen folgte, aber ich hatte keinen blassen Schimmer, was zum Teufel sie damit meinte.

Dementsprechend wäre es nicht verwunderlich gewesen, wenn ich keine große Lust auf das Training gehabt hätte, doch im Gegenteil, ich freute mich sehr darauf, zu Nells Blockhütte zu kommen. Ich hatte noch einen Kaffee geschlürft, bevor ich den Laden verließ, und machte mir deshalb schon auf dem Weg zu Nell beinahe in die Hosen. Die Zwergin müsste mich kurz in ihr Haus lassen oder mit den Konsequenzen leben.

Ich eilte also durch die Abenddämmerung die holprige Auffahrt hinauf und spurtete schnurstracks auf die Blockhütte zu. Als ich die Eingangstreppe erklomm, bemerkte ich, dass die Tür offen stand, obwohl die Fliegengittertür geschlossen war. Nell ließ eigentlich nie die Türen offen, also versuchte ich gar nicht erst einzutreten, sondern ging wie sonst auch über die um das ganze Haus verlaufende Veranda zur Hintertür. Seltsamerweise war auch sie offen.

»Hallo? Nell?«, rief ich und legte eine Hand auf die Klinke der Fliegengittertür, ohne sie jedoch herunterzudrücken. Ich konnte das Badezimmer sehen, das mich so dringend rief, aber nach den Ereignissen in Boston musste ich auf der Hut sein.

Ich spähte in das düstere Innere des Häuschens, bis ich jemanden zu erkennen glaubte: einen großen, menschlichen Schatten oben an der Wand der offenen Galerie, wo sich das einzige Schlafzimmer des Hauses befand. Ich wich von der Tür zurück und aktivierte umsichtig mein Schutzschild.

»Nell, bist du da?«, rief ich plötzlich nervös. »Alles okay mit dir?«

»Ganz ruhig, Jane. Ich bin’s«, ertönte eine knurrende Stimme, und der dunkle Schatten glitt die Stufen von der Galerie herunter und auf die Tür zu.

»Anyan!« Ich grinste, Erleichterung machte sich in mir breit. Ein riesiger Hund trottete auf die Veranda hinaus. Sein schwarzes, leicht rötlich schimmerndes Fell war genauso dicht und zottelig, wie ich es in Erinnerung hatte. Er wedelte mit dem Schwanz, und sein Maul, aus dem ihm die Zunge heraushing, war zu einem lustigen Hundegrinsen verzogen.

Anyan Barghest wohnte immer in Nells Häuschen, wenn er in der Gegend war, was aber nicht oft vorkam. Er schneite etwa alle drei Wochen herein, blieb ein oder zwei Tage und war dann wieder weg. Er hatte einmal ganz dort gelebt, aber nach den Ereignissen des letzten Novembers im Verbund war Anyan die meiste Zeit über im Einsatz.

Mit seiner breiten Schnauze stieß er die Fliegengittertür auf.

»Los, komm rein. Nell wird gleich hier sein.«

Ich ging hinein und sog begierig den köstlichen Duft von Zitronenwachs und Kardamom ein. Ich war eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen, aber es war alles beim Alten. Eine große Küche dominierte die halbe Hütte, großzügig ausgestattet mit einem prächtigen Wolf-Restaurantherd und einer ebenso beeindruckenden Sub-Zero-Gefrierkombi. In der restlichen Hälfte des Häuschens stand ein großer Tisch auf Böcken, an dem vermutlich bis zu zwanzig Leute Platz fanden, und eine Sitzecke voll mit bequemen, dick gepolsterten Möbeln aus abgewetztem, braunem Leder.

Ich zuckte zusammen, als Anyan mit seiner kalten Nase an meinen Fingern schnüffelte, und musste lachen, als er anschließend seinen Kopf unter meine Handfläche schob. Bereitwillig kraulte ich ihn hinter den samtigen, aufgestellten Ohren, deren Spitzen sich in etwa genau auf der Höhe meiner Brüste befanden. Ich mochte ja vielleicht eine kleine Frau sein, aber er war auch ein Riesenhund. Eine Sekunde zog ich in Erwägung, mich auf seinen Rücken zu schwingen und auf ihm zu reiten wie auf einem Pony. Aber dann überlegte ich es mir doch noch einmal anders.

»Wie lief es so bei dir?«, erkundigte er sich.

»Ach, ganz gut. Viel zu tun. Und bei dir?«

»Auch gut«, grollte er. »Viel los. Ich bin hergekommen, sobald ich Ryus Nachricht bekommen habe. Aber es scheint ja alles ruhig zu sein, oder?«

Ich nickte und kraulte ihn weiter von den Ohren abwärts, am kitzeligen Übergang seiner Lefzen zum Hals und am Unterkiefer.

»Es ist schön, zu Hause zu sein«, hechelte er und hielt genüsslich den Kopf schräg.

»Seit wann bist du schon hier?«, fragte ich in dem Moment, als ich offenbar einen besonders empfindsamen Punkt erreichte und er die Augen schloss und wohlig zu knurren begann. Er liebte es, gekrault zu werden.

»Erst vor ein paar Stunden. Ich habe ein wenig gedöst.«

Ich musste an den großen Schatten auf der Galerie denken. Den menschlichen Schatten.

»Oh«, sagte ich. Dann merkte ich, dass ich errötete und zog hastig die Hand zurück. Anyan war ein Barghest, ein Gestaltwandler wie meine Mutter. Nur dass er die Form eines Hundes und eines Menschen annehmen konnte. Und mit Hund meine ich den Höllenhund, dessen Ohren ich gerade noch gekrault hatte. Und mit dem Mann meine ich einen großen, sehr muskulösen, prächtig ausgestatteten Mann mit den Oberschenkeln eines Rugbyspielers, der mich locker über die Schulter werfen konnte. Das wusste ich, weil er genau das schon einmal getan hatte – wobei er splitterfasernackt war, weshalb ich einen guten Blick auf seinen Körper von der Taille abwärts erhaschen hatte können.

Wir hatten nie darüber gesprochen, was auf dem Verbundsgelände passiert war, und ich hatte mir damit beholfen, den Menschen Anyan und den Hund Anyan einfach komplett zu trennen. Was, wie ich genau wusste, falsch war, aber es war auch eine leicht aufrechtzuerhaltende Selbsttäuschung, da ich den Menschen Anyan sowieso nie zu Gesicht bekam. Ich hatte Anyan mit Fell kennengelernt und ihn seither auch nur so gesehen, mit Ausnahme des einen Mals, als er mir am Hof der Alfar das Leben rettete. Deshalb fiel es mir nicht schwer, zu vergessen, dass ein Mann in dem riesigen Welpen steckte, der gerne Frisbeescheiben apportierte und am Bauch gekrault wurde. Doch ab und an wurde ich an die Wahrheit erinnert, was die ganze Sache ausgesprochen bizarr machte.

»Alles okay?«, knurrte er und schaute mit seinen grauen Augen aufmerksam in meine schwarzen, bis er den Kopf schließlich wieder senkte und weiter an meinen Fingern schnüffelte. »Du wirkst müde.«

Ich lächelte. »Habe nur viel zu tun. Und im Übrigen hasse ich dieses ganze Aura-Training.«

Er lachte kehlig, ein raues Geräusch, das eigentlich barsch klang, was bei ihm aber nicht der Fall war. »Das mit der Aura ist auch schwer. Du wirst es schon schaffen.«

Ich seufzte. »Hoffentlich. Weil im Moment finde ich es echt tödlich.« Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz, der von meiner Blase ausging, und mich brutal an ihre Existenz erinnerte. »Aber ich muss jetzt mal dringend pinkeln. Äh, ich meine… mal für kleine Mädchen. Entschuldige mich.«

Beschämt watschelte ich, praktisch mit überkreuzten Beinen, davon. Ich legte noch schnell meine Kuriertasche auf der Granitarbeitsfläche in der Küche ab, bevor ich in Richtung Badezimmer hechtete.

Während ich mir die Hände wusch, bewunderte ich eine riesige Schmiedearbeit an der Wand hinter mir im Spiegel. Ich liebte all die Kunstobjekte, mit denen Nells Häuschen dekoriert war – die winzige Zwergin schien einen ziemlich guten Geschmack zu haben. Die meisten Kunstwerke stammten, so nahm ich zumindest an, von demselben Künstler, da viele davon eine einheitliche Verwendung von Farben erkennen ließen, sowie die Art und Weise, wie der Künstler die großen, wässrigen Augen malte, sehr charakteristisch war. Abgesehen davon folgten sie völlig verschiedenen Stilrichtungen. Die Werke erstreckten sich von klassischen Objekten bis hin zu richtig modernem Zeug, das fast schon an den Stil von japanischen Mangas erinnerte. Aber mein Lieblingsstück war dieses hier im Bad. Es war wie die schmiedeeiserne Variante einer Graphic Novel: voll mit seltsamen kleinen Karrikaturen, die wunderliche Dinge taten. Ich konnte keine der Figuren erkennen, aber so weit ich das sagen konnte, erzählte das Bild die Geschichte einer Gruppe von seltsamen Tieren und Menschen, die dabei war, eine andere Gruppe von Tieren und Menschen zu besiegen – durch List, manchmal im Kampf und manchmal anscheinend per Zufall. Das Bild war riesig und nahm die gesamte Wand ein, und mir gefiel, dass es eine Art künstlerisch wertvolle Variante von Klolektüre war.

Als ich im Bad fertig war, ging ich wieder zurück in die Küche. Dort grübelte ich gerade darüber, wie um alles in der Welt die winzige Nell all die riesigen Geräte bedienen konnte, als Anyan mir von der Veranda zurief, dass er und die Zwergin bereit seien.

Misstrauisch ging ich hinaus, voller Argwohn, Nell könnte mir eine ihrer beliebten Fallen stellen und mich hinterrücks mit ihren kleinen Magiekugeln angreifen. Doch sie zeigte sich von ihrer besten Seite, saß in ihrem kleinen Schaukelstuhl im Kegel des Verandalichts und unterhielt sich mit Anyan und Trill, während die letzten Reste der Abenddämmerung noch den schwarzen Nachthimmel durchzogen.

Als sie zu Ende geplaudert hatten, machten wir uns an die Arbeit. Und genau wie an den drei Tagen zuvor misslang mir wieder alles. Ich sah das, was ich tun wollte, zwar im Geiste vor mir, aber ich konnte es einfach nicht umsetzen. Ich versuchte mich unsichtbar zu machen, was die häufigste Art der Auraanwendung war. Dabei ging es nicht darum, tatsächlich unsichtbar zu werden, sondern ich musste mich vielmehr … »unbemerkbar« machen. Aber ganz gleich, wie oft ich es versuchte, ich blieb vollkommen bemerkbar, total sichtbar und wurde zunehmend ungehaltener.

»Mist! Mist, Mist, Mist!«, schimpfte ich schließlich, als ich wieder einmal spürte, dass die kleine Kraftblase, die ich in mir aufgebaut hatte, nur ein kleines Funkeln um mich herum bewirkte.

Nell seufzte. Sogar sie sah mittlerweile etwas angespannt aus. Die verdammte Zwergin trug sonst eigentlich ein unerschütterliches Lächeln im Gesicht, weshalb mir durchaus bewusst war, wie ungeschickt ich mich in der Sache mit der Aura anstellen musste, wenn sie die Geduld verlor.

Sie sah so aus, als würde sie mich gleich herunterputzen, als Anyan sich einmischte.

»Nell, dürfte ich?«

Die Zwergin nickte mit einem Blick, der ganz klar sagte: »Na dann, viel Glück, Trottel.«

»Setz dich hin, Jane«, sagte der große Hund. Also ließ ich mich im Schneidersitz nieder und war froh, mich ein wenig ausruhen zu können. Ich stand jetzt schon über eine Stunde herum, ohne auch nur den Ansatz einer Aura erschaffen zu haben.

Anyan kam zu mir und setzte sich neben mir auf die Hinterläufe, so nah, dass seine Pfoten meine Schienbeine berührten. Er richtete seinen intensiven Blick aus ausdrucksstarken grauen Augen auf mich, und ich starrte ihn wie gebannt an.

»Du konzentrierst dich zu sehr darauf, was du sehen möchtest. Aber hier geht es nicht ums Sehen, sondern um Wahrnehmung.«

Ich schob die Brauen zusammen, so dass sich eine steile Falte über meiner Nase bildete, doch bevor ich protestieren und erklären konnte, dass ich keinen Schimmer hatte, was er damit meinte, wies er mich an, die Augen zu schließen.

»… und halt sie geschlossen. Versuch gar nicht erst etwas zu sehen; denk nicht einmal ans Sehen. Öffne dich einfach, und versuch mich zu spüren. Mich und was ich mache.«

Also versuchte ich es, und ich spürte wirklich etwas. Anyans starke magische Kraft zog mich an, und ich konnte fühlen, was er tat. Mit geschlossenen Augenlidern war mein reflexartiges Vertrauen auf das Visuelle aufgehoben, und plötzlich ergab alles einen Sinn. Seine Magie erschuf keine Bilder, und ich versuchte nicht mehr, irgendeine Chamäleontechnik wie in dem Film Predator oder die verschwommene Silhouette von Kevin Bacon in Hollow Man zu imitieren, beides Filmbilder, die ich einfach nicht aus dem Kopf bekam, wenn ich mich bemühte, unsichtbar zu werden. Anyan versuchte überhaupt nicht wie irgendetwas auszusehen, stattdessen lenkte er bloß das Interesse von sich weg. Er errichtete eine Art Barriere wie einen Schutzschild, nur das es nicht der Verteidigung vor irgendwelchen Waffen galt. Stattdessen strahlte es einen entspannten Hauch von vagem Nichts aus.

Ich veränderte meine Kraft und versuchte, seine zu imitieren. Das war nicht so leicht, denn zu wissen, wie etwas geht, ist noch lange nicht das Gleiche, wie es zu tun. Aber schließlich fühlte ich es. Ich spürte, wie eine Kraft sich um mich legte und ganz beiläufig auf meinem Status als Nichts beharrte. Langsam öffnete ich die Augen und sah, dass der Barghest mich noch immer beobachtete. Er lächelte mit aus dem Maul hängender Zunge. Ich erwiderte sein Lächeln, und mein Herz war erfüllt von diesem heftigen Glücksgefühl, das einen überkommt, wenn einem eine schwierige Aufgabe endlich gelungen ist.

Anyan und ich waren so in diesen Moment vertieft, dass wir den ersten Schrei gar nicht wahrnahmen. Den zweiten jedoch hörten wir. Trills schmerzerfülltes Kreischen riss uns aus unserer Konzentration, und plötzlich wurde mir klar, dass sie brannte. Dann rollte sie am Boden, versuchte die Flammen zu ersticken, und über ihr schwebte Nell, knisternd vor Energie, wie eine dieser Kugeln mit statischer Energie aus einem Technikmuseum.

Anyan machte sich kampfbereit. Wir fuhren fast gleichzeitig unsere Schilde hoch und ließen sie nahtlos ineinander übergehen, so dass mein Wasser mit seiner Erde und seiner Luft verschmolz und eine Wand aus Elementarkräften entstand, die praktisch undurchdringlich war.

Was unser Glück war, denn einen Augenblick später rollte eine Feuerwalze über die Wiese auf uns zu, rot und wütend züngelnd, begleitet von einer so heftigen Druckwelle, dass ich sogar hinter unserem Superschild bei ihrem Ansturm ins Wanken geriet.

Ich knickte mit einem Knie ein, ging aber nicht ganz zu Boden, denn plötzlich war Anyan neben mir und stützte mich mit seiner kräftigen Schulter. Wir waren umzingelt von Flammen, die wir uns selbst mit unseren Schilden nur mit Mühe vom Leibe halten konnten. Noch waren wir unverletzt, aber das Feuer und die peitschende Energie waren einfach überall.

Erst jetzt konnte sich mein völlig überrumpeltes Gehirn einen Reim darauf machen, was gerade passiert war.

Ich hatte Boston zu meiner eigenen Sicherheit verlassen, aber alles, was ich damit anscheinend erreicht hatte, war, die Gefahr direkt nach Rockabill zu locken und zu den Menschen, die ich liebte.

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Genauso schnell, wie es über uns hereingebrochen war, hörte das Feuer auch wieder auf. Auf Anyans breiten Rücken gestützt, kam ich schwankend auf die Füße. Über der Trainingswiese hingen noch immer Rauchschwaden, einzelne Flammen loderten, und ein Brausen ging durch die Luft. Ich sah mich aufmerksam um, versuchte zu erkennen, ob Nell und Trill in Ordnung waren.

»Alles okay?«, rief der Barghest mir über das Tosen hinweg zu. Ich nickte nur.

»Kannst du Nell irgendwo sehen?«, fragte ich, doch dann beantwortete sich meine Frage ganz unvermittelt von selbst. Ein scharfer Wind blies von der Stelle herüber, wo die Zwergin über Trill schwebte. Er verdrängte den Rauch und machte alles auf der Wiese wieder klar erkennbar.

Ja, ich hatte schon unzählige Male gehört, dass Zwerge unerschütterlich waren, dass sie es in ihrem eigenen Territorium so ziemlich mit allem und jedem aufnehmen konnten, sogar mit Alfar. Aber, um ehrlich zu sein, hatte ich es nicht so recht geglaubt. Ich meine, mal ehrlich, Nell sah wirklich aus wie ein überdimensionaler Gartenzwerg. Mit ihren nur gut sechzig Zentimetern Körpergröße wirkte sie eher wie eine harmlose Miniaturoma.

Meine Güte, hatte ich vielleicht Unrecht damit gehabt, sie zu unterschätzen. Sie schwebte noch immer über Trill und verteidigte ihre Freundin mit Schilden, bei denen sogar die Konstrukteure von Fort Knox vor Neid erblassen würden, und war wie ein weiblicher Yoda. Nein, krasser: Nell erinnerte eher an Yoda auf Speed, nachdem er seine Kräfte sechs Monate gesammelt und außerdem mit einem echten Aggressionsbewältigungsproblem zu kämpfen hatte.

Ihre Haare, die sich aus dem Dutt gelöst hatten, peitschten in langen, grauen Ranken um sie herum, während Nell so viel Elementarenergie aus der Erde zog, dass ein Mini-Tornado aus Wind und purer Energie im Zentrum der Wiese wirbelte. Bloß dass aus diesem Tornado noch Lichtblitze schossen, die aus reiner Elementarkraft bestanden.

Ihre Zielscheibe stand am hinteren Rande des Feldes, das am weitesten von ihrem Häuschen entfernt war: eine flammende Feuersäule, die viel heller und kräftiger loderte als der Ifrit, den ich vor einigen Monaten getroffen hatte. Conleths – denn es konnte sich nur um den Halbling handeln – Feuer glühte so hell, dass es im Zentrum blau schimmerte. Trotzdem hielt ihn die Zwergin mehr als nur ein bisschen in Schach. Die beiden beschossen sich gegenseitig so schnell und so heftig mit ihren Zauberkräften, dass man glaubte, Zeuge eines Tennismatchs zwischen Serena und Venus Williams zu sein.

Nell ging es ganz offensichtlich gut, und sie war voll und ganz in der Lage, auf sich selbst aufzupassen, aber Trill lag zusammengekrümmt am Boden und rührte sich nicht.

»Trill ist verletzt!«, schrie ich und zeigte auf die reglose, kleine Gestalt.

Anyan ignorierte mich, seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Geschehen, das er knurrend und mit gesträubten Nackenhaaren verfolgte. Ich wusste, dass der einzige Grund, warum er nicht zum Angriff überging, der war, dass er mich beschützen wollte. Aber ich war, verdammt nochmal, nicht hilflos.

»Trill ist verletzt!«, rief ich erneut und zerrte den Barghest fest am Ohr. Er sah mich scharf an, ganz offensichtlich weniger erpicht auf Zerren als auf Kraulen am Ohr. »Wir müssen ihr helfen!« Er nickte und sah endlich zu Trills zusammengesunkenem Körper hinüber.

»Wenn sie uns durch ihre Schilde lässt«, rief er und bezog sich damit ganz klar auf Nell. »Halt dich an mir fest!«

Ich griff nach seinem Nackenfell, dort wo er ein Halsband tragen würde, wenn er ein normaler Hund wäre. Ich klammerte mich an ihn, als hinge mein Leben davon ab, und wir arbeiteten uns mühsam vorwärts, umtost von den wetteifernden Kräften der Zwergin und des Ifrit.

Am Rande von Nells mächtigem Schild mussten wir stehen bleiben. Nicht einmal ein Zauberpanzer hätte ihn überwinden können. Ich spürte, wie Anyan seine Kräfte sammelte und zu der magischen Entsprechung eines höflichen Klopfens gegen Nells Schild ansetzte.

»Wenn sie uns durchlässt, müssen sich unsere Kräfte lückenlos überschneiden«, befahl er. Ich nickte wissend – sonst könnte ein Angriffspunkt entstehen, den sich Conleth zunutze machen könnte.

Meinen Blick immer noch fest auf Trills reglose Gestalt gerichtet, wartete ich voller Ungeduld darauf, dass Nell uns durchließ. Schließlich öffneten sich ihre Schilde einen winzigen Spaltbreit. Anyan trieb einen Keil seiner eigenen Energie hinein und verband unsere kombinierte Kraft nahtlos mit der von Nell, so dass unser kleiner Schild aus Nells größerem herauszuwachsen schien. Es sah ein bisschen so aus, wie wenn sich zwei Kaugummiblasen verbinden.

Wir bewegten uns vorwärts, wobei die beiden Blasen nahtlos ineinander verschmolzen, bis wir ganz in Nells Kraftfeld verschwunden waren.

Hinter dem Schutzschild der Zwergin herrschte eine gespenstische Ruhe. Bloß Nells wütende Schreie hallten wider, denn zu meiner völligen Verblüffung schimpfte sie wie ein Rohrspatz. Ich habe selbst ein loses Mundwerk, doch Nell konnte ich bloß voller Ehrfurcht anstarren, angesichts der Kraftausdrücke, die aus ihrem Mund strömten.

Sie ließ sich gerade über Conleths sexuelle Neigung für Erdhörnchen aus, als Anyan meinen Namen bellte und mich daran erinnerte, warum wir hier waren.

Ich trat zu ihm, und beim Anblick von Trill erschauderte ich. Die Kelpie sah schlimm zugerichtet aus. Ihr kleiner Pferdekörper war über und über mit Brandblasen bedeckt und verkohlt. Erst nach einem Moment merkte ich, dass sie überhaupt noch atmete. Beim Anblick ihrer nässenden Brandwunden musste ich gegen eine Welle der Übelkeit ankämpfen. Doch ich kniete mich neben Anyan, der schon damit begonnen hatte, sie zu heilen.

Der Barghest hatte eine Energieblase um sie gebildet, die die Luft von ihren Wunden fernhielt und somit das Infektionsrisiko verminderte. Langsam und sorgfältig heilte er sie von innen. Ich übertrug ihm etwas von meiner eigenen Kraft, wobei ich diesmal allerdings genau auf den Ausstoß achtete. Anyan war so auf Trill konzentriert, dass er alle Kraft, die ich ihm gab, direkt weiter in sein kleines Infektionsschild fließen ließ, ohne Kommentar und ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein.

Ich hörte nicht auf, ihm Energie zuzuführen, doch ich wusste nicht, was ich mehr tun konnte. In ihrer derzeitigen Form hatte Trill keine Hand, die ich hätte halten können, und ich konnte auch keinen Fleck unversehrter Haut sehen, die ich hätte tröstend streicheln können. Es gab nichts, was ich tun konnte, um ihr zu helfen, außer Anyan meine Kraft zu übertragen.

Nell schwebte über uns und schrie noch immer Beleidigungen und Drohungen, während sie weiter Blitze auf Conleth schleuderte. Ich drehte mich etwas, um den Ifrit-Halbling besser sehen zu können, aber Anyan stand mir im Weg.

Ohne die Energieübertragung auf den Barghest abreißen zu lassen, ging ich um ihn herum und begab mich an den Rand von Nells Schild, von wo aus ich eine bessere Sicht hatte.

Conleth fing bereits an, unter Nells Attacken zu schwanken, und sein Feuer brannte schon weniger hell. So konnte ich endlich eine menschliche Form dahinter erkennen. Groß und schlank schien er allein auf Nell fixiert zu sein. Doch plötzlich erkannte ich zwischen all den Flammen Augen, überraschend blau, die von der Zwergin zu mir wanderten.

Während wir uns anstarrten, unterbrach der Halbling seine Angriffe. Es dauerte nur wenige Sekunden, aber sein intensiver Blick bereitete mir Gänsehaut. Zu meinem Erstaunen und Entsetzen streckte er die Hand nach mir aus, eine Geste, die … flehentlich wirkte.

Bevor ich reagieren konnte, hatte sich Nell die kurze Unaufmerksamkeit unseres Angreifers auch schon zunutze gemacht. Sie traf ihn mit zwei Energieblitzen aus beiden Händen wie mit einem doppelläufigen Gewehr – und er geriet ins Wanken. Er warf mir noch einen letzten forschenden Blick zu, während Nell bereits zum nächsten Schlag ausholte, und plötzlich war er von noch mehr Flammen umgeben als zuvor. Im nächsten Moment hob er ab wie eine gottverdammte Rakete. Im einen Moment war er noch hier gewesen, und im nächsten war er fort, schoss in hohem Bogen von der Wiese nach Gott weiß wohin.

»Sie mal einer an!«, fauchte Nell sichtlich beeindruckt.

Wir standen beide noch immer da und blinzelten vor Schreck, als Anyan nach Nell rief.

»Zwergin! Hier!«

Nell war sofort an Trills Seite und löste Anyan ab.

Ich stellte meine Kräfte nun nicht mehr Anyan, sondern Nell zur Verfügung. Der große Hund erhob sich und schüttelte sich.

Sein scharfer, eherner Blick traf mich. »Bleib bei Nell«, befahl er mir, bevor er sich an die Zwergin wandte.

»Beschütz sie«, knurrte er, und ich erschauderte.

Mit diesen Worten war der Barghest auch schon verschwunden, rannte davon, um dem grellen Flammenstreif zu folgen, den Conleth am Nachthimmel nach sich zog.

Ich erschauderte stärker, und erst jetzt wurde mir bewusst, wie erschöpft ich war, als ich mich ausgelaugt neben die fast geheilte Kelpie fallen ließ.

Dann kramte ich mein Handy aus der Tasche, um Caleb anzurufen.


Am nächsten Morgen um Punkt acht Uhr fuhr meine Mitfahrgelegenheit vor. Ich erkannte Calebs Geländewagen, als er in die Einfahrt bog und Daoud herauskletterte, um mich einzusammeln. Eigentlich hatte ich Ryu persönlich erwartet, aber deshalb würde ich mit Rücksicht auf mein Publikum kein Theater machen.

Ich drehte mich um, um meinem sehr verwirrten Vater ein letztes Mal Auf Wiedersehen zu sagen.

»Okay, Dad. Bis bald. Sobald ich kann. Ich weiß, das kommt jetzt aus heiterem Himmel, aber Ryu braucht bei etwas sehr Wichtigem dringend meine Hilfe. In der Zwischenzeit wird dir Schwester Ratched hier im Haus helfen. «

Nell hatte meine Worte mit sanftem Druck unterstützt, und ich hatte sie in geistiger Umnachtung gerade Schwester Ratched genannt. Glücklicherweise verstand sie die Anspielung auf die fiese Oberschwester aus Einer flog über das Kuckucksnest nicht. Denn am Tag zuvor hatte ich ja erfahren, dass sie mir leicht von hier aus bis nach Montreal in den Hintern treten könnte, ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten.

»Gut, Schatz. Ruf mich an, wenn du dort bist«, erwiderte mein Dad leicht benebelt. Der ganze Zauber, mit dem wir ihn im Laufe der letzten Woche belegt hatten, gefiel mir gar nicht, aber wir mussten ihn bei Laune halten, damit ich Conleth von ihm weg und aus Rockabill herauslocken konnte. Wir hatten meinen Vater auch für die Idee empfänglich machen müssen, eine zwergenhafte Leibwächterin zu haben. Idealerweise ohne dass er bemerkte, dass sie tatsächlich ein Zwerg war. Und eine Leibwächterin.

Also war für das Wohl meines Vaters gesorgt, und Amy vertrat mich im Buchladen. Nun, da der Valentinstag vorbei war, konnte auch Sarah aus dem Stall ein paar Schichten übernehmen. Und da war ja auch noch Miss Carol, obwohl mir bei dem Gedanken nicht ganz wohl war. Miss Carol, Nells Nichte, war eine unreife Zwergin mit einem Hang zu Ausschweifungen.

Für sie mussten wir immer Sonderbestellungen von Büchern machen, die so pikant waren, dass wir sie verpackt hinterm Ladentisch aufbewahren mussten. Miss Carol hatte auch immer angedeutet, dass sie gerne zum Spaß im Buchladen arbeiten würde, aber die Frau hatte ein ernsthaftes Diplomatieproblem. Sie sprach alles aus, was ihr in den Sinn kam. »Es ist doch bloß die Wahrheit«, sagte sie dann immer zu ihrer eigenen Verteidigung, und ich war es leid, ihr klarzumachen, dass die Wahrheit oft alles andere als nett war.

Ich hatte Grizzie und Tracy noch nicht Bescheid gesagt, da ich sie genauso gut während der siebeneinhalbstündigen Fahrt von Rockabill nach Boston anrufen konnte … und auch weil ich ein Feigling war. Wenigstens hatte ich meine Vertretung gut organisiert, weshalb ich mich nicht ganz so schlecht fühlte, weil ich Grizzie und Tracy zwei Wochen hintereinander im Stich ließ. Hinzu kam, dass es mir unterm Strich lieber gewesen wäre, wenn sie mich rauswarfen, als dass ich sie der Gefahr aussetzte, zu einem Aschehäufchen zu werden, falls Con mich im Laden angreifen würde.

Ich nahm meinen Vater noch einmal fest in den Arm, aber nicht zu lang, damit er sich keine Sorgen machte. Dann rollte ich Iris’ riesigen Koffer nach draußen und übergab ihn Daoud. Ich hatte ihn noch nicht einmal ausgepackt gehabt – lediglich die Schmutzwäsche und meine Kosmetik hatte ich herausgenommen –, weil ich anderweitig beschäftigt war. Und das meiste waren sowieso Geschenke von Iris, also hatte ich bloß noch ein paar praktischere Klamotten oben auf all die Unbrauchbarkeiten geworfen und es gut sein lassen.

Daoud verstaute meine Taschen, während ich auf den Rücksitz kletterte. Caleb lächelte mir vom Vordersitz aus zu.

»Hallo, Jane.«

»Hi, Caleb.«

»Ryu ist schon am Tatort. Wir bringen ihn nachher zu dir, und dann fahren wir alle gemeinsam nach Boston.«

»Okay«, sagte ich, nachdem Daoud ins Auto gestiegen war und wir uns auf den Weg zu Nell machten. Wir hatten alle eine lange Nacht hinter uns und verbrachten die Fahrt schweigend.

Als wir bei Nells Häuschen angekommen waren, parkte Ryus kleiner Flitzer bereits lässig vor der Eingangstreppe. Er befand sich mit Trill hinter dem Haus, wo er mit extrem angespanntem Gesichtsausdruck die Wiese absuchte. Die Kelpie sah fast aus wie immer, nur dass ihre Mähne ziemlich angekokelt war. Als ich auf die beiden zuging, machte sich pure Erleichterung in Ryus Gesicht breit. Er kam auf mich zugelaufen und drückte mich stürmisch an sich.

»Den Göttern sei Dank, du bist unverletzt, Baby«, murmelte er, während er mich festhielt. Aber ich achtete gar nicht auf ihn.

Denn über Ryus Schulter hinweg konnte ich die Überreste der früher grünen Wiese sehen. Bei Cons Angriff gestern war es bereits dunkel gewesen, und jetzt, da ich den ganzen Schaden bei Tageslicht sah, verlor ich fast die Fassung. Es war eine Sache, in Boston attackiert zu werden, aber das hier war Rockabill! Das hier war mein Zuhause. Und es war völlig verwüstet. Die Bäume am Rand der Wiese waren entwurzelt und teilweise verbrannt. Das ganze Gras war abgeflammt, und große Löcher waren in die Erde gerissen wie bei einem Hockeyspiel von Riesen. Ryu führte mich zur Hintertreppe der Blockhütte.

Er setzte mich behutsam auf eine der Stufen und hob mein Kinn, bis sich unsere Blicke trafen.

»Bist du okay, Baby?«

»Er ist dahin gekommen, wo ich lebe«, sagte ich empört. Ryu küsste mich und strich mir tröstend übers Haar.

»Tut mir leid«, murmelte ich schließlich. »Ich wusste einfach nicht … Scheiße, es war mir einfach nicht klar…«

»Ja, Con macht keine halben Sachen«, sagte Ryu trocken und streichelte mir mit dem Daumen über die Wange.

Ich erschauderte, als ich meinen Blick erneut über die verwüstete Wiese schweifen ließ.

»Es tut mir leid, Baby. Es tut mir so leid, dass das passiert ist.« Ryus Stimme hatte alle Härte verloren. Er klang sehr niedergeschlagen.

»Das ist doch nicht deine Schuld«, antwortete ich. »Ich kann mich glücklich schätzen, dass Conleth so dumm war, mich genau in diesem Moment anzugreifen. Wenn er zu mir nach Hause gekommen wäre oder in den Buchladen, wäre die Sache wohl anders verlaufen.«

Mit »anders« meinte ich, dass ich dann ziemlich tot gewesen wäre. Und mit mir höchstwahrscheinlich ein paar weitere menschliche Mitglieder der Gemeinde von Rockabill.

»Ja. Wahrscheinlich ist ihm vorher noch kein Zwerg untergekommen, also hat er geglaubt, er hätte leichtes Spiel. Den Göttern sei Dank, dass Nell hier war.«

»Und Anyan«, fügte ich nickend hinzu. »Er war es, der mich gerettet hat.«

Der Zug um Ryus Mund verhärtete sich. »Ja. Anyan. Wohin ist der überhaupt verschwunden?«

»Er ist hinter Con her«, erwiderte ich, lehnte mich auf den Stufen zurück und schloss erschöpft die Augen. »Okay, ich muss schwimmen gehen. Auftanken. Dann können wir los. Ist das okay?«

»Wir müssen nicht weg, Babe. Wir können hierbleiben, Conleth aus der Reserve locken und ihn hier bekämpfen. Wir werden dich schützen.«

Ungläubig blinzelte ich Ryu mit einem Auge an.

»Ist das dein Ernst? Bloß nicht. Verdammt, schau dir das hier doch mal an, Ryu! Ich bleibe nicht hier und bringe die Leute, die ich liebe, weiter in Gefahr. Was könnte ein Mensch schon gegen Conleth ausrichten? Selbst Iris hätte ihm keine zwei Minuten standhalten können, und sie hat wenigstens ein paar Kräfte zur Verfügung. Mann, wenn er auf Grizzie oder Tracy losgegangen wäre oder auf meinen Vater…« Bei dem Gedanken, was er meinen menschlichen Freunden und meiner Familie hätte antun können, wurde mir ganz übel, und es lief mir kalt den Rücken hinunter.

»Wir kehren nach Boston zurück«, beendete ich die Diskussion entschieden.

»Jane … «

»Nein, Ryu, wir fahren! Und wir kommen nicht hierher zurück, bevor Conleth dingfest gemacht wurde. Ich werde niemanden gefährden, indem ich hierbleibe.«

Ryu schwieg und sah mich mit vor Sorge tief gefurchter Stirn an, während er die Logistik durchdachte.

»Wahrscheinlich hast du Recht, Jane. Bei mir bist du am sichersten«, sagte Ryu nach einer Weile. »Und ich muss zugeben, dass mir der Gedanke gefällt, dass du wieder mit zu mir kommst. Obwohl ich es hasse, dass es wegen dieses Angriffs ist. Ich wollte nie, dass du in die Angelegenheit mit Conleth verwickelt wirst…«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß. Aber wie zum Teufel hat er mich bloß gefunden?«

»Nachdem du weg warst, haben wir auf der Suche nach Con die ganze Stadt auf den Kopf gestellt, und ein paarmal haben wir ihn sogar aufgespürt, aber er ist uns immer wieder entwischt. Und vor ein paar Tagen wollte Julian – er ist nicht nur unser mobiles Ladegerät, sondern auch unser hauseigener Technikfreak – neue Software auf meinem Rechner installieren und stellte fest, dass er kurz nach unserem Zusammenstoß im Park gehackt worden war. Ich benutze ihn nicht oft und nie beruflich, also gab es keinen Grund zur Panik. Verdammt, wir dachten, wir könnten es zu unserem Vorteil nutzen. Ihn in die Falle locken oder so.« Ryu fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, bevor er mich schuldbewusst ansah. »Aber er muss darüber einiges über dich herausgefunden und festgestellt haben, wer du bist. Über E-Mails und Bilder und das ganze Zeug.«

»Scheiße … er hat unsere E-Mails gelesen?«

Ryu nickte mit gerunzelter Stirn, es war ihm sichtlich unangenehm. Wenn Con meine E-Mails an Ryu gelesen hatte, dann wusste er so ziemlich alles über mich. Ryu und ich mailten uns viel, und ich hatte ihm alles über mein momentanes Leben erzählt. Mein ganzer Freundeskreis war gespalten: Die Menschen wussten nichts von den Übernatürlichen, und die Übernatürlichen interessierten sich nicht besonders für mein menschliches Leben. Iris schon, musste man fairerweise sagen, aber sie war so konfus. Nur Ryu überwand die Kluft zwischen meiner neuen übernatürlichen Existenz und meinem sehr viel weltlicheren Leben als normaler Mensch. Ich konnte Ryu sowohl vom Gesundheitszustand meines Vaters erzählen als auch von meinem Training mit Nell, und er schien an beidem gleich stark interessiert zu sein.

Ich fühlte mich verwundbar bei dem Wissen, dass Conleth so viel über mich wusste.

»Also«, sagte Ryu, »nehmen wir an, er kam hierher, weil er dachte, dass er über dich an mich herankommt, ohne zu ahnen, dass du so gut beschützt wirst. Aber dafür hat er einen ziemlich unangenehmen Empfang bereitet bekommen. Pech für ihn, dass wir nie erwähnt haben, dass in Nells winziger Zwergenhülle ein wahrer Terminator steckt.«

Mein Blick verfinsterte sich, als ich daran dachte, wie Conleth die Hand nach mir ausgestreckt hatte. Je mehr ich über die gestrigen Geschehnisse nachdachte, desto mehr Fragen taten sich auf. Doch Conleth hätte bloß von der anderen Seite der Wiese, näher beim Haus angreifen müssen, dann wäre er zuerst auf mich gestoßen, und ich wäre geliefert gewesen.

Ich wusste, dass Ryu Recht hatte: Con hatte nicht ahnen können, wie stark unser Zwerg war, und deshalb gedacht, er habe leichtes Spiel. Aber irgendetwas daran, wie sich die Dinge abgespielt hatten, und an seinem Blick, als er die Hand nach mir ausstreckte, ließ meine Haut vor Unbehagen kribbeln.

Rasch schob ich das Gefühl beiseite und stand auf. Ich war angewidert, müde und gestresst. Ich musste eine Runde schwimmen und brauchte etwas Ruhe, dann würde mir alles weniger unheilvoll und schrecklich vorkommen.

»Bring mich zum Meer, Ryu. Und dann nach Hause«, bat ich. »Zu dir nach Hause«, stellte ich klar, als er mich mit hochgezogener Augenbraue ansah. Im Moment musste seines herhalten, denn in meinem eigenen Zuhause war ich nicht mehr sicher. Ein Gedanke, der mich traurig stimmte, als Ryu mir den Arm um die Taille legte und mich von dem Schlachtfeld weg zu seinem Auto führte.

Wirklich sehr, sehr traurig.

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Ryus Zunge glitt über die kleinen Male an meinem Hand gelenk, während mein Orgasmus noch nachklang, und schickte damit ein letztes Zucken durch meinen Körper. Ich hatte auf ihm gesessen, doch nun zog er mich an seine Brust, nahm mich fest in die Arme, und ich kuschelte meinen Kopf unter sein Kinn.

»Himmel, es ist schön, dich hierzuhaben, Jane«, seufzte er und streichelte mir mit trägen Fingern den Rücken.

»Stets zu Diensten, mein Süßer«, sagte ich leicht affektiert und drückte ihm einen geräuschvollen Kuss auf den Hals. Der Teil von mir, der die ganze Zeit über Dinge nachgrübelte, die ihn eigentlich nichts angingen, fragte sich, ob er damit meine Gesellschaft oder meine Blutgruppe meinte. Für eine Sekunde zweifelte ich sogar daran, dass Ryu da überhaupt einen großen Unterschied machte. Doch schließlich schob ich diesen Gedanken energisch beiseite und stand auf, um duschen zu gehen.

Es war schon spät, etwa neun Uhr abends. Nachdem wir von Nells Hütte aufgebrochen waren, war ich kurz schwimmen gewesen, um meine Batterien aufzuladen, und dann waren wir direkt zurück nach Boston gefahren. Die Fahrt dauerte eigentlich siebeneinhalb Stunden, aber Ryu, die Rakete, schaffte die Strecke in sechs. Bei dem Gedanken daran zog mein Leben noch immer an mir vorbei.

Nachdem wir aufgeräumt hatten und ein schnelles Abendessen, bestehend aus Schinkensandwich und Bananen, zu uns genommen hatten, kamen Ryus Mitarbeiter, um die weitere Vorgehensweise zu besprechen.

Wir gingen ins Büro. Camille, Julian, Daoud, Caleb und Ryu drängten sich rund um den Tisch, auf dem eine Karte ausgebreitet war. Ich machte es mir in Ryus Schreibtischstuhl bequem, hörte der Diskussion aufmerksam zu und versuchte niemandem im Weg zu sein. Julian, den sein Status als Technikguru in den Mittelpunkt des Gesprächs zu rücken schien, teilte den anderen alles mit, was er aus den verschiedensten Quellen herausgefiltert hatte.

»Es gibt Berichte über ein Feuergefecht zwischen Conleth und Anyan vor vier Stunden in der Nähe von Lebanon in Vermont. Der Barghest hätte ihn beinahe geschafft, aber Con konnte entkommen. Und es sieht so aus, als hätten wir eine positive Identifikation von Conleth, vor einer knappen Stunde in Concorde in New Hampshire.« Ich seufzte vor Erleichterung bei Calebs Worten. Con bewegte sich also weg von Maine und Richtung Massachusetts. Ich war nicht begeistert über den zweiten Teil dieser Information, aber sehr glücklich über den ersten.

»Er kommt heim«, sagte Ryu. »Wir müssen vorbereitet sein. Hast du schon irgendwelche Fortschritte beim Aufspüren seiner Basis gemacht, Daoud?«

»Nein, da habe ich bis jetzt noch nichts. Zuerst dachten wir, er hätte sich vielleicht in einem Unterschlupf irgendwo in Jamaica Plain verkrochen, aber das hat sich als Sackgasse entpuppt.« Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Daoud Kaugummis herausholte und sie herumreichte. Ich hätte schwören können, dass er sie vorne aus seiner Hose gezogen hatte, aber wahrscheinlich fing ich schon an zu spinnen. Allerdings lehnten alle die angebotenen Kaugummis ab …

Ryu seufzte und raufte sich die Haare. »Die gute Nachricht ist, dass er nicht gerade unauffällig vorgeht, also werden wir es wissen, sobald er in der Stadt ist. Die schlechte Nachricht ist, dass er sich wahrscheinlich mit ein paar Toten ankündigen wird. Inzwischen sollten wir nochmal ganz zurück an den Anfang gehen. Es muss etwas geben, das uns entgangen ist, und in der Zwischenzeit ist dieses verdammte Labor der einzige Anhaltspunkt, den wir haben.«

Alle erhoben sich, also stand auch ich auf. Ich hasste es, mir das einzugestehen, aber ich hatte ein fast krankhaftes Interesse daran, den Ort zu sehen, an dem Conleth eingesperrt gewesen war. Alle schickten sich an, das Büro zu verlassen, und Caleb, ganz gentlemanlike, ließ mich mit einem höflichen Nicken vor.

Ich war gerade ins Wohnzimmer hinübergegangen, als ich Ryu sagen hörte: »Caleb, Julian, ihr kommt mit mir. Camille, Daoud, ihr bleibt hier mit Jane.«

Ich blieb abrupt stehen, so dass Caleb auf mich prallte. Nun ja, eher stieß er mit einem bestimmten seiner Körperteile mit mir zusammen. Lendenschurz, aber sofort!, dachte ich, während ich »Äh, Ryu … « stotterte. Ich drehte mich um und sah, dass der Vampir mich mit einem entschlossenen Zug um den Mund anstarrte.

»Liebling«, sagte er mit vorgetäuschter Geduld. »Ich weiß, du willst es nicht hören, aber du solltest besser hierbleiben. «

Ich trat zu meinem Freund. »Warum soll ich hierbleiben? Damit splittet ihr doch bloß eure Kräfte auf, was dumm ist. Außerdem kann ich euch vielleicht helfen.«

Ryus Lächeln wurde herablassend, was mich innerlich zum Kochen brachte.

»Liebling, sei doch mal realistisch. Wie könntest du uns schon helfen?«

Okay, wenn ich ehrlich war, war das keine völlig unberechtigte Frage. Aber es lag auch nicht daran, was Ryu sagte, sondern die Art und Weise, wie er es sagte. Als ob es das Verrückteste und Absurdeste wäre, was er je gehört hatte.

Mein bereits köchelndes Blut begann zu sieden, und es kostete mich einige Mühe, meine Stimme unter Kontrolle zu halten.

»Na ja, erstens bin ich ein Halbling. Vielleicht kann ich Conleth ein bisschen besser verstehen als du…«

Ryus herablassendes Lächeln breitete sich auf seine ganze Haltung aus, und er schnaubte sogar verächtlich.

Oh nein, du Mistkerl, dachte ich noch, als mir der Kragen platzte: »Zweitens, Liebling«, zischte ich mit zusammengebissenen Zähnen, »scheint es mir so, als könntest du Hilfe gebrauchen, nachdem du Conleth noch immer nicht erwischt hast. Vielleicht ist ein frisches Paar Augen genau das, was du jetzt brauchst. Und vielleicht solltest du mich nicht unterschätzen.«

Ryu kniff irritiert die Augen zusammen, was mich noch mehr aufbrachte.

»Jane, komm schon, wir müssen für deine Sicherheit sorgen. Mach es dir doch hier gemütlich, und bleib einfach zu Hause … «

Oh nein, das hat er jetzt nicht gesagt…

»Leider, Ryu«, sagte ich schnippisch, »ist das hier nicht mein Zuhause. Ich musste nämlich von daheim fortgehen, weil ich zur Zielscheibe wurde und das nur, weil ich dich besucht habe. Und jetzt habe ich mein Zuhause und meine Arbeit verlassen müssen, genauso wie meine Familie und meine Freunde, damit sie nicht von einem irren Feuerteufel abgemurkst werden, der mich nur dazu benutzen will, an dich heranzukommen. Also können wir bitte aufhören, so zu tun, als ginge mich das alles nichts an? Weil es mich verdammt nochmal jede Menge angeht!«

»Jane, jetzt sei nicht so selbstsüchtig. Ich muss mich konzentrieren. Da kann ich mir nicht die ganze Zeit Sorgen machen, dass dir etwas zustößt…«

»Selbstsüchtig?«, begehrte ich auf. »Ernsthaft? Wie kann es selbstsüchtig sein, dass ich dabei helfen will, den Kerl zu fassen, der mich zweimal beinahe abgefackelt hätte? Und ich kann auf mich allein aufpassen, Ryu. So unfähig bin ich auch wieder nicht.«

»Liebling, ich weiß, dass du kein Schwächling bist«, sagte er beschwichtigend, als wäre ich ein kleines Kind, das einen Trotzanfall hat, »aber Con ist sehr stark, und du bist einfach noch nicht so weit… also sei ein braves Mädchen und bleib hier.«

Mir blieb der Mund offen stehen, und aus dem Augenwinkel sah ich, wie Camille zusammenzuckte und Julian und Caleb den Kopf schüttelten. Daoud schlug die Hände vors Gesicht.

»Braves Mädchen?«, keuchte ich aufgebracht. »Braves Mädchen

Ryu starrte mich an und hatte ganz offensichtlich keinen Schimmer, warum ich plötzlich so sauer war.

»Alles klar, das war’s. Versuch mich zu treffen!«

Ryu blinzelte verständnislos.

»Ich meine es ernst, Blutsauger. Versuch mich zu treffen. «

»Jane, bitte. Ich werde dich nicht schlagen, Herrgott nochmal.«

»Ich meine ja auch nicht mit den Fäusten, Trottel. Mit deinen Kräften. Versuch mich zu treffen. Ich halte das aus. Versuch’s

Ryu verdrehte die Augen. »Das mache ich nicht.«

»Versuch’s!«, brüllte ich.

Ryu zuckte mit den Schultern, hob die Hand und warf widerwillig eine kleine Magiekugel nach mir. Es war die übersinnliche Version eines Federballs.

Meine Augen verengten sich, und ich starrte ihn an. Mir war klar, dass ich trotz allem, was ich in den sechsundzwanzig Jahren meines Lebens schon durchgemacht hatte, jung, klein und verletzlich wirkte. Mein ganzes Leben lang hatten mich Leute aufgrund dieser Tatsache unterschätzt, und es wäre auch etwas anderes gewesen, wenn Caleb, Daoud oder Camille mich nicht ernst genommen hätten. Aber mit ihnen vögelte ich auch nicht! Hier ging es um Ryu: den Mann, der immer wieder Panikattacken bei mir auslöste, nur weil er andeutete, er wolle, dass ich in seinem Leben eine größere Rolle spiele. Und dass ausgerechnet er mich wie ein kleines Kind behandelte, machte mich rasend.

Also tat ich, wovon man mir tausendmal abgeraten hatte, ich griff mit all der Wut, die sich in mir angesammelt hatte, ganz tief in meine Kräftekiste. Ich erzeugte eine Wand aus Schilden, die so stark war, dass es selbst mich überraschte, und ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Ich hatte noch nie bewusst eine Magiekugel gebildet, aber nun ließ ich all meine Kraft und meine Wut in gleich vier richtig üppige Magielichter fließen, die ich dann in hohem Bogen abfeuerte, so dass sie eine Lampe umstießen und Julian gezwungen war, aus dem Weg zu hechten. Dann ließ ich sie einen Moment lang ruhig in der Luft schweben. Ich schielte zu Ryu hinüber und hoffte, er merkte nicht, dass ich von der Wucht meiner Vorführung genauso schockiert war wie er.

»Wenn du mich jemals wieder als dir unebenbürtig behandelst, Ryu Baobhan Sith, dann kannst du dir eine andere Freundin suchen! Ich werde dir bei den Ermittlungen in diesem Fall helfen. Ich mag ja vielleicht im Angriff noch nicht allzu viel taugen, aber verteidigen kann ich mich sehr wohl.«

Und damit ließ ich die mit Kraft gefüllten Magiekugeln wieder zu mir zurückfliegen. Eine streifte Ryus Ohr, und er fluchte, bevor er die Hand an die getroffene Stelle legte und sich selbst heilte. Als die Lichter auf meine Schilde trafen, verpufften sie ganz harmlos. Dann ließ ich meine Abwehr fallen und starrte Ryu herausfordernd an.

»Na gut, Jane«, sagte er sichtlich verärgert. »Ich habe keine Zeit für Spielchen. Aber bitte sei wenigstens so vernünftig und bleib immer in der Nähe von einem von uns.«

Mit diesen Worten marschierte er zur Tür. Ich erlaubte mir ein kleines, triumphierendes Lächeln, doch dann bekam ich eine Art Schwächeanfall und spürte, wie meine Knie nachgaben. Sofort war Julian an meiner Seite, stützte mich am Ellenbogen, schirmte mich dabei aber mit seinem Körper ab, damit es niemand sonst merkte.

Er grinste mich an, und ich spürte, wie pure Wasserelementarenergie in mich strömte.

»Gut gebrüllt, Löwe«, sagte er offenbar begeistert von dem, was er gerade gesehen hatte. »Das hat gerockt!«

Ich versuchte mich darüber zu freuen, aber ich war noch immer wütend, dass ich überhaupt so eine Szene hatte machen müssen. Mit einem Nicken zu Julians Hand an meinem Ellenbogen sagte ich: »Ja, und danke fürs Aufladen.«

»Kein Problem. Allein all ihre Gesichter zu sehen, als du das gemacht hast, war spitze! Ich habe es so satt, dass alle immer annehmen, Halblinge wären schwach.«

»Na ja, ich glaube, ich habe ein bisschen überreagiert«, räumte ich ein.

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Es war goldrichtig. In unserer Gemeinschaft muss man sich beweisen. Und Stärke ist das Einzige, was respektiert wird. Du musst bloß versuchen, dich nicht von deinen Gefühlen überrumpeln zu lassen und zu viel Saft zu verbrauchen.«

Ich nickte niedergeschlagen. Verdammte Gefühle … Manchmal beneidete ich die Alfar um ihre übernatürliche Gelassenheit. Nicht zuletzt, wenn sich mein Freund wie ein totaler Schwachkopf verhielt.

»Sind die Ladys dann soweit?«, ätzte Ryu von der Haustür her und warf Julian einen bissigen Blick zu. Mein Mithalbling ließ meinen Ellenbogen los und wandte sich zu den anderen um.

»Ja, Chef«, erwiderte er, während ich es mir verkniff, Ryu den Mittelfinger zu zeigen.

Als wir dann draußen zum Auto gingen, fragte ich mich, ob ich gerade einen Vorgeschmack auf den »wahren« Ryu bekommen hatte.

Ein etwas ungutes Gefühl breitete sich in mir aus, als mir klarwurde, wie viel mehr ich meine Fantasie von ihm mochte.


Caleb parkte den Geländewagen in einer ruhigen Seitenstraße, die von leicht schäbigen Apartementhäusern gesäumt wurde. Allerlei Familienkram – halb platte Fußbälle, klapprige Picknicktische, knallbuntes Plastikspielzeug und dergleichen – häufte sich wie Strandgut auf dem Rasen der Vorgärten. Es schien mir ein seltsamer Ort für ein geheimes Labor zur Erforschung des Übersinnlichen zu sein, was ich den anderen auch mitteilte.

»Gute Tarnung, billige Mieten … «, meinte Ryu schulterzuckend. Es waren die ersten Worte, die er an mich richtete, seit wir das Haus verlassen hatten, und er wich noch immer meinem Blick aus. »Wer weiß, warum sie sich diesen Ort hier ausgesucht haben.«

An der Ecke warteten Camille und Julian bereits unter einer Straßenlaterne auf uns. Zusammen gingen wir auf Conleths früheres Gefängnis zu. Das Gebäude war groß und vermutlich einmal recht imposant gewesen. Aber das war schwer zu sagen, so zerstört wie es jetzt war. Ein Flügel der Glastür war eingeschlagen, der andere war noch intakt. Daran prangte ein Schild: Familien im Fokus: Spezialisten für künstliche Befruchtung (In-vitro, GIFT - UND ZiFt-Methode).

Ich starrte auf das Schild, und meine Augen verengten sich, während mein Hirn anfing, alle möglichen Verbindungen herzustellen. »Das Labor war eine Reproduktionsklinik? «

»Nun ja, es arbeitete zumindest unter einem solchen Deckmantel«, sagte Ryu. »Und anscheinend wurden hier nebenbei auch wirklich künstliche Befruchtungen vorgenommen. «

Ich sah ihn eindringlich an, ein Blick, dem er schließlich nicht mehr ausweichen konnte.

Er zuckte erneut mit den Schultern, wohl wissend, dass ich eine Verbindung unterstellte zwischen dem offiziell angegebenen Zweck der Klinik, Conleths Identität als Halbling und den Zeugungsproblemen, mit denen die Gemeinschaft der Übernatürlichen sich konfrontiert sah.

Wie man mir erklärt hatte, war es im Wesentlichen so, dass die übernatürlichen Wesen Probleme hatten, miteinander Nachwuchs zu bekommen. Es war zwar im Prinzip machbar, aber es verlangte ihnen enorme Konzentration und Kraftressourcen ab. Ich hatte meine eigenen Theorien darüber, warum diese Probleme existierten, auch wenn ich sie bisher für mich behalten hatte. Ich wusste, dass uns der Kontakt mit übernatürlichen Kräften eigentlich gesund hielt und mehr oder minder unsterblich machte. Seit ich mit meinem Training begonnen hatte, hatte ich keine Erkältung und auch keinen Kater mehr gehabt, nicht einmal einen Pickel. Was großartig war, aber ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass die reinigenden Eigenschaften unserer Kräfte auch etwas mit den übernatürlichen Zeugungsproblemen zu tun hatten.

In Gedanken versunken folgte ich den anderen, die nacheinander das Gebäude betraten. Als ich an der Reihe war, hielt Ryu mich zurück. Er nahm mich behutsam bei der Taille und hob mich vorsichtig über das zersplitterte Glas, das noch immer am Boden lag. Als er mich wieder absetzte, küsste er mich auf die Stirn, was sein Versuch war, den Streit zwischen uns beizulegen. Nach einem Moment des Zögerns drückte ich meine Stirn an seine Lippen und erwiderte so die Geste.

Die Frontseite des Gebäudes war nicht allzu zerstört, wenn man bedenkt, was hier passiert war. Abgesehen von der zerbrochenen Eingangstür und den Schäden, die durch das Löschwasser entstanden waren, hatte der Eingangsbereich wohl nicht die ganze Wucht von Conleths Attacke abbekommen. Die einzigen beträchtlichen Schäden, die auf Conleth zurückzuführen waren, betrafen die Türen, die zu den restlichen Räumlichkeiten des Labors führten. Sie waren von der Explosion komplett aus den Angeln gerissen worden. Und das, was wohl einmal der Empfang gewesen war, sah nun aus, als sei es einem überdimensionalen Lötkolben in die Quere gekommen.

»Die Sekretärin hat die erste Attacke überlebt, weil sie sich verstecken konnte, aber Conleth fackelte das Empfangspult, bevor er die Flucht antrat, trotzdem ab, als wolle er ihr Angst einjagen. Und ein paar Tage später machte er sie dann ausfindig – und tötete sie und ihren Freund.« Ryu blätterte in einer Akte und bellte Daoud gleichzeitig einen Befehl zu. Der Mann mit der Habichtnase trat vor, und diesmal bildete ich mir nichts ein: Daoud griff vorne in seine engen schwarzen Jeans und holte eine große Taschenlampe heraus. Er reichte sie Ryu, der ihm dankend zunickte. Dann zog Daoud noch drei weitere Taschenlampen vorne aus seiner Hose: Eine gab er Caleb, eine klemmte er sich selbst unter den Arm, und eine reichte er mir. Ich nahm sie entgegen, ohne nachzudenken, zu verblüfft, um anders zu reagieren, bis mir langsam ins Bewusstsein drang, wo die Lampe herkam, und ich meinen Ärmel über die Hand zog. Ich schüttelte den Kopf und wollte Ryu gerade fragen, warum Daoud einen Gemischtwarenladen in der Hose hatte, als ich wieder an den Grund unserer Anwesenheit erinnert wurde, weil Ryu mir zwei Fotos unter die Nase hielt: Eines zeigte ein junges Pärchen, das lächelnd hinter einem Geburtstagskuchen saß, und das andere zwei verkohlte Leichen. Die Empfangssekretärin und ihr Freund, erinnerte mich mein Gehirn, während mein Körper mit einer Welle der Übelkeit darauf reagierte. Ich befahl meinem Magen energisch, sich zu beruhigen, und mit einem bockigen Grummeln gehorchte er.

Wir drangen durch die explodierte Tür weiter ins Gebäude vor, in die dahinterliegenden Bereiche des Labors. Dort, wo sich die Türrahmen befunden hatten, erwarteten uns dicke Stalaktiten aus geschmolzenem Stahl. Die daraus resultierenden Formen à la Dalí zeugten nicht nur von Conleths enormer Kraft, sondern auch davon, dass dieses Labor ein wahres Gefängnis gewesen sein musste. Als wir weiter in den hinteren Bereich der Anlage vordrangen, nahmen die Schäden zu, genauso wie laut der Akte die Zahl der Leichen. Die vorderen Räume waren offenbar noch weitgehend frei von Toten gewesen, abgesehen vom Schwesternzimmer, das aufgebrochen worden war. Auf dem Foto, das Ryu mir gezeigt hatte, hatten die beiden »Krankenschwestern«, die in diesem Raum umgekommen waren, eher wie die Art von Türstehern ausgesehen, die sogar für einen Job in einer Bikerbar zu brutal wären. Auf dem »Nachher-Bild« waren beide dann geröstet wie heiße Maroni.

Auf den obersten beiden Ebenen des Gebäudekomplexes hatte das Feuer beinahe alles bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Das Dach fehlte komplett, die Wände bröckelten, und alles war schwarz von Ruß. Der Geruch war abscheulich: Asche und Rauch vermischt mit dem Gestank von Zerfall und Verwesung. Ich bemühte mich, durch den Mund zu atmen.

Die Mehrheit der Menschen, die in jener Nacht getötet wurden, war in diesen letzten paar Räumen gestorben. An dem Abend, als Conleth entkam, hatten zwei »Mediziner« Dienst, obwohl ich mich fragte, welcher Arzt sich an einem solchen Experiment beteiligen würde. Beide hatten dank ihres Versuchskaninchens den Löffel abgegeben. Neben den beiden Schwestern, die in ihrem Pausenraum ermordet wurden, starben noch zwei weitere direkt vor dem Raum, in dem Conleth festgehalten worden war. Wie die anderen zwei Krankenschwestern waren auch diese beiden massig und unansehnlich und mit Sicherheit keine Menschen, denen ich die Aufgabe anvertrauen würde, Katheter oder Infusionen zu legen.

»Conleths Motiv für die Morde an seinen Krankenschwestern und Ärzten ist klar; sie waren seine Wärter, seine Peiniger, seine Feinde. Und anhand der Fundorte der Leichen – die Wissenschaftler verschanzt im Klo, die Schwestern in ihrem Pausenraum – lässt sich sagen, dass er mit einer klaren Tötungsabsicht hinter ihnen her war. Das Gleiche gilt wohl auch für die Morde an dem Hausmeister und dem Parkwächter.«

Ich starrte auf die Fotos in Ryus Hand. Ich konnte verstehen, dass Conleth sich den Weg aus seinem Gefängnis freigesprengt hatte. Sogar seinen Wunsch nach Vergeltung konnte ich verstehen. Ich hatte keine Träne vergossen, als Ryu mir erzählte, dass er Jimmu getötet hatte, der so viele auf dem Gewissen hatte und gern auch noch für Ryus und meinen Tod verantwortlich gewesen wäre, wenn er die Gelegenheit dazu bekommen hätte. Aber Rachegelüste, die so stark waren, dass sie Conleth dazu trieben, sogar jemanden zu töten, der sich versteckte, der nur schwer zu erwischen war, ungeachtet der Tatsache, dass er sich selbst noch nicht befreit hatte … das wollte mir nicht in den Kopf.

Wir traten durch eine letzte zerstörte Tür. Sie befand sich am hintersten Ende des Komplexes, dort wo, so nahmen Ryu und die anderen an, Conleth gefangen gehalten worden war. Aber dort war es so rußig, dass ich nichts von dem Raum erkennen konnte. Alles, was sich mir dort offenbarte, war ein weiterer Beweis für Conleths Stärke und Wut.

»Wir finden die Leute immer zu spät. Sie geraten erst in den Fokus der Ermittlungen, wenn sie schon tot sind. Und dann sind sie natürlich für Befragungen nicht von Nutzen. Es gelingt uns einfach nicht, dieses Labor in einen größeren Zusammenhang zu bringen, obwohl es natürlich irgendwer finanziert haben muss. Aber es ist, als hätte es diesen Ort überhaupt nicht gegeben. Verdammt, ich würde selbst an seiner Existenz zweifeln, wenn wir nicht gerade mittendrin stehen würden.«

»Habt ihr denn überhaupt keine Anhaltspunkte?«, fragte ich.

Ryu grunzte. »Wir haben nur eine richtige Spur. Es hat einen wissenschaftlichen Leiter gegeben, Dr. Silver, der alle Rechnungen abzeichnete und auch schon die Verantwortung trug, als es in der Klinik noch mit rechten Dingen zuging. Vor zwei Jahren ist er entlassen worden, allerdings sind die Gründe dafür nicht bekannt. Glücklicherweise war Silver auf Reisen, als es zu den Übergriffen kam. Er muss die Bedrohung erkannt haben und in Deckung gegangen sein. Seither hat man nichts mehr von ihm gesehen oder gehört. Julian hat eine Spur von ihm aufgetan, die durch Europa führte, aber gleich darauf haben wir sie wieder verloren, noch bevor wir ein Team mobilisieren konnten, um ihn aufzugreifen. Seither ist er vermisst. Wir müssen davon ausgehen, dass Conleth ihn bereits erwischt hat.«

»Also habt ihr rein gar nichts«, sagte ich in einem Anflug brutaler Ehrlichkeit.

»Ja, so sieht’s aus«, gab Ryu zu und starrte auf die Fotos in seiner Hand, als würde er sie am liebsten in Stücke reißen. Ich rückte näher an ihn heran, wollte ihn beschwichtigen, obwohl ich zugegebenermaßen noch ein bisschen sauer auf ihn war. Also legte ich ihm einfach nur die Hand an die Taille.

»Du wirst ihn kriegen, Ryu«, sagte ich. »Ich weiß, dass du ihn kriegen wirst.«

»Danke, Baby.« Zögerlich beugte er sich zu mir und küsste mich. Er ließ seine Lippen auf meinen verweilen, als er merkte, dass ich nicht auswich. »Ich bin froh, dass du hier bist. Das sollte ich zwar nicht, aber ich bin es.« Er fluchte leise, klappte die Akte zu und schob sie sich unter den Arm. Dann wandte er sich mir zu, legte mir den anderen Arm um die Hüfte und zog mich an sich.

»Jane … «, setzte er an, »ich weiß, es ist egoistisch von mir, aber du fehlst mir. Mehr als dir klar zu sein scheint. Dich hierzuhaben, ist wie…«

Aber bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, wurde die stinkende Luft um uns herum aufgewirbelt. Von allen Seiten des Raums aus sprangen Ryus Leute in Position. Sie scharten sich um uns, und Camille stellte sich schützend vor ihren Sohn, schirmte ihn mit ihrem eigenen Körper ab, selbst als Julian sich Daoud und Caleb anschloss, die Ryus Flanken vor mir gebildet hatten.

Zwei dunkle Gestalten schossen im Sturzflug auf uns herab, verborgen aus den Schatten, die der von den Lichtern der Stadt durchschnittene Nachthimmel warf. Kraftvolle Schwingen wirbelten Schmutz und Ruß auf und schleuderten sie uns ins Gesicht. Ryu und ich fuhren unsere Schilde hoch, aber erst nachdem ich gehörig Staub ins Gesicht bekommen hatte. Blinzelnd und mit tränenden Augen verfolgte ich die Landung der beiden dunklen Gestalten. Krallen trafen laut kratzend auf verkohlten Beton, als zwei Paar braun-grau-gefleckter Beine dumpf auf dem Boden aufsetzten. Als sich meine Sicht wieder geklärt hatte, hatte ich einen besseren Blick auf unsere plötzlichen Besucher. Von den Oberschenkeln abwärts hatte die Haut der Wesen die knotige Beschaffenheit von Vogelbeinen, aber das seltsame grau-braune Fleisch wechselte weiter oben in den Farbton von normaler, menschlicher Haut über, die den restlichen Körper bedeckte. Abgesehen von ihren Armen, die zu beeindruckenden, eleganten Schwingen verlängert waren. Sie waren über und über mit Federn bedeckt, die von dunklem Braun am Kiel in helles Grau an den Spitzen übergingen. Sie trugen keine Kleidung, waren aber so schlank, dass sie fast geschlechtslos wirkten. Nur das Fehlen von männlichen Geschlechtsteilen verriet, dass die Wesen weiblich waren. Über ihren kleinen, spitzen Nasen spähten zwei unheimliche, pechschwarze Augenpaare mit der Konzentration von Raubvögeln auf der Suche nach Beute. Ich erschauderte, als mich ihre glänzenden Augen von oben bis unten musterten.

»Kaya. Kaori«, sagte Ryu steif, als er sie erkannte. »Was verschafft uns die Ehre?«

»Deine eigene Unfähigkeit, Ermittler«, ertönte eine kalte Stimme hinter mir.

Ryu und Daoud fuhren herum, Ryu zog mich blitzschnell hinter sich. Caleb blieb in Position, um weiter ein Auge auf die Vogelfrauen zu haben und uns Rückendeckung zu geben.

Vor uns stand eine winzige Frau – so klein wie ich – mit olivfarbener Haut und Glatze. Wenn sie nicht komplett in schwarzes Leder gekleidet gewesen wäre und Dutzende von nicht zu übersehenden Waffen getragen hätte, hätte man sie für ein Kind aus einer Werbung einer Krebsstiftung halten können. Sie hatte dunkle Ringe unter ihren übergroßen Augen und starrte Ryu mit einer kalten Intensität an, die mich erschaudern ließ. Alfar, flüsterte mein Hirn, als ich ihre seltsame Ruhe bemerkte und die Kraft, die ich selbst in diesem Augenblick um sie knistern spüren konnte. Sie trat vor, aus dem zerstörten Türrahmen heraus, der sie teilweise verdeckt hatte. Zwei weitere Wesen folgten ihr.

Eines war ganz offensichtlich ein Spriggan. Er war riesig, überragte Caleb deutlich, und seine graue Haut spannte sich über Muskeln, die so eindrucksvoll waren, dass selbst die Bodybuilder von Venice Beach sofort nach Hause gegangen wären, um sich lieber Bastelarbeiten zu widmen. Aber ansonsten hatte er genau die gleiche Aura wie die »Krankenschwestern«, die Conleth bewacht hatten. Er strahlte in gleichem Maße Einfalt, Bösartigkeit und Brutalität aus.

Das zweite Wesen, das in der Tür hinter der winzigen Frau auftauchte, überraschte mich. Es sah aus wie ein Engel, ein Apoll. Ein eleganter Körper mit langen, muskulösen Gliedmaßen wurde abgerundet von einem perfekt symmetrischen Gesicht, in dem auf ideale Weise engelhafte und männliche Züge verschmolzen. Große blaue Augen blinzelten in die Dunkelheit, und weiche, goldene Locken krönten sein perfektes Antlitz. Ryus Hand umfasste meine, einen Augenblick bevor der wunderschöne Mann seinen Blick von Camille löste, die er eindeutig mit den Augen ausgezogen hatte, und sich mir zuwandte.

Eine Welle von betörendem Elbencharme prallte gegen meinen Schild, aber es fühlte sich irgendwie anders an. Statt der aufregenden Mischung aus Lust und der Verheißung puren Genusses, an die ich mich, seit ich Iris kannte, schon gewöhnt hatte, machte dieses Wesen ein Versprechen von gänzlich dunklerer Natur. Es verhieß etwas, das auf Schmerz basierte, auf Grausamkeit, auf Körper, die bis an den Rand des Erträglichen gebracht und dann darüber gestoßen werden. Es lief mir kalt den Rücken hinunter, als der Blick aus schönen blauen Augen an meinen Brüsten hängenblieb und das Wesen anzüglich grinste.

Ein Fiesling und ein Tittenglotzer obendrein, dachte ich. Tolle Kombination …

»Phädra.« Ryu sagte den Namen, als würde er ausspucken. »In letzter Zeit bist du aber in interessanter Gesellschaft. « Er wandte sich an den Tittenglotzer: »Ich habe gar nicht gewusst, dass du wieder draußen bist, Graeme.«

Der schöne, blonde Mann riss seinen Blick von meinen Brüsten los und grinste Ryu an, der ihn kühl musterte.

»War alles nur ein Missverständnis, Ryu. Nichts weiter. Du weißt ja, wie empfindlich die Menschen sind. Ich wollte das Mädchen nicht verletzen, und ich habe bestimmt nichts getan, was sie nicht wollte.« Die Augen des Elben hefteten sich wieder auf meinen Vorbau. »Sie stand auf Schmerz … ich habe ihr nur netterweise den Gefallen getan.«

Ich erblasste, als ich eins und eins zusammengezählt hatte und mir klarwurde, dass er wohl eine der Ausnahmen war, die von den Alfar trotz übler Vergehen nicht hingerichtet wurden. Und das bedeutete, dass er von jemand Mächtigem geschützt wurde.

»Und die anderen?«, fragte Ryu wütend.

»Welche anderen?«, erwiderte der Elb mit einer Stimme, die so leicht und unschuldig klang wie geschlagene Sahne. Doch die Augen, die er auf mich richtete, drohten mir etwas an, das so grausam war, dass sich meine Finger krampfartig um Ryus Hand klammerten.

»Es reicht«, befahl die Alfar namens Phädra und setzte dem Ego-Streit zwischen Ryu und dem Vergewaltigerelben damit ein Ende. »Du stehst noch immer ganz am Anfang, Ryu, und das bedeutet, du hast dich verzettelt. Doch es sind Monate vergangen, seit dir diese Ermittlung übertragen wurde. Und trotzdem hast du bisher kaum etwas erreicht.«

Die kleine Frau kam näher, begleitet vom Quietschen ihrer Ledermontur und dem Klirren ihrer Waffen. Sie ging um unsere kleine Gruppe herum und gesellte sich zu den beiden Vogelfrauen. Graeme und der Spriggan folgten.

»Harpyien, Sturmdämonen«, flüsterte Daoud mir ins Ohr.

Meine Augen weiteten sich; sie waren ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. »Kaya und Kaori. Der Spriggan ist Fugwat, ein brutaler Kerl. Und Graeme solltest du um jeden Preis meiden…«

»Schweig, Dschinn«, befahl Phädra. »Sprich nicht in meiner Gegenwart, außer dir wurde die Erlaubnis dazu erteilt. «

Daoud biss die Zähne zusammen, straffte sich und starrte die Alfar an.

Ein Dschinn, dachte ich. Plötzlich ergab das Füllhorn in seiner Leistengegend Sinn. Vor Monaten hatte ich einen anderen Dschinn namens Wally beobachtet, wie er eine Reihe von sehr großen und sehr scharfen Waffen aus seiner Pluderhose zog. Ach, und eine Keule. Mit anderen Worten: Wally hätte gut als Vorbild für die MC-Hammer-Hosen herhalten können.

Ich hätte wirklich schon früher erkennen können, welcher Gattung Daoud angehörte, aber Wally und Daoud sahen so verschieden aus und setzten auch ihre übernatürlichen Kräfte so unterschiedlich ein, dass man meinen könnte, sie stammten aus unterschiedlichen Jahrhunderten.

Das tun sie wahrscheinlich auch, Idiot, machte ich mir klar, bevor ich mich wieder dem Streit zuwandte, der sich vor mir entfachte.

»Du hast meinen Leuten keine Befehle zu erteilen, Phädra«, ging Ryu, der Mühe hatte, seine Wut zu kontrollieren, zum Gegenangriff über. Ich hatte Ryu noch nie so aufgebracht gesehen.

Die Alfar beäugte Ryu unbeeindruckt und machte ihren Standpunkt deutlich, indem sie überhaupt nicht auf seinen Ausbruch reagierte.

»Vielleicht noch nicht, Baobhan Sith. Aber schon bald. Wenn du bei diesem Auftrag versagst, was bei deiner Inkompetenz anzunehmen ist, werde ich es übernehmen, diesen abscheulichen Halbling zu finden und ihn vom Angesicht der Erde zu entfernen.«

Bei den Worten »abscheulicher Halbling« sah mich Phädra ziemlich unverblümt an. Ryu fauchte, und ich drückte beschwichtigend seine Hand, um ihn daran zu erinnern, dass er wegen mir nicht die Beherrschung verlieren sollte.

»Und das muss Jane True sein«, sagte die kleine Frau spöttisch.

Ich nickte und sträubte mich dagegen, in ihre Einschüchterungsfalle zu tappen.

»Ich bin sehr gespannt, dich besser kennenzulernen. In der Tat sind wir das alle.« Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass Graemes grausames Grinsen noch grausamer wurde.

Ich hob trotzig das Kinn und schwieg. Also setzte die kleine Alfar noch eins drauf.

»Besonders Graeme. Er liebt verletzliche kleine Menschen, nicht wahr, Graeme?«

Der Elb grinste mich an und richtete all seine gruselige, unerbittliche Lüsternheit auf mich.

Scheiß auf Tapferkeit, dachte ich und rückte näher an Ryu heran, der verärgert das kleine Imponierspielchen der Alfar unterbrach.

»Warum bist du hier, Phädra? Diese Ermittlung geht dich doch gar nichts an. Und deinen Herrn und Meister auch nicht.«

»Natürlich tut es das. Du weißt doch, wie interessiert Jarl am Wohlergehen der Halblinge ist.«

Mein Herz sank mir bis in die Schuhe, als Phädra den Namen Jarl erwähnte.

Ich hätte es wissen müssen, dachte ich und schielte verstohlen zu Graeme hinüber. Nur Jarl würde so ein Monster unter seinen Schutz stellen.

»Jarl hat gegenüber unserem Königspaar seine Sorge über gewisse aktuelle Geschehnisse geäußert, und Orin und Morrigan haben ihm die Erlaubnis erteilt, mein Team loszuschicken … « Bei diesen Worten verzog sich Phädras Gesicht zu einem so unangenehmen Grinsen, dass sich mein Magen verkrampfte. »… um dir bei deinen Ermittlungen zu helfen. Während der König betont hat, dass unsere Rolle eine unterstützende ist, hat Jarl allerdings deutlich gemacht, er erwarte, dass du abgelöst wirst, wenn die Angelegenheit nicht bald geklärt ist. Und in Anbetracht der Tatsache, dass bisher fast zwölf Leben ausgelöscht wurden, für die du verantwortlich warst, und du selbst mindestens zweimal beinahe getötet worden wärst, erwarte ich, dass mir der Befehl, dich endgültig zu ersetzen, bereits in Kürze erteilt werden wird. Außer deine schwächliche Bastard-Gespielin hat noch irgendeinen Hinweis auf Lager, der ihre Anwesenheit hier erklären würde.«

Ryus Gesicht wurde weiß vor Wut, und seine Hand klammerte sich schmerzhaft fest um meine. Ich dachte schon, er würde sie mir zerdrücken, als der Vergewaltigerelb auch noch seinen Senf dazu geben musste.

»Falls sie irgendetwas verbirgt, dann hole ich es gern aus ihr heraus«, sagte er und ließ dabei seinen Blick über meinen Körper wandern, mit einem Gesicht, in dem Lüsternheit und Bösartigkeit um die Vorherrschaft rangen.

»Ich schwöre bei allen Göttern, wenn du sie anfasst…«, Ryu machte einen Schritt nach vorn, doch ich hielt ihn am Handgelenk fest, und Caleb und Daoud legten ihm beschwichtigend die Hände auf die Schultern.

»Ich werde sie nicht nur anfassen«, sagte der Elb und trat ebenfalls vor, um Ryu noch mehr zu provozieren. »Ich werde sie richtig rannehmen – ihre kleine Möse so ausleiern, dass du reinkriechen und dich darin zur Ruhe setzen kannst, du erbärmlicher…«

»Genug!«, dröhnte Phädra und schoss einen Strahl heißes, weißes Licht zwischen den Elben und Ryu.

Ich wusste, dass allein die Drohung durch Phädras Alfar-Kräfte verhinderte, dass die Situation in einen richtigen Kampf ausartete, in dem ich mittendrin stecken würde. Ryu glühte geradezu, so wütend war er, und seine Leute sahen ähnlich angepisst aus. Daoud knirschte praktisch mit den Zähnen. Caleb zeigte dem Berg von einem Spriggan seine Hörner, als wolle er ihn gleich zu einem Duell zwischen Ziegenböcken herausfordern, und Camille beäugte die Harpyien, als gäben sie einen ordentlichen Snack ab. Im Gegenzug hatten die Harpyien ihre glänzenden, schwarzen Augen auf Julian und seine Mutter gerichtet wie Habichte, die soeben zwei flauschige Häschen entdeckt hatten.

»Dies ist weder die Zeit noch der Ort für so etwas«, ermahnte Phädra ihre üble Entourage. »Wir sind in offiziellem Auftrag hier. «

Obwohl die Anspannung sich dadurch nicht legte, traten doch alle einen Schritt zurück. Außer Graeme, der noch etwas näher kam und mich weiter fixierte, als wolle er Ryu damit herausfordern, etwas zu tun.

»Komm uns einfach nicht in die Quere, Phädra. Und sorg dafür, dass mir deine Lakaien nicht unter die Augen treten.« Ryus Stimme klang gepresst, er hatte sich nur mit Mühe unter Kontrolle.

»Tut mir leid, Ermittler, aber ich habe strikte Instruktionen, euch zu helfen, wo ich kann. Und ich werde dir helfen. « Die Alfar lächelte niederträchtig. »Gewöhnt euch besser daran. Ich bin sicher, wir werden uns auch an euch gewöhnen. Bis dann!«, rief sie uns noch zum Abschied zu und ging zurück zur Tür des Labors.

Die Harpyien kauerten sich erst zusammen und erhoben sich dann mit wütend schlagenden Schwingen in die Luft. Wieder stoben Schmutz und Staub auf, aber diesmal war Ryus Schild schnell genug in Position, so dass wir verschont wurden. Hinter dem Staub, der um unsere Schutzbarriere wirbelte, sah ich Graeme, der etwas in meine Richtung sagte. Zwar kann ich nicht von den Lippen ablesen, aber sogar ich verstand, dass es »Wir sehen uns« hieß. Ich erschauderte und drückte mich dicht an Ryus Seite.

Schließlich legte sich die Schmutzwolke wieder, und wir waren allein im Labor. Daoud ächzte und streckte sich. Caleb scharrte mit den Hufen im Dreck, als spiele er mit dem Gedanken, Phädras Truppe zu verfolgen. Camille sah Julian besorgt an, wie er seine Brille abnahm, sie anhauchte und dann mit seinem Flanellhemd polierte. Sein schöner, seegrüner Blick traf meinen, und er schenkte mir ein noch schieferes Lächeln als sonst. Julians freundlicher Gesichtsausdruck verscheuchte den hässlichen Eindruck von Graemes schmutzigen Absichten.

Ryu indes sah mich besorgt und entschuldigend an. Er drückte meine Hand so fest wie eine Schraubzwinge, und ich entzog sie ihm sanft. Als er schließlich nachgab, waren meine Finger voller roter und weißer Flecken.

Ein paar Minuten lang standen wir alle einfach nur schweigend da. Schließlich fasste Ryu in Worte, was wir alle dachten.

»Scheiße.«

Wir nickten.

»Fuck.«

Wir nickten wieder.

»Verdammt.«

Dann stapfte er noch immer wutentbrannt auf die Tür zu, und wir eilten ihm hinterher.

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Meine Finger suchten Halt an der glatten Lederinnenausstattung von Ryus BMW, als er die richtige Ausfahrt verpasste, was ihn dazu veranlasste, ein paar unflätige F-Wort-Bomben fallenzulassen und auf die Bremse zu treten. Dann öffnete er etwas, was ich für eine Art Riss im Raum-Zeit-Kontinuum hielt, um seine stählerne Maschine des Verderbens made in Germany durch besagtes Kontinuum zu jagen, wobei er nur knapp zwei Jesus-Trucks verfehlte, deren Kreuze am Kühlergrill hell in die Nacht leuchteten.

Ryu hatte eindeutig schlechte Laune.

Wir waren auf dem Weg zum Haus des wissenschaftlichen Laborleiters, Dr. Silver. Es war etwa zwei Uhr morgens, also offiziell Baobhan-Sith-Zeit. Als wir zu den Autos zurückgekehrt waren, hatte Ryu dem armen Julian seinen Laptop hingeknallt und gesagt: »Finde etwas. Jetzt.« Zur Überraschung von uns allen und vor allem von Julian selbst hatte er tatsächlich etwas gefunden. Im letzten Monat hatte es auf den »geheimen« Konten des guten Doktors ein paar Bewegungen gegeben, und sie waren innerhalb der Staaten getätigt worden. Also hatten wir uns paarweise aufgeteilt, um herauszufinden, ob er sich wieder in seinen Heimatgefilden aufhielt. Camille und Julian waren zu Silvers Bostoner Zweitwohnung gefahren, Daoud und Caleb zu seinem Sommerhaus in Cape Cod, und Ryu und ich fuhren zum Familienanwesen in einem noblen Vorort von Boston.

»Wahrscheinlich ist es ein fruchtloses Unterfangen, aber mehr haben wir nicht. Und zumindest wissen wir jetzt, dass Silver lebt und, wenn wir Glück haben, wieder im Land ist.« Ryu blickte finster drein. »Außerdem ist da irgendetwas an seinem Haus, das mir komisch vorkommt. Ich bin froh, dass ich nochmal hinfahre.«

»Was meinst du damit?«

»Ich kann es nicht genau sagen. Irgendetwas am Grundriss«, sagte er, als wir vor einem riesigen, prachtvollen, alten Haus hielten, das schon fast einem Schloss ähnelte.

»Wow«, hauchte ich. Sieht ganz so aus, als ließe sich mit zwielichtigen Laboratorien eine Menge Geld machen.

Wir gingen zum Eingang, und Ryu murmelte etwas in Richtung der Tür, die sich daraufhin öffnete, als würden wir bereits erwartet. Im Haus war es warm und muffig. Von der Eingangshalle aus konnte ich sehen, dass es sorgfältig für die Reise der Silvers nach Südfrankreich vorbereitet worden war: Die Möbel waren abgedeckt, die Pflanzen mit komplizierten Bewässerungsvorkehrungen versehen und alle elektronischen Geräte abgesteckt worden.

Ich hielt mich dicht hinter Ryu, als wir auf die prächtige Treppe zugingen, die die Eingangshalle dominierte.

»Achte auf die Raumaufteilung oben, und denk daran, wenn wir wieder runterkommen«, sagte er zu mir.

»Okeydokey, Smokey«, erwiderte ich feierlich.

Das Haus war einfach perfekt; ganz offensichtlich hatte hier ein Innenarchitekt seine Hand im Spiel gehabt. Selbst die Familienfotos waren so gewählt, dass es den größtmöglichen Effekt ergab. Tonnenweise Bilder bedeckten die Wände entlang der Haupttreppe, alle zeigten gesunde, wohlhabende Menschen, die allerlei gesunde Dinge taten, die wohlhabende Menschen eben so tun. Ein Baby-Boomer-Pärchen, das ich für Silver und seine Frau hielt, dominierte das Geschehen. Auf einem der Fotos standen sie zu beiden Seiten eines bekannten Politikers. Ein anderes Bild zeigte das gleiche Paar, diesmal in Tenniskluft und mit Schlägern in der Hand, und zwischen ihnen stand ein berühmter Tennisspieler. Auf weiteren Fotos trugen sie Reitbekleidung oder waren wie für ein lässig-elegantes Picknick gekleidet, in Abendgarderobe oder in schicker Businessaufmachung. Immer in Begleitung von jemandem, der entweder berühmt war oder einen ähnlichen Hauch von Reichtum oder Status verströmte.

Ich blieb vor einem Bild von Dr. Silver stehen, das ihn zeigte, wie er das Band bei der Eröffnung eines Kinderkrankenhauses in Chicago durchschnitt, und versuchte mir vorzustellen, wie es sein konnte, dass ein so respektabel wirkender Mann im Grunde nichts war als ein Entführer. Ich starrte das Foto an, suchte nach Anhaltspunkten, bis ich im Hintergrund etwas bemerkte, das mir beinahe den Atem verschlug.

»Was ist los, Jane?«, fragte Ryu, als er auf der Treppe hinter mich trat und ebenfalls das Foto betrachtete.

Ich zeigte auf die Frau hinter Silver. Er sah genauer hin. »Ach, das ist Amelia Bathgate, von den Bathgates in Chicago. Warum interessierst du dich für sie?« Beinahe hätte ich ihm gesagt, er solle mal genau hinschauen. Aber dann erinnerte ich mich, dass ich Grizzie versprochen hatte, ihr Geheimnis nicht weiterzuerzählen.

»Ähm, ich habe mich bloß gefragt, wie Silver in mancher Hinsicht so integer sein konnte und gleichzeitig so skrupellos. «

»Ja, es ist schwer zu glauben, dass der Typ, dem dieses Haus gehört, der Gleiche ist, der das Labor geleitet hat«, meinte Ryu und strich mir dabei tröstend mit der Hand über den Rücken. »Kommst du mit nach oben, wenn du hier fertig bist?«, fragte er.

»Klar«, erwiderte ich und wandte mich wieder dem Foto zu. »Einen Moment noch.« Ich starrte die Frau auf dem Bild weiter an. Ich verstand, warum Ryu sie nicht erkannt hatte und warum Grizzie behaupten konnte, dass kaum einer die Verbindung zwischen Grizzie, Dusty Nethers und Amelia Bathgate herstellen könnte. Wie durch Zauberhand war sie als Amelia das komplette Gegenteil von allem, für das Grizzie stand. Während Grizzie vor Sexappeal und Charakter nur so strotzte und eine Art chaotischer Lebenslust versprühte, die beinahe anarchisch wirkte, hätte die Frau auf dem Foto die verwitwete Tante eines ultrareligiösen Pastors sein können. Sie trug einen konservativen, maulwurfgrauen Hosenanzug, und ihr Haar war zu einem strengen Knoten zurückgesteckt. Aber es war ihr Gesichtsausdruck, der mich am meisten faszinierte. Er war wie eine menschliche, nichtmagische Variante dessen, was Anyan mir über die Aura beigebracht hatte. Ihr ganzes Erscheinungsbild – die Haltung der Schultern, die Art und Weise, wie sie den Kopf leicht einzog, als würde sie sich für ihre Größe schämen, der gesenkte Blick – alles schien zu sagen: »Hier gibt es nichts zu sehen. Schenkt mir einfach keinerlei Beachtung.«

Ich konnte nicht glauben, dass Grizzie so viele Jahre lang so gelebt hatte, und fragte mich traurig, ob ich Amelia Bathgate je begegnet wäre. Schließlich riss ich mich von dem Anblick los, um Ryu nach oben zu folgen.

Im ersten Stock waren die Betten abgezogen und zugedeckt und alle Stecker gezogen. Doch mir fiel auf, dass dies nicht für die Überwachungskameras galt, die an strategischen Positionen überall im Haus angebracht waren. Ryus magische Kraft umwaberte uns und machte uns unsichtbar für sie, aber trotzdem war mir in ihrer Gegenwart unwohl zumute. Nicht zuletzt weil sie unsere ersten Anhaltspunkte dafür waren, dass der Bewohner dieses Hauses nicht ganz das war, was das mustergültige Interieur suggerierte.

Ich versuchte im Geiste einen Lageplan des ersten Stocks abzuspeichern, wie Ryu mich gebeten hatte, und als wir oben fertig waren und unsere Runde unten drehten, verstand ich auch warum. Meine räumliche Wahrnehmung war ausgezeichnet, und für Grundrisse hatte ich schon immer ein Gespür. Und der geistige Lageplan, den ich mir vom oberen Stockwerk gemacht hatte, passte nicht zu dem Grundriss des Erdgeschosses.

»Hier unten müsste es eigentlich noch einen Raum geben«, sagte ich, als wir im Wohnzimmer standen.

Nachdem ich ein paar Sekunden nachgedacht hatte, ging ich aus dem Wohnzimmer durch die Küche in das große Arbeitszimmer hinüber. Ich schritt es noch einmal ab, um ganz sicher zu sein. Dann blickte ich Ryu an. »Dieser Raum ist ein bisschen zu kurz«, sagte ich. »Dieses Büro müsste eigentlich größer sein.«

Ryu grinste mich an. »Genau. Aber das ist es nicht. Also wo ist der Rest?«

Ich sah mich um und schritt den Raum dann an den Wänden entlang ab. Ryu folgte mir mit dem Blick. Die roten Augen der Kameras, die sich in zwei Ecken befanden, blinkten mich blind an, unfähig durch Ryus Aura hindurchzusehen. Ich lehnte mich an Silvers Arbeitstisch und starrte sie an.

»Warum gleich zwei Kameras, Ryu? Du meintest doch, ihr hättet in diesem Raum nichts gefunden, das von Interesse wäre.«

»Nein. Zumindest nichts, das uns irgendwelche Erkenntnisse über das Labor gebracht hätte. Nur Persönliches – Steuerunterlagen und so etwas. Nichts was in einen wissenschaftlichen Zusammenhang gepasst hätte. Silver hat ganz offensichtlich nicht von zu Hause aus gearbeitet.«

»Und warum dann die beiden Kameras in diesem Zimmer? Und wohin werden die Aufnahmen übertragen?«

»Sie sind intern zugänglich«, erwiderte Ryu. »Man kann von jedem Fernseher in diesem Haus auf sie zugreifen. Aber von wo aus sie gesteuert werden, wissen wir nicht. Es müsste eigentlich einen Kontrollraum geben, aber wir können keinen finden.«

Schweigend starrten wir die Kameras an und dachten nach.

Das ganze Szenario – die Kameras im Haus, das verkürzte Zimmer – erinnerte mich an einen Film, den ich vor ein paar Jahren gesehen hatte. Okay, es war nicht gerade der professionellste Ansatz, sich nach einem Film zu richten, aber genau wie all die Monster aus der Mythologie, mit denen ich seit neuestem zu tun hatte, mussten doch auch Filme irgendetwas mit der Realität zu tun haben, oder?

»Setz die Aura doch mal für einen Augenblick aus, Ryu«, schlug ich vor.

»Warum?«, wollte er wissen.

»Nur so eine Vermutung. Wahrscheinlich habe ich bloß zu viele Actionfilme gesehen, aber es ist einen Versuch wert.«

Er sah mich stirnrunzelnd an, dann zuckte er mit den Schultern. »Na gut, aber dann muss sich Julian später ins Sicherheitssystem einhacken und das Band löschen. Bist du sicher, dass es das wert ist?«

»Nein«, sagte ich ehrlich. »Ich habe nur so eine Vermutung. «

Ryu sah mich finster an, und für eine Sekunde sah es so aus, als würde er sich weigern, meiner Bitte nachzukommen. Aber dann spürte ich, wie der kitzelnde Hauch von Ryus starker Aura nachließ, und ich wusste, dass wir nun sichtbar waren. Ich bewegte mich von Ryu weg auf die Wand zu meiner Linken zu.

Nach einem Moment der Verzögerung verfolgte die Kamera meine Bewegung.

»Bingo«, sagte ich triumphierend. »Panikraum. Und jemand ist da drin.« Ich drehte mich stolz zu meinem Vampir um, der mich überrascht anstarrte.

»Jane, du bist ein Genie!« Ryu grinste und holte sein Handy hervor, um Verstärkung zu rufen.


»Du wirst aussehen wie Bob Dylan in ›Subterranean Homesick Blues‹. Nur süßer«, sagte Daoud, als er die Kappe wieder auf den Textmarker in seiner Hand steckte.

»Danke«, erwiderte ich und legte auch meinen Marker weg.

Ryu und ich hatten das ganze Arbeitszimmer auf den Kopf gestellt, um Dr. Silvers Unterschlupf zu finden. Aber als die anderen eigetroffen waren, hatten wir noch immer nichts erreicht. Zuerst waren Camille und Julian angekommen und dann Daoud und Caleb. Aber auch alle zusammen hatten wir nichts finden können.

Das war der Moment gewesen, als Julian das mit den Schildern vorgeschlagen hatte. Die Kameras hatten keine Mikrofone, also war Sprechen keine Option. Wenn wir es nicht zu Silver schafften, dann mussten wir ihn dazu bringen, zu uns herauszukommen. Und ihm klarzumachen, dass wir nicht hier waren, um ihn zu töten, sondern ihm sogar helfen konnten, wäre sicher schon mal ein guter Anfang.

Also waren wir erfinderisch geworden. Silver hatte jede Menge Papier im Büro, und die Marker wurden aus den unendlichen Weiten der Dschinn-Unterhose gezaubert. Wir mussten dann nur noch dafür sorgen, dass die Botschaft auch leserlich war. Also hatte ich immer nur ein Wort pro Blatt geschrieben: »Verfolgen Conleth. Müssen ihn finden. Brauchen Hilfe. Werden Ihnen nichts tun.« Ich war auserkoren worden, die Schilder hochzuhalten, weil ich als Einzige von uns völlig harmlos aussah.

Als mein großer Auftritt gekommen war, fühlte ich mich wie ein Vollidiot, wie ich da so mit meinen Schildern stand. Ich hielt sie langsam nacheinander hoch und fing dann wieder von vorn an. Daoud unterstützte mich, indem er eine etwas schiefe Version des Dylan-Songs summte.

Ich hatte gerade mit dem vierten Durchgang begonnen, als wir ein zischendes Geräusch hörten. Ich ließ die Schilder sinken.

Ein großes Bücherregal schwenkte auf und gab den Blick frei auf einen älteren Mann mit stoppeligen Wangen und verstrubbeltem Haar in Pyjama und Bademantel. Er hielt eine Schrotflinte in seinen zitternden Händen. Keine gute Kombination. Ryu wurde nervös, aber ich hielt ihn mit einer Berührung am Ellenbogen zurück. Ich hatte das hier angefangen; Silver war auf meine Bitte hin herausgekommen. Also würde ich auch diejenige sein, die das jetzt zu Ende brachte.

»Es tut mir leid, dass wir hier so eindringen, Sir«, sagte ich und trat einen Schritt vor. »Mein Name ist Jane True. Wir sind auf der Suche nach Conleth. Wir wissen, welchen Schaden er bereits angerichtet hat, und solange wir ihn nicht haben, wird er weiter töten. Wir müssen ihn stoppen.«

Der alte Mann beäugte mich argwöhnisch. Er sah weitaus weniger gesund und wohlhabend aus als auf all den Fotos in der Eingangshalle.

»Ich wusste, er würde zurückkommen«, knurrte Silver schließlich. »Meine Familie ist untergetaucht. Wenn, dann soll er mich holen. Aber sie sind in Sicherheit.« Dann sah er mich stechend an. »Woher weiß ich, dass ihr nicht mit ihm zusammenarbeitet?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Das wissen Sie nicht. Aber wenn wir das täten, dann hätten wir Sie jetzt schon längst angegriffen.«

Er starrte mich weiter durchdringend an, und ich versuchte so klein und unschuldig wie möglich zu wirken.

»Abgesehen davon«, fügte ich hinzu, »würde Conleth überhaupt mit irgendjemandem zusammenarbeiten? Wie Sie wissen, wurde er sein ganzes Leben lang in einem Labor gefangen gehalten.« Für einen Moment verhärtete sich das Gesicht des Mannes. Ich verfluchte mich selbst, denn ich fürchtete, mit dem Hinweis auf Silvers Rolle in Conleths tragischem Leben einen Fehler gemacht zu haben. Hastig fuhr ich fort: »Wir arbeiten nicht für Conleth, aber wir wissen, was er den Leuten, die für Sie gearbeitet haben, und seiner eigenen Familie angetan hat. Wir müssen ihn finden.«

Silvers Blick lastete auf mir, als versuche er mir in die Seele zu blicken. Ich hoffte insgeheim, meine möge tadelloser sein, als es seine offenbar war.

»Für wen arbeitet ihr?«, hakte er argwöhnisch nach. »Wer seid ihr überhaupt?«

» Können Sie bitte das Gewehr weglegen?«, erwiderte ich. Das Zittern in Silvers Händen hatte nicht nachgelassen, und ich war nicht sicher, ob es irgendeine Form der Magie gab, mit der man einen Gewehrschuss aus nächster Nähe heilen konnte.

»Erst sagen Sie mir, für wen Sie arbeiten.«

Ich zeigte auf meinen Vampir. »Das ist Ryu. Er ist Ermittler und arbeitet für … ein paar sehr mächtige Leute, die wollen, dass Conleth gestoppt wird.« Ich schätzte, das würde Silvers Frage beantworten, ohne weitere heraufzubeschwören. »Und die anderen hier arbeiten für Ryu.«

»Und Sie?«, wollte Silver wissen.

»Ich bin Ryus … Freundin.«

»Sie sind seine Freundin?«, fragte Silver mit einer Stimme, die ganz deutlich zum Ausdruck brachte, dass die Verfolgung von Massenmördern kein Job für »Freundinnen« von Leuten war.

Ich ignorierte ihn einfach. » Würden Sie jetzt bitte die Waffe weglegen?«

Silver überlegte noch eine Weile, dann zuckte er mit den Schultern und legte die Schrotflinte in dem Panikraum hinter sich ab. Dieser verfügte über eine Toilette, ein Waschbecken, ein Feldbett und eine Steueranlage für das Sicherheitssystem und war voll mit tonnenweise ledergebunden Büchern und einer großen Kiste mit Aktenordnern. Er nahm die Kiste und ging damit an uns vorbei ins Wohnzimmer, während die Tür zum Panikraum wieder zuglitt.

»Ich bin sowieso schon tot, jetzt wo ich diese Tür geöffnet habe«, sagte er über die Schulter zu uns. »Also kann ich genauso gut noch einen Brandy trinken.«

Im Gänsemarsch trippelten wir hinter dem zerzausten Silver her, als seien wir irgendeine komische Pantomime-Truppe. Silver stellte die große Kiste ab, um sich eine ordentliche Portion Alkohol zu genehmigen. Und wir willigten alle ein, als er uns auch etwas davon anbot. Die Nacht war bereits lang gewesen, und für uns ging die richtige Arbeit erst los.

»Hier ist, was Sie suchen«, sagte Silver und schob die Box mit dem Fuß zu Ryu. »Da ist alles drin. Na ja, zumindest alles aus meiner Zeit, also weiß ich nicht, wie hilfreich es ist.« Das Gesicht des alten Mannes nahm einen grimmigen Zug an. »Für das, was passiert ist, nachdem ich weg war, bin ich nicht verantwortlich … aber hier ist alles über Conleths Kindheit, die Berichte über all die Tests, die wir an ihm durchgeführt haben, und ein Verzeichnis aller Leute, die im Labor mit ihm gearbeitet haben. Was nicht auf Papier existiert, ist auf den USB-Sticks ganz unten in der Kiste.«

Ryu betrachtete den Karton, als hätte er gerade einen Gaul geschenkt bekommen, dem er nun ins Maul schauen musste. Schließlich beugte er sich darüber und begann darin herumzuwühlen.

Camille trat zu Silver, und ich spürte, wie sie ihre Aura auf ihn anwandte, die ihn beruhigen und entspannen sollte. Sie schmierte ihm praktisch auf magische Art Honig ums Maul. Sie setzte sich neben ihn auf die niedrige Couch.

»Bis vor ein paar Jahren waren Sie für alles zuständig«, sagte sie sanft und blickte Silver dabei tief in die Augen. »Warum änderte sich das? Wer übernahm das Labor, nachdem Sie gegangen waren?«

Silver zuckte mit den Schultern und blinzelte wie in Zeitlupe mit den Lidern. »Ich weiß nicht genau. Bis vor ein paar Jahren waren wir eigentlich bloß Conleths Bewacher. Mit seinen Kräften konnte er nicht auf die Allgemeinheit losgelassen werden. Also bezahlte uns die Regierung dafür, ihn weiter festzuhalten, obwohl wir keine Untersuchungen mehr an ihm vornahmen. Wir wussten, wie wir mit ihm umgehen mussten. Er kannte ja nichts anderes. Ich denke, er hat uns als seine Familie betrachtet. Aber dann wurden wir von der Konzernzentrale in Chicago darüber in Kenntnis gesetzt, dass wir von einer anderen Firma aufgekauft worden waren und jetzt einen neuen Geldgeber hatten. Einen privaten Geldgeber. Und damit änderte sich alles.«

»Inwiefern?«

»Es fing im Kleinen an. Neue Krankenschwestern, die meiner Einschätzung nach gar keine richtigen Krankenschwestern waren. Dann neue wissenschaftliche Mitarbeiter. Sie legten ein ziemlich ruppiges Auftreten an den Tag und fingen an, ihre eigenen ›Experimente‹ durchzuführen, wenn ich nicht da war. Experimente, die man nicht direkt … wissenschaftlich nennen konnte.«

»Die da wären?«

»Seltsame Dinge. Invasiv. Und bestimmt nicht angenehm für Con. Ich fing an, Nachforschungen anzustellen, meldete meine Einwände an – und wurde kurzerhand gefeuert. Sie ersetzten mich durch den schlimmsten unter den neuen Mitarbeitern. Er war … abartig. Ich weiß nicht, was sein Problem war, aber mit ihm stimmte etwas nicht. In jeder Hinsicht. Ich weiß nicht, was sie die letzten Jahre über mit Con gemacht haben, aber es muss schrecklich gewesen sein. Der Junge, den ich zurücklassen musste, hätte nie solche Taten begangen. Für uns war er nie ein richtiger Gefangener. Und ich glaube, er mochte uns, und wir kümmerten uns um ihn, auf unsere Art. Aber jetzt… Was auch immer sie ihm angetan haben, es hat ihn verändert, und zwar völlig.«

Silver nahm einen tiefen Schluck Brandy, und wir schwiegen, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, bis Camille schließlich fortfuhr.

»Haben Sie eine Ahnung, wo sich diese neue Firma oder dieser Geldgeber befand?«, sagte sie und versuchte dabei, mit Hilfe ihrer Aura seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Ich konnte ihr magisches Sondieren fühlen, aber immer wenn sie zu ihm durchzudringen schien, wurde sein Gesicht flach und leer. Offensichtlich hatte bereits jemand sein Gehirn manipuliert.

Der Kiefer des alten Mannes mahlte, als mühte er sich etwas zu sagen. »Die Informationen über die Firma stehen in einer der Akten. Das heißt, was ich über sie herausfinden konnte, was leider nicht gerade viel ist. Es scheint sich um eine Mantelorganisation zu handeln, hinter der sich Gott weiß wer verbirgt. Was den neuen Geldgeber betrifft: Als wir davon erfuhren, wurde eine Kontaktperson geschickt, die alles inspizieren sollte. Sie verbrachte viel Zeit mit Conleth. « Silver blickte finster drein, sein Blick wanderte ins Leere. »Es ist so … unscharf. Ich kann mich nur schwer an sie erinnern. Ich weiß, dass ich ihr begegnet bin, aber … « Er verstummte, und sein Gesicht wurde völlig ausdruckslos. »Wie war Ihre Frage gleich noch?«, erkundigte er sich plötzlich und blickte Camille an, als könne er sich nicht mehr genau erinnern, wann sie sich überhaupt neben ihn gesetzt hatte.

Okay, an ihm war bereits rumgepfuscht worden, völlig klar. Seine Erinnerung hatte Lücken, die so groß waren, dass Ryu mit seinem Flitzer hätte durchfahren können.

Mich wundert, dass er sich überhaupt erinnern kann, dass es eine Frau war. Das ist ja zumindest schon mal etwas.

»Haben Sie den Geldgeber auch persönlich kennengelernt? «, fragte Camille nun, wohl wissend, dass Silver nicht mehr zu der weiblichen Kontaktperson einfallen würde.

Silver schüttelte den Kopf. »Nur die hohen Tiere, die Finanzleute, haben ihn kennengelernt. Deshalb muss Con auch mit irgendjemandem zusammenarbeiten «, stellte er fest. »Jemand, der mit den Machtstrukturen vertraut ist.«

»Wir haben keinen Beweis dafür gefunden, dass Conleth mit jemandem arbeitet«, warf Ryu beruhigend ein. »All die Attacken auf Mitarbeiter des Labors hat er ganz allein verübt. «

»Und wer tötet dann all die anderen?«, fragte Silver, und aus seiner Stimme klang Angst und Trauer.

»Welche anderen?«, fragten wir alle wie aus einem Mund.

Silver erhob sich langsam und steif und ging zu der Kiste hinüber. Er nahm ein Bündel Papiere heraus.

»Das stammt von einer Frau namens Dr. Donovan, die meine Ansprechpartnerin in der neuen Firma war. Sie hat schon für die alte Firma gearbeitet, sie war diejenige, die die Untersuchungen genehmigte. Und sie ist die einzige mir bekannte Person, die dabeiblieb, nachdem die Firma den Besitzer gewechselt hatte. Während der paar Jahre, die ich noch im Labor arbeitete, war sie die Einzige, mit der ich zu tun hatte. Alles, was an unser Labor und an mich ging, kam von ihr.«

Ryu nahm die Unterlagen an sich. »Und?«

»Brenda und ich haben jahrelang zusammengearbeitet. Sie kam immer wieder auf Geschäftsreise nach Boston, und wir verbrachten viel Zeit miteinander. Wir … wir hatten eine Affäre, kurz. Aber auch danach blieben wir Freunde. Wir vertrauten einander, und sie kannte auch meine private E-Mail-Adresse, meine Anschrift und alles. Aber wegen der neuen Firmenleitung kam es schließlich zu einem Zerwürfnis zwischen uns, nachdem ich gefeuert wurde. Ich wollte, dass sie mir sagt, was sie mit Conleth machten, aber sie weigerte sich. Sie war ehrgeizig … Wie auch immer, der Kontakt brach ab. Deshalb war ich auch so überrascht, als ich diese erste E-Mail da bekam.«

Silver zeigte auf das oberste Blatt im Stapel.

»Sie klang so verängstigt. Die E-Mail erreichte mich etwa eine Woche, nachdem Conleth geflüchtet war.«

»Sind Sie deshalb untergetaucht?«, erkundigte sich Ryu.

»Ich wusste nicht, was Con tun würde, wenn er erführe, dass ich von seinem Ausbruch wusste. Also ja, zunächst versteckte ich mich wegen ihm.« Silver stockte kurz, als müsse er sich sammeln, ehe er fortfuhr: »Aber er tötete nur Leute, die nach meiner Zeit im Labor arbeiteten. In der Kiste befinden sich noch jede Menge Mitarbeiterakten. Die Leute, die von Anfang an mit Conleth gearbeitet hatten, aber von der neuen Leitung gefeuert wurden, sind alle noch am Leben. Das habe ich überprüft. Also, zuerst versteckte ich mich vor Conleth, ja. Doch dann wegen dem, was Brenda mir in diesen E-Mails schrieb.«

»Und das wäre?«

»Sie fing damit an, dass irgendetwas nicht in Ordnung sei, fragte mich, wen Conleth aus der Zentrale gekannt und was er über diejenigen gewusst haben könnte. Ich antwortete ihr, dass er niemanden gekannt haben konnte, sofern sich nicht nach meiner Entlassung alles verändert hatte. Verdammt, nicht einmal ich hatte eine Ahnung, wer uns da übernommen hatte, und ich war der Leiter in Boston. Sie schrieb zurück, dass es ein Fehler gewesen sei, mich zu kontaktieren, dass alles in Ordnung und sie nur übermüdet sei. Dann fing sie an, mir Briefe zu schreiben…«

Ich sah zu, wie Ryu durch die Unterlagen blätterte und bei Silvers Worten nickte.

»Brenda schrieb mir, dass ihre E-Mails überwacht werden, genauso wie ihr Telefon. Daher die Briefe. In denen berichtete sie mir, dass ihre Vorgesetzten verschwanden. Dass sie tot wieder auftauchten. Verbrannt. Sie wollte wissen, wie Conleth von den Leuten aus der Zentrale in Chicago, die mit ihr gearbeitet hatten, erfahren haben könnte.

Aber er konnte nichts davon gewusst haben«, betonte Silver. »Schließlich war es so geregelt, dass alle Kommunikation durch mich und Brenda erfolgte und dann durch denjenigen, der mich ersetzt hat. Weiter als bis zu uns beiden hätte man nichts zurückverfolgen können, und Brenda war der Puffer, der dafür sorgte, dass selbst ich nicht alles wusste. Ich weiß das, weil ich wie verrückt versucht habe, mehr über die Firma herauszufinden, und das selbst bevor ich gefeuert wurde – und ich verfüge über ein paar recht einflussreiche Kontakte. Ich konnte nichts herausfinden. Rein gar nichts.«

»Aber Sie wurden von jemand anderem ersetzt…«, unterbrach Ryu ihn sanft. »Vielleicht haben sich die Dinge geändert. «

»Schwachsinn«, rief Silver aufgebracht. »Keine Firma wendet so viel Mühe, Geld und Einfluss dafür auf, unerkannt zu bleiben, nur um den Schleier dann eines Tages mir nichts dir nichts zu lüften.«

»Was ist mit Dr. Donovan passiert?«, fragte Ryu.

»Letzte Seite«, sagte Silver. »Das Foto.«

Das Bild zeigte ein weiteres Szenario, das denjenigen sehr ähnelte, die ich auf den Fotos im Labor gesehen hatte. Dr. Donovan war tot. Verbrannt.

»Sind Sie sich sicher, dass sie es ist?«, fragte Ryu.

»Zahnärztliche Unterlagen«, erwiderte Silver bloß.

»Wann war das? Und wo ist es passiert?«

»Unmittelbar nachdem Conleth hier seine Familie ausgelöscht hat. Aber Brenda wurde in Chicago ermordet.«

»Es sieht aber ziemlich nach Conleths Handschrift aus«, sagte Camille hinter uns. Sie spähte über Ryus Schulter auf das Foto.

»Es sieht tatsächlich nach Conleths Handschrift aus, aber er war es nicht«, sagte der alte Mann beharrlich und schüttelte trotzig den Kopf.

Ryu zog eine Augenbraue hoch. Er glaubte Silver nicht.

»Verflucht, Junge«, rief Silver verärgert, erhob sich mühsam und ging zu Ryu. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Ryu mochte zwar vierzig Jahre jünger aussehen als Silver, aber eigentlich war er etwa zweihundert Jahre älter als der Mann, der da vor ihm stand. Silver riss ihm den Stapel Papiere wieder aus der Hand und blätterte darin herum, bis er etwas Bestimmtes gefunden hatte.

»Das ist Donovans Autopsiebericht. Ihr Körper war offenbar fast völlig verbrannt, aber sie haben trotzdem Beweise dafür gefunden, dass sie nicht bloß einfach getötet und dann angezündet wurde … Sie ist vorher missbraucht worden. Brutal missbraucht.« Silver wies auf eine Zeile etwa in der Mitte des Berichts. Ein Wort war hervorgehoben worden.

Das Wort lautete: »gefoltert«.

Ich erschauderte, und Ryu griff nach dem Bericht, um ihn vollständig zu lesen.

»Wie sind Sie an all das herangekommen, Sir?«, fragte ich und verschaffte Ryu so Zeit, die Unterlagen in Ruhe durchzugehen, und versuchte, meine lebhafte Fantasie davon abzuhalten, sich an dem einen schrecklichen Wort festzubeißen.

»Ich hatte einen Kontakt bei der Polizei, den ich anzapfte, nachdem ich eine Weile nichts mehr von Brenda gehört hatte. Ihre Briefe hörten plötzlich auf, und ich wusste gleich, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Also kehrte ich in die Staaten zurück.« Er ließ seinen grauen Kopf hängen und starrte angestrengt auf seine Hände. Als er schließlich weiterredete, verriet seine Stimme, dass er mit seinen Gefühlen kämpfte. »Sie war zwar in mancher Hinsicht ein ehrgeiziges Miststück, aber sie hat es nicht verdient zu sterben. Vor allem nicht so.«

Ryu hatte seine Lektüre beendet und schob den Autopsiebericht wieder ganz unten in den Stapel, als wolle er ihn bewusst aus dem Blickfeld schaffen.

»Conleth hat seine Methode geändert«, sagte er. »Er scheint jetzt sogar noch gefährlicher zu sein als vorher. Wir müssen ihn so schnell wie möglich fassen.«

Silver starrte Ryu an, als habe der soeben behauptet, Frischkäse bestehe aus Mondstaub.

»Haben Sie mir überhaupt zugehört, junger Mann? Wer auch immer Donovan getötet hat, hat es zwar so aussehen lassen wie einen von Conleths Morden, aber es ist völlig ausgeschlossen, dass Con das getan hat. Wer auch immer Brenda getötet hat, war etwas völlig anderes. Con mag ja ein Mörder sein, aber er ist kein Monster.«

»Sir, Sie haben doch selbst gesagt, dass Conleth sich verändert hat.«

»Aber doch nicht so, verdammt! Außerdem ist keiner der Morde in Boston wie dieser. Con mordet, aber er foltert nicht!« Silver redete sich zunehmend in Rage, und ich war froh, dass er die Schrotflinte nicht mehr zur Hand hatte.

»Und wie ist er überhaupt so rasch nach Chicago gekommen? Und dann wieder zurück nach Boston?« Silver schaute uns an, als habe er soeben seine Trumpfkarte ausgespielt, aber ich hatte gesehen, wie schnell Conleth sich bewegen konnte. Ich war nicht sicher, wie lange er eine solche Kraft aufrechterhalten konnte, aber es war nicht unmöglich, dass er es blitzschnell bis nach Chicago schaffte.

»Conleth ist in der Lage, weite Strecken in erstaunlich hoher Geschwindigkeit zurückzulegen.« Ryus Stimme klang noch immer beschwichtigend, aber sie verriet ebenfalls, dass er Silver kein Wort glaubte. Und der alte Mann wusste das.

»Wenn Sie mir nicht glauben wollen, dann eben nicht«, sagte Silver schließlich. »Aber ich warne Sie: Sie machen einen großen Fehler, wenn Sie sich bei Ihren Ermittlungen nur auf Conleth beschränken. Ich behaupte ja nicht, dass er unschuldig ist; Gott weiß, er hat Verbrechen begangen. Aber das ist nicht seine Handschrift. Und ich bin überzeugt, wenn Sie erst einmal zu graben anfangen, dann werden Sie noch weitere Leichen finden, weitere Morde. Und auch die werden nicht auf Conleths Konto gehen.«

Der alte Mann schenkte sich noch einen Brandy ein und machte es sich damit auf dem Sofa bequem. Er senkte den Kopf und starrte auf seine Hände. Er sah erschöpft aus, aber seine Stimme klang fest, als er noch einmal das Wort ergriff:

»Und nun verschwinden Sie aus meinem Haus, damit sie mich holen können.«

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Natürlich hatten wir Dr. Silver nicht seinem Schicksal überlassen. Wir stellten zwei von Stefans fähigsten Mitarbeitern ab, die für seine Sicherheit sorgen sollten. Schließlich war er nicht nur ein guter Köder, sondern auch ein Unschuldiger, der Schutz brauchte.

Nun ja, relativ unschuldig, dachte ich, als ich mich daran erinnerte, was alles in diesen Unterlagen stand.

Bisher hatten wir so gut wie gar nichts von Conleth gewusst, und nun hatten wir alles – bis hin zu seiner Vorliebe für Boxershorts – über ihn an nur einem Abend erfahren. Eigentlich hätten wir euphorisch sein müssen. Aber der Durchbruch hatte lediglich mehr Fragen aufgeworfen.

Schließlich fanden wir auch noch heraus, wie genau Conleth in dem Labor gelandet war. Als Kleinkind war er vor einem Kloster abgelegt worden, das er dabei in Brand gesteckt hatte. Bei dem Feuer kamen alle Bewohnerinnen um. Rettungskräfte hatten das Baby – völlig unversehrt – gefunden, wie es in den schwelenden Ruinen saß und noch immer feurige Bäuerchen machte.

Daraufhin hatte man ihn in dem Labor untergebracht. Ein Grund, warum die Gemeinschaft der Übernatürlichen nie auf ihn aufmerksam wurde, ist, dass das FBI ihn mit einem anderen Codewort versah als sonst für übersinnliche Phänomene üblich. Sie hielten ihn wohl für eine Art Kind des Satans wie aus Rosemaries Baby und nannten ihn »Feuerlümmel«, meiner Ansicht nach ein verdammt unpassender Name für ein Wesen, das man für den Antichristen hielt. Die Übernatürlichen, die damals das FBI infiltriert hatten, dachten vermutlich, es handle sich um einen üblen Scherz auf Kosten eines Rothaarigen.

Also war Conleth durch eine Serie von Zufällen in den Mühlen der Bürokratie versunken und in Vergessenheit geraten, bis dieser geheimnisvolle Geldgeber schließlich irgendwie von ihm Wind bekam. Dann wurden die Aufzeichnungen immer ungenauer und versiegten mit Silvers Entlassung schließlich völlig. Aber den Aussagen den Doktors zufolge war das die Zeit, als es für Conleth richtig schlimm wurde.

Unglücklicherweise konnten wir Silvers Behauptungen bezüglich der Morde in Chicago nicht so leicht überprüfen. Die Übernatürlichen waren alle sehr auf ihr jeweiliges Territorium fixiert, und auch Nell und Ryu hatten mir ihre übersinnliche Geografie eingehämmert. Ein Großteil der Gegend, die wir Menschen als den nördlichen Teil von Illinois kennen, gilt unter den Übernatürlichen als sogenannte Grenzregion. Ähnlich wie die unzugänglichen Berggebiete zwischen Pakistan und Afghanistan waren auch die Grenzregionen zwischen benachbarten Territorien gesetzlose Orte, wo die Alfar keine Regierungsgewalt besaßen. Doch Chicago war ein besonders extremer Fall. Die Stadt und ihre Randbezirke waren so etwas wie ein schwarzes Loch für die Alfar: Sie hatten schon Spione eingeschleust, doch keiner von ihnen war je wieder aufgetaucht. Diese riesige urbane Gegend, die allen Menschen bekannt war und die man sogar auf Google Maps ansehen konnte, blieb für die Alfar und ihre reinblütigen Untergebenen im Verborgenen.

Das machte sie sicher schier verrückt, aber scheinbar konnten sie nichts dagegen tun. Durch das Nachwuchsproblem bei gleichzeitig bereits niedriger Bevölkerungszahl, noch verschlimmert durch den Verrat der Naga – das Volk in Orins und Morrigans Territorium war bei dem Kampf gegen Jimmu und seine Geschwister starkt dezimiert worden – , hatten die Alfar einfach nicht genug Leute, um die Grenzregion aufs Geratewohl zu erobern.

Also steckten wir, was diesen Aspekt unserer Ermittlungen betraf, in einer Sackgasse. Ryu verfügte über keinerlei Verbindungen in die Grenzregion. Es wusste von keinen übernatürlichen Machtstrukturen, bei denen er Erkundigungen hätte einholen können. Also beauftragte er Camille, bei der menschlichen Polizei nachzuforschen. Aber über das Telefon waren die Möglichkeiten, ihre Aura einzusetzen, begrenzt, weshalb es eher unwahrscheinlich war, dass man dort irgendwelche sensiblen Informationen preisgeben würde. Ryu hatte außerdem Julian beauftragt, sich in das Computersystem des Chicago Police Department einzuhacken. Er sollte nach Leichen suchen, die verbrannt worden waren, damit wir neue Anhaltspunkte bekamen.

Aber Silvers Unterlagen lieferten uns dennoch ein paar Erkenntnisse für unsere Bostoner Ermittlungen. Nachdem mich Ryu in die Nähe des Piers beim New England Aquarium gebracht hatte, damit ich eine Runde schwimmen und meine Batterien wiederaufladen konnte, brüteten wir die ganze Nacht über Silvers Papieren und versuchten, Conleth genauer ins Visier zu bekommen.

Zu unserem Pech waren nur noch zwei Personen, die unter dem neuen Geldgeber gearbeitet hatten, am Leben. Eine davon war eine Empfangsdame, die sowohl zu Silvers Zeiten als auch später unter dem neuen Geldgeber für das Labor tätig gewesen war. Conleth war ziemlich ihn sie verschossen gewesen, aber sie hatte seine Gefühle nicht erwidert. Am Ende wurde er sogar gewalttätig gegen den Wissenschaftler, von dem er annahm, sie stehe auf ihn. Entweder hatte sie gekündigt, oder sie war entlassen und daraufhin durch die Frau ersetzt worden, die Conleth zusammen mit ihrem Freund getoastet hatte. Wenn Con schon zu jemandem, der nur am Empfang arbeitete, so grausam war, dann erschauderte ich bei der Vorstellung, was er wohl jemandem antun würde, der ihn darüber hinaus noch verschmäht hatte.

Das brachte uns auf das Bostoner Stadtviertel Allston und die Wohnung, in der Tally Bender, die frühere Empfangsdame, nun lebte. Es war schwer gewesen, sie überhaupt ausfindig zu machen, denn sie hatte bei ihrem damaligen Freund gelebt und war gerade dabei gewesen, dort auszuziehen, als sie den Job im Labor aufgab. Ganz abgesehen davon wohnten in Allston fast ausschließlich Studenten der Boston University und des Boston College, von denen die meisten nur zur Untermiete oder in Wohngemeinschaften lebten. Aber nachdem wir erst einmal eine Sozialversicherungsnummer in Silvers Unterlagen gefunden hatten, gelang es Julian doch, sie ausfindig zu machen.

Während die anderen zu Tallys Haus gingen, blieb ich mit Julian beim Auto, das Ryu ein paar Häuser entfernt geparkt hatte. Wir sollten sicherstellen, dass niemand unseren Freunden zu Tallys Wohnung folgte. Besorgt um die Sicherheit der jungen Frau, ließen Ryu und sein Team nicht mit sich reden und bestanden entschieden darauf, dass ich mich diesmal raushielt.

Begeistert war ich nicht, aber ich musste mich fügen. Wenn es um Verteidigung ging, war ich mittlerweile schon ziemlich gut, was Ryu auch durch die Tatsache, dass er mich bei Julian ließ, anerkannte, aber Angriff war noch immer nicht gerade meine Stärke.

»Tut mir leid, dass du den Babysitter spielen musst«, sagte ich zu meinem Halblingsfreund, der gerade einmal wieder seine Brillengläser mit dem Hemdsärmel polierte.

Er grinste mich an, und seine unglaublich langen Wimpern bildeten einen ausdrucksstarken Rahmen für seine meergrünen Augen, als er mir verschmitzt zuzwinkerte.

»Kein Problem. Ich bin gar nicht so scharf auf die ganze Action«, sagte er. »Wenn das hier ein Film wäre, dann wäre ich der Hacker. Derjenige, der über der Tastatur hängt, Schweißperlen auf der Stirn, und die Musik schwillt an, um davon abzulenken, dass ich eigentlich nur tippe.« Als seine Brille sauber war, setzte er sie wieder auf. »Natürlich stirbt der Hacker normalerweise in diesen Filmen, also hoffe ich, dass es mir besser ergehen wird.«

Ich lachte. »Was habt ihr bloß mit der Popkultur der Menschen? Habt ihr denn keine eigenen Sachen, die ihr zitieren könnt?«

»Ich bin ein Halbling, schon vergessen? Also interessiert mich auch meine menschliche Seite. Aber alle Reinblütigen lieben dieses Menschenzeug. Menschen wissen, wie man lebt. Jetzt werde ich mal philosophisch und behaupte, es liegt daran, dass sie wissen, dass sie sterben müssen, aber dieses Buch wurde bestimmt schon geschrieben.«

»Der menschliche Makel – unter anderem.«

»Interessante Wahl. Hätte nicht gedacht, dass du ein Philip-Roth-Fan bist.«

»Ich weiß, Frauen sollten ihn eigentlich hassen. Aber ich mag Roth. Er ist zwar brutal, aber ehrlich.«

»Du liest viel, oder?«

»Das war lange mein Lebensinhalt«, erwiderte ich und zog meine Ärmel weiter über die Handgelenke. Meine Gedanken wanderten zu Jason und all die Jahre, die ich um ihn getrauert hatte. Der Schmerz würde zwar immer bleiben, aber mittlerweile hatte ich gelernt, besser damit umzugehen. »Wie auch immer, ja, ich lese. Viel.«

Julian stupste mir mit dem Ellenbogen in die Rippen. Eine nette, wenn auch etwas unbeholfene Geste. »Tja, und jetzt erlebst du selbst genug für drei.«

Ich schnaubte zustimmend.

Wir saßen in einvernehmlichem Schweigen nebeneinander, bis ich eine Frage stellte, von der ich wusste, dass sie eigentlich unpassend war, aber ich wäre lieber gestorben, als sie nicht zu stellen.

»Kann ich dich mal was ziemlich Indiskretes, sehr Persönliches fragen, Julian?«

»Vielleicht. Kommt drauf an. Was denn?«

»Hast du je deinen menschlichen Vater kennengelernt?«

Julian starrte mich an, und einen Moment dachte ich, er würde die Antwort verweigern. Aber dann nahm er seine Brille ab und fing erneut an, sie verlegen zu polieren.

»Nein, ich habe ihn nie kennengelernt. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht einmal, dass meine Mutter ihn gut kannte. Er war im Grunde nur ein menschlicher Samenspender. «

Julians Stimme klang nicht verbittert, aber sein normalerweise so warmer Tonfall hatte eine gewisse Schärfe bekommen.

»Tut mir leid, ich hätte nicht fragen sollen.«

»Nein, ist schon gut. Wir Halblinge haben da wohl alle unsere Geschichte…«

Julians Worte wurden von Ryus Stimme unterbrochen.

»Deckung!«, brüllte er, und schon brach die Hölle los.

Ein brennender Körper stürzte aus dem ersten Stock von Tallys Wohnhaus und schlug mit einem abscheulich klatschenden Geräusch unten auf der Straße auf. Sekunden später flog Tallys Wohnung in die Luft.

Julian schützte mich mit seinem schmalen Körper und schirmte uns mit seiner Kraft ab. Wir waren zwei Häuser von der Explosion entfernt und konnten, als Julian sein Schild wieder herunterfuhr, dennoch die Hitze in unseren Gesichtern spüren.

»Meine Fresse!«, sagte ich schwer atmend. Julian sah im orangefarbenen Feuerschein genauso bleich aus wie ich.

»Du bleibst hier«, befahl er und rannte in Richtung des Brandherds davon. Die anderen traten die Eingangstür des Hauses ein, Daoud zog hektisch Feuerlöscher aus seiner Hose und drückte sie den anderen in die Hände. In Tallys Wohnhaus befanden sich mindestens fünf weitere Apartments. Es war Abendessenszeit, also waren die Leute vermutlich alle zu Hause.

Ich hastete los, hielt aber abrupt inne, als ich die Martinshörner in der Ferne hörte. Sekunden später hielten die ersten von Stefans übernatürlichen Polizeikräften in einem unauffälligen schwarzen Wagen vor dem brennenden Haus. Dann kamen die menschlichen Einsatzkräfte von Feuerwehr und Polizei. Die übernatürlichen und die menschlichen Notfallhelfer arbeiteten Hand in Hand. Die einen steuerten die anderen wie meisterliche Marionettenspieler, während die anderen diesen Eingriff überhaupt nicht wahrnahmen. Ich trat zurück und setzte mich auf die Motorhaube von Ryus Wagen, während ich das dirigierte Chaos beobachtete, das sich vor mir entfaltete, umringt von Anwohnern, die von der Explosion angelockt worden waren.

»Was ist passiert?«, hörte ich eine Stimme zu meiner Linken fragen. Erst als die Frage wiederholt wurde, begriff ich, dass sie an mich gerichtet war.

»Eine Explosion… wahrscheinlich eine undichte Gasleitung«, improvisierte ich, ohne mich nach dem Fragenden umzusehen.

»Eine undichte Gasleitung? Wow!«

Ich versuchte Conleths Strategie zu durchschauen. Selbst als ich mit Grauen zusah, wie die Sanitäter das Opfer des Halblingsifrits umringten, verspürte ich noch immer schreckliches Mitleid mit ihm – Mitleid, das sich durch das, was ich gestern in Dr. Silvers Unterlagen über ihn gelesen hatte, nur noch vertieft hatte. Unter den Papieren hatte ich eine Mappe mit Buntstiftzeichnungen entdeckt, auf denen Conleth ein kleines Strichmännchen gemalt hatte – umgeben von orangem Gekritzel – das von zwei größeren Strichmännchen an den Händen gehalten wurde, die weiße Kittel trugen. Eine herzzerreißende Parodie auf die Kinderzeichnungen zum Thema »Meine Familie und ich«, die ich selbst im Kindergarten gemalt hatte.

Der Mann neben mir redete weiter mit mir, obwohl ich ihm ganz offensichtlich nicht zuhörte.

»…mit alten Häusern ist oft etwas nicht in Ordnung«, fuhr er hartnäckig fort, auf mich einzureden.

Ich verkroch mich tiefer in meiner Jacke, als wäre mir kalt, aber in Wahrheit wollte ich mich wie eine Schildkröte in meinen Panzer zurückziehen.

Es waren auch Briefe an den Weihnachtsmann in Silvers Unterlagen gewesen, versehen mit den Notizen einer der Wissenschaftler über die psychologische Bedeutung, auf die Conleths Wünsche nach einem Basketball oder einer Transformer-Figur schließen ließen.

»Aber das ist eine ziemlich heftige Explosion für eine undichte Gasleitung.«

Ich seufzte und wandte dem Mann, der so hartnäckig auf mich einsprach, schließlich doch den Kopf zu. Er war groß und schlank und wirkte, abgesehen von seiner imposanten Größe, wenig anziehend. Seine Haare schimmerten im Feuerschein rötlich.

»Na ja, Gas ist hochentzündlich«, antwortete ich schroff.

Er grinste, als hätte ich soeben den lustigsten Witz gemacht, den er je gehört hatte.

»Würden Sie mit mir ein Eis essen gehen?«, fragte er, und ich zuckte irritiert zusammen.

»Wie bitte?« Es war Februar. Wir hatten uns noch nie zuvor gesehen, und nur ein paar Meter von uns entfernt lag eine Leiche auf dem Bürgersteig.

»Würden Sie mit mir ein Eis essen gehen?«, wiederholte er seine Frage, als seien wir alte Freunde.

Ich starrte ihn an und spürte, wie Ärger in mir aufstieg. Was für ein Problem hatte der Kerl?

»Es gibt da so einen Laden gleich um die Ecke in Brookline, in dem es hervorragendes Eis gibt. Ich liebe Eis.«

»Danke für die Einladung, aber nein. Ich bin mit meinem Freund hier, da vorn liegt eine verkohlte Frauenleiche, und außerdem ist es sowieso schon viel zu spät für Eis.«

»Komm schon, Jane. Du wirst den Laden lieben. Sie haben da dieses tolle Chocolate-Chip-Eis, deine Lieblingssorte …«

Ich zuckte zusammen, als ich meinen Namen hörte. Was ist denn jetzt los?, dachte ich und wich einen Schritt zurück.

Er reagierte darauf, indem er mich beim Arm packte. Sein Griff war fest und fühlte sich heiß an, selbst durch meine Lederjacke hindurch.

»Komm mit mir mit, Jane«, sagte er wieder, und ich riss mich von ihm los.

Meine Angst bestätigte sich, als ich ein Brennen spürte. Ich blickte hinunter zu meinem Ärmel und sah dort den Brandabdruck einer Hand, der noch schwelte.

»Ryu!«, schrie ich schrill und verließ mich auf das übernatürliche Gehör meines Freundes, in der Hoffnung, er käme zu meiner Rettung.

Das Gesicht des Mannes vor mir wandelte sich von gelassener Neutralität zu Bestürzung und dann zu feindseligem Ärger.

»Warum hast du ihn gerufen?«, zischte er. »Er kommt uns bloß in die Quere!« Ich wich weiter zurück und tastete nach der Motorhaube, verstärkte mein Schutzschild, während ich gleichzeitig versuchte, den Abstand zwischen mir und dem nun gar nicht mehr mysteriösen Fremden zu vergrößern.

»Jane, was ist los?«, hörte ich plötzlich Ryus Stimme hinter mir. Sie klang ruhig, aber leicht besorgt.

»Ryu, darf ich dir Conleth vorstellen?«, quietschte ich. »Conleth, Ryu.«

Ich spürte, wie mich die Hand meines Freundes am Hosenbund packte und mich von der Motorhaube erst an seine Seite und dann hinter sich schob.

»Conleth«, sagte Ryu grimmig. »Ich freue mich, dich hier zu sehen. So haben wir wenigstens die Chance, miteinander zu reden. Wir wissen, was man dir angetan hat…«

Doch bevor Ryu seine »Warum kommst du nicht mit uns«-Rede vollenden konnte, war der freundliche, dünne Kerl, der mich gefragt hatte, ob ich mit ihm Eisessen gehe, verschwunden. An seiner statt stand nun ein Flammenwesen, dessen glühendes Haar im Strudel der Kräfte, die sein gespenstischer Körper ausstrahlte, waberte.

Die Menschen, die um uns herumstanden, wichen panisch zurück und wurden sogleich von einer Gruppe von Stefans Leuten weggescheucht und mit einer Aura belegt. Ein paar weitere von Stefans Mitarbeitern spannten ein engmaschiges visuelles Schild um uns herum auf, der verhinderte, dass uns noch mehr Aufmerksamkeit der ahnungslosen Passanten zukam. Obwohl ich von meiner plötzlichen Konfrontation noch immer ziemlich erschüttert war, bewunderte ein Teil von mir dennoch die Effizienz, mit der die Übernatürlichen mit unerwünschten Zeugen fertigwurden.

Conleth jedoch schien nicht besonders beeindruckt davon.

»Erzähl mir nicht diesen Mist!«, fauchte er Ryu an. »Ich habe ihnen vertraut, und sie haben mich nach Strich und Faden belogen.«

»Das verstehe ich«, sagte Ryu beschwichtigend mit vernünftiger, ruhiger Stimme. »Ich verstehe, warum du uns nicht traust. Aber wir können dir helfen.«

»Ich helfe mir lieber selber«, knurrte Conleth. »Das ist es, was keiner von euch versteht. Für euch ist eure kleine Gemeinschaft, eure kleine Welt in Ordnung. Aber ihr seid schwach, und ich weiß das. Ihr seid alt und schwach, und ihr seid am Ende. Eure Zeit ist um!«

Conleth zischte vor Wut, sein Gesicht war zu einer grauenvollen Grimasse verzogen. Ryus übersinnliche Kraft wirbelte um uns herum, als er seine Schutzbarrieren noch verstärkte. Ich berührte seine Hand an meiner Hüfte und ließ auch meine Kraft in seine Schilde strömen.

»Jane und ich, wir sind die Zukunft. Im Gegensatz zu euch sind wir nicht schwach.« Conleth drehte sich zu mir und lächelte mich an, und plötzlich sah er geradezu verzückt aus. »Sie ist schön, innerlich und äußerlich, und sie ist stark. Genau wie ich. Wir sind Reinheit. Nicht ihr. Wir! Unsere Menschlichkeit macht uns rein.«

Na toll, dachte ich, als ich das Wort »Reinheit« in Conleths flammender Rede hörte. Offensichtlich ist er die Halblingsversion von Jarl. Was haben diese Irren nur alle mit Reinheit?

Ich persönlich hatte in mancher Hinsicht gar nichts gegen ein bisschen Verderbtheit.

Ryu nickte zustimmend bei allem, was Conleth sagte, als fände er es wirklich, wirklich interessant. Was allerdings, wie ich wusste, zum Standardvermittlerprogramm gehörte. Schließlich hatte ich den Film Verhandlungssache gesehen. Zu unserem Pech schien Conleth ihn auch zu kennen.

»Hör mit dem Genicke auf, du Idiot«, schrie er Ryu an. »Du glaubst mir doch sowieso nicht. Und du bist auch nicht meiner Meinung. Du bist genau wie all die anderen. Du bist ein Lügner und selbstgefällig noch dazu. Du bist lahm und ein Schwächling. Und bald schon wirst du ersetzt werden. Glaub ja nicht, dass ich nicht weiß, was hier los ist. Ich weiß von ihnen, auch wenn sie nicht zu mir kommen werden. Aber bald werde ich sie anführen, und dann werden wir euch allen den Garaus machen.« Conleth wandte sich wieder an mich. »Kommst du mit mir, Jane?«

Ich hütete mich, ihn darüber in Kenntnis zu setzen, dass ich solche Aussagen wie, ich sei auf seiner Seite, noch weniger schätzte als das verschwörerische Geschwafel von »ihnen«. Meinte er etwa, dass Phädra und ihre Mannschaft Ryu bei den Ermittlungen ersetzen würden? Wie kam er dazu, zu glauben, er könne diesen Haufen anführen? Jeder, der mit Jarl zu tun hatte, würde Halblinge genauso hassen wie er, selbst wenn Conleths Hinrichtung vielleicht gerade nicht ihre erste Priorität war.

Ryu versuchte mich noch weiter hinter sich zu schieben, aber ich ließ es nicht zu. Er würde meine extra Kraft noch brauchen, wenn er in die Offensive gehen wollte, und Con führte irgendetwas im Schilde, so viel war klar. Er tänzelte schon herum, als wolle er sich für den Angriff in Position bringen.

»Hör auf, sie festzuhalten«, forderte Conleth und starrte auf Ryus Hand, die an meiner Hüfte lag. »Sie will zu mir kommen, aber du lässt sie nicht.«

Er sagte das mit solcher Überzeugung, dass ich es für einen Moment beinahe selbst glaubte.

»Conleth, hier geht es nicht um Jane«, sagte Ryu sachlich. »Wir würden uns alle gern mit dir unterhalten, deine Version der Geschichte hören, aber wenn du willst, dass das passiert, dann musst du mit uns kommen…«

Ryu streckte Conleth die Hand entgegen, öffnete sich und verströmte Wärme und Verständnis. Er strahlte eine solche Integrität aus, ich hätte mein Geld darauf verwettet, dass der Ifrit-Halbling gleich geliefert sein würde.

Ich hätte es auch wirklich gemacht, wenn ich da nicht plötzlich das Messer hätte aufblitzen sehen, das Conleth aus seinem Ärmel zog. Es sah ziemlich stümperhaft aus, um ehrlich zu sein. Aber am Ende sollte sich zeigen, dass ich hier eigentlich die Stümperin war.

Als ich ein kleines Mädchen von vielleicht vier Jahren war, hatten wir zu Hause eine richtig alte Standuhr aus Urgroßvaters Zeiten. Sie lehnte bei uns an der Wand, stand allerdings alles andere als stabil. Sie war schon seit Generationen im Besitz der Familie meines Vaters, also war es unmöglich, dass wir sie weggaben. Eines Tages spielte ich im Flur auf dem Boden vor dieser Uhr, als sie plötzlich zu kippen begann. Mein Vater – mein menschliches Elternteil – war gerade am anderen Ende des Flurs damit beschäftigt, die alten Stiefel in unserem Dielenschrank auszusortieren.

Meine Mutter und anschließend auch Nick und Nan – unsere Nachbarn, denen meine Mom die Geschichte erzählt hatte – drückten es so aus: In der einen Sekunde war er noch über einen Berg Schuhe gebeugt und in der nächsten war er auch schon bei mir und zog mich von der umstürzenden Uhr weg, die daraufhin genau dort zersplitterte, wo ich gerade noch gespielt hatte. Damals war mein Vater noch ziemlich groß und kräftig, er bestand hauptsächlich aus Muskeln und war nicht gerade bekannt für seine Schnelligkeit und Eleganz. Aber meine Mutter behauptete immer, er habe sich wie ein Panther bewegt, um mich zu retten.

Ich konnte mich nicht mehr an dieses Ereignis erinnern, abgesehen von dem Krachen, als die Uhr in Stücke brach, und daran, dass mich mein Vater in den Armen hielt. Ich hatte keine Erinnerung mehr daran, woher er so plötzlich auftauchte und wie er so schnell zu mir gelangt war. Um ehrlich zu sein, hatte ich nie ganz geglaubt, dass die Geschichte wirklich stimmte.

Bis ich, Jane True von der Fraktion der Unsportlichen, wie eine zuschnappende Viper nach vorn schnellte. In der einen Sekunde war ich noch hinter Ryu, Conleth befand sich etwa sechs Schritte von uns entfernt, und in der nächsten hatte ich mich auch schon vor meinen Geliebten geworfen.

Der zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits fünf Schritte auf Conleth zugemacht hatte. Schließlich war Ryu auch kein Dummkopf und hatte ebenfalls damit gerechnet, dass Con etwas plante, und er war einen Tick schneller als ich. Pech, dass ich daran nicht gedacht hatte, als ich mich entschloss, ihm sein verdammtes Leben zu retten.

Ryus entsetzter Blick und meiner trafen sich in einem bedauerlich kurzen Moment, in dem ich das Gefühl hatte, meinen Körper verlassen zu haben. Mein Blick ging von Ryu zu Con, und ich sah, wie sein Gesichtsausdruck, der den von Ryu widerzuspiegeln schien, sich von wütend in irritiert verwandelte und schließlich in pures Entsetzen. Denn zu diesem Zeitpunkt war die Klinge schon tief eingedrungen.

Und zwar in meine Hand. Ich stand da und starrte mit offenem Mund auf den Stahl, der sich mitten durch meine Handfläche gebohrt hatte. Conleth hielt noch immer den Griff fest, als wäre er dabei, ein groteskes Kannibalenkebab zu servieren.

Leider verweilte ich nicht lange außerhalb meines Körpers.

»Du Arsch!«, rief ich atemlos und starrte in Conleths weit aufgerissene Augen, als dieser abrupt das Messer losließ. »Du hast mir das Messer reingerammt

Und dann packte mich der Schmerz. Ich hatte noch nie zuvor so etwas gespürt. Es fühlte sich an, als wäre ich von irgendetwas getroffen worden, also war es eine Art Aufprallschmerz, der bis tief in die Knochen reichte, einer von der Sorte, der viele schmerzhafte blaue Flecken hinterließ und vermutlich auch von ein paar zersplitterten kleinen Handknochen herrührte. Und zu allem Überfluss war da dann auch noch die Schnittwunde, die brannte und wehtat und sich ganz heiß anfühlte. Endlich verstand ich, warum die Leute sich krümmten, wenn sie verwundet wurden. Das lag wohl daran, dass der Schmerz sich anfühlte wie Millionen von Tausendfüßlern mit höllisch brennenden Beinchen, die auf den Nervenbahnen auf und ab rannten. Meine Beine gaben nach, ich musste mich setzen.

Ryu war sofort bei mir. Sein Gesicht war weiß wie ein Laken. Auch Caleb war da wie der Blitz, und beide starrten meine Hand an, als überlegten sie, nach welcher Strategie sie nun verfahren sollten.

Conleth verschwand in einem glühenden Feuerball, indem er wieder seinen Raketentrick abzog und davonschoss. Mehrere von Stefans Leuten nahmen sofort die Verfolgung des Kometen auf, während die Aura-Fraktion unter den Polizisten sich um die umstehenden Passanten kümmerte. Erst später sollte ich mich fragen, was sie den verblüfften Bewohnern von Allston wohl erzählt hatten. Dass es sich um einen Kometen gehandelt hatte? Eine Sternschnuppe? Oder einen schlechten Trip?

In diesem Moment jedoch dachte ich nicht weiter darüber nach. Ich war viel zu sehr mit dem Messer in meiner Hand beschäftigt.

»Zieh es raus«, jammerte ich mit zusammengebissenen Zähnen und hielt dem Satyr meine Hand hin. Caleb nickte, und Ryu kniete sich hinter mich. Er legte mir die Arme um die Brust, und ich dachte schon, er wolle mich umarmen. Ich begriff erst, dass er mich bloß festhalten wollte, während Caleb das Messer mit einer blitzschnellen Bewegung aus meiner Handfläche zog. Ich kreischte unkontrolliert auf, erfand allerlei Kraftausdrücke, als der Schmerz beinahe übermächtig wurde.

Paradoxerweise wurde ich trotzdem nicht ohnmächtig. Ständig fiel ich in Ohnmacht, außer, wenn ich es mir ausnahmsweise mal wünschen würde. Wie bescheuert ist das denn bitte?

In der Sekunde, als das Messer entfernt war, fing Caleb an mich zu heilen. Ich biss die Zähne wieder zusammen und fragte mich, ob es möglich war, dadurch seine eigenen Backenzähne zu pulverisieren. Meine Hand musste ganz schön in Mitleidenschaft gezogen worden sein, wenn Calebs Fürsorge so schmerzte. Aber als mein Blick auf das Messer auf dem Boden fiel, wurde mir klar warum. Es war riesig, und damit meine ich: Crocodile-Dundee-riesig!

»Der Arsch hat mir tatsächlich das Messer reingerammt … «, wiederholte ich verstört. Ryu küsste mich auf die Wange und drehte dann mit einer liebevollen Geste mein Gesicht zu sich.

»Was sollte das denn, Baby?«, fragte er sanft.

»Ich wollte dir das Leben retten«, informierte ich ihn, und meine Stimme klang nach einer interessanten Mixtur aus Betretenheit und Sarkasmus.

Er lachte leise. »Ach, Jane, was hast du dir nur dabei gedacht? «

»Vielleicht, dass ich Robo-Jane bin?«, erwiderte ich und zuckte zusammen, weil Caleb mit seiner Heilmagie gerade ein paar weitere winzige Knöchelchen kittete.

Ryu küsste mich zärtlich, und er löste seine Lippen nicht von meinen, als er etwas murmelte, das ich kommen hatte sehen: »Du hast dich für mich in ein Messer geworfen, Baby. Danke.«

Ich wurde blass und drehte meinen Kopf weg, damit ich Caleb beim Doktorspielen zuschauen konnte. Ich wusste, Ryu interpretierte meine Handlung als eine Art ultimative Liebeserklärung. Eine Vorstellung, bei der mir nicht ganz wohl war.

Du hast dich für ihn gerade in ein Scheißmesser geworfen, mischte sich mein Hirn trocken ein.

Jetzt ist er dir aber etwas schuldig, fügte meine Libido erfreut hinzu und fing sofort an, alle möglichen anzüglichen Vorschläge zu machen, auf welche Weise er sich erkenntlich zeigen könnte.

Ich ignorierte beide, mein Hirn und meine Libido, und konzentrierte mich stattdessen darauf, dem Satyr nicht meine Hand zu entreißen und zurück nach Rockabill zu rennen, wo alles so schön einfach war.

Ryu streichelte mir mit der Hand übers Haar. Ganz offensichtlich wartete er auf eine Reaktion von mir.

»Ja, na ja, so eine Schnittwunde tut ganz schön weh, Ryu. Ziemlich. Ich bin nicht unbedingt scharf auf eine Wiederholung. « Das war zwar nicht gerade subtil, aber zumindest redete er nun nicht mehr davon. Er lachte nur wieder leise, und ich lugte aus dem Augenwinkel zu ihm hoch. Er war noch immer ziemlich bleich. Normalerweise hatte mein Vampir einen strahlenden, gesunden Teint. Ich glaube, er ging ins Solarium, aber ich hatte es noch nicht übers Herz gebracht, ihn zu fragen. Wo ich herkam, gingen Männer nämlich nicht ins Solarium.

»Schade«, murmelte Ryu, während Caleb noch einen letzten prüfenden Blick auf meine Hand warf. Der große Ziegenmann untersuchte meine Handfläche noch einmal fachmännisch, bevor er mich für geheilt erklärte.

Ich bedankte mich bei ihm und zog meine Hand zurück. Doch bevor ich sie richtig in Augenschein nehmen konnte, hatte Ryu sie sich auch schon geschnappt.

Fürsorglich schleckte er mit der Zunge die Blutspuren daran ab und sorgte dafür, dass mir der Atem stockte. Caleb hüstelte und wandte sich ab, während der Vampir nacheinander jeden meiner Finger in den Mund nahm, daran saugte und mit seiner Zunge daran herumspielte. Schließlich leckte er auch noch behutsam die Fingerzwischenräume sauber, bis meine Hand völlig von Blut befreit war. Dann zog er mich an sich und küsste mich.

Und ich wischte meine nasse Hand verstohlen an meiner Jeans ab.

Ryus Küsse wanderten langsam von meinem Mund zu meinem Ohr, und seine leise Stimme schickte ein wohliges Schaudern über meinen Rücken. Ich war wirklich unverbesserlich; gerade wäre ich beinahe erstochen worden und schon war ich wieder total scharf auf ihn. Bestimmt wäre Hühnersuppe jetzt eher für mich angesagt als Heißer Vampir.

»Wirklich schade«, sagte er noch einmal. »Denn eigentlich hatte ich vor, dich mit nach Hause zu nehmen und zu baden.«

Ich keuchte leise, als Ryu mich hochhob und in seine Arme schloss.

»Erst unter der Dusche und dann mit meiner Zunge.«

Ich schnurrte und kuschelte mich enger an seine Brust, während er mich zu seinem Auto trug.

»Und dann… hätte ich da noch ein Messer für dich. Aber eins von der guten Sorte.«

Er schuldet uns was, erinnerte mich meine Libido nachtragend.

Und ich muss zugeben, dass meine noch immer leicht schmerzende Hand auch der Ansicht war, dass irgendeine Art der Wiedergutmachung tatsächlich angebracht war.

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Während ich an Ryus Decke starrte, bewegte ich die Finger meiner Hand und versuchte, die Steifheit zu vertreiben, während ich mich zu begreifen bemühte, dass ich gestern Abend beinahe erstochen worden wäre. Und damit meinte ich nicht mit Ryus metaphorischem Messer, sondern wirklich abgestochen. Mit einem echten Messer.

In Wahrheit war Ryus metaphorisches Messer auch gar nicht mehr zum Einsatz gekommen. Auf halbem Weg zu ihm nach Hause hatte sich bei mir der Schock bemerkbar gemacht, und ich war leicht melancholisch geworden.

Zweimal in zwei Wochen verarztet zu werden, hatte an meinen Kräften gezehrt. Calebs Kräfte hatten die Heilaktionen zwar dirigiert, aber es war meine eigene Körperenergie, die dabei verbraucht worden war.

Und ich hatte gesehen, wie ein Messer meine Hand durchbohrte; im Allgemeinen keine besonders angenehme Erfahrung. Also hatte mich Ryu, nachdem wir bei ihm angekommen waren, gleich im Bad ins heiße Wasser verfrachtet, bis mein Zittern nachließ und die blauen Lippen verschwunden waren. Dann hatte er mir noch allerlei Flüssigkeiten zu trinken gegeben und mich schließlich mit einer üppigen Dosis Valium ins Bett gesteckt. Ich hatte geschlafen wie ein Baby.

Vierzehn Stunden lang hatte ich mich komplett ausgeklinkt, und als ich wieder aufwachte – zum ersten Mal – war Ryu neben mir gerade in seine Vampirstarre gefallen. Abgesehen von den Fängen und davon, dass er hin und wieder ein bisschen Blut nippte, wirkte ein Vampir gar nicht sonderlich »vampirisch«. Die Schauermärchen der Menschen trafen in den meisten Dingen gar nicht zu. Aber nun schlief er so tief, dass ich verstehen konnte, warum die Legende besagte, er und seinesgleichen seien Untote, obwohl er natürlich gar nicht tot war.

Ich stand auf, schlang alles hinunter, was ich in Ryus Wohnung finden konnte, und trank einen ganzen Liter Orangensaft, während ich versuchte, nicht mehr daran zu denken, dass ich gestern beinahe abgestochen worden wäre. Dann kroch ich wieder zurück ins Bett, um noch ein bisschen mehr zu schlafen. Bald würde ich eine Runde schwimmen gehen müssen, aber erst wollte ich noch ein kleines Nickerchen halten.

Als ich zum zweiten Mal aufwachte, war es schon wieder Abend, und ich hatte das Bett für mich allein. Ich hörte, wie Ryu mit jemandem sprach, und nach einer Weile kapierte ich, dass es sich um den Typen handeln musste, der uns die Lebensmittel lieferte, die wir gestern bestellt hatten. Irgendwann wurden mir Sachen vom Lieferservice oder aus Restaurants zu viel, egal wie gut alles schmeckte. Wohlwissend, dass es langsam Zeit wurde, wieder unter die Lebenden zurückzukehren, stand ich schließlich auf und ging ins Bad, um meine Zähne zu putzen und mir das Gesicht zu waschen. Ich versuchte auch den Willen aufzubringen, mich unter die Dusche zu stellen, aber diesen Plan gab ich schnell wieder auf und legte mich stattdessen noch einmal auf Ryus riesiges Bett, starrte an die Decke und stellte mich endlich doch der Tatsache, dass ich gestern beinahe abgestochen worden wäre.

Nachdem er die Lebensmittel verstaut hatte, gesellte Ryu sich zu mir. Er zog sein T-Shirt und seine schwarze Jogginghose aus, bevor er unter die Bettdeckte glitt. Ich streckte ihm die Arme entgegen, und er zog mich an sich.

»Wie fühlst du dich?«, erkundigte er sich.

»Gut«, sagte ich nach ein paar Sekunden.

»Bist du sicher? Du klingst nicht so.«

»Mir geht’s wirklich gut. Es ist nur komisch, darüber nachzudenken.«

»Verstehe«, murmelte er und küsste mich auf die Wange. »Das ist es auch.«

»Danke, dass du dich nicht über mich lustig machst.« Wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, dann hätte ich mir die Chance, ihn mit so einer bescheuerten Rettungsaktion aufzuziehen, bestimmt nicht entgehen lassen.

»Baby, du hast versucht, mir das Leben zu retten. Okay, du hättest dich beinahe wegen nichts abstechen lassen, aber ist dir überhaupt klar, was es mir bedeutet, dass du das für mich riskiert hast?«

Ich kniff die Augen im Dunkeln zusammen. Es war alles so schnell gegangen; ich konnte mich noch nicht einmal mehr daran erinnern, was ich gedacht hatte, als ich es tat. Hatte ich gedacht, ich liebe Ryu und muss ihn deshalb retten? Oder war es bloß ein Reflex gewesen? Hätte mein Vater für jedes Kind so schnell reagiert oder nur für seine eigene Tochter?

Ach, halt doch mal die Klappe, fuhr meine Libido dazwischen und brachte meine grüblerischen Gedanken zum Schweigen. Er schuldet uns noch ein Nümmerchen.

Wie gewöhnlich setzte sich meine Libido durch, also war meine einzige Antwort auf Ryus unausgesprochene Frage mein Mund auf seinem.

Wir liebten uns behutsam und zärtlich. Ich wollte nicht, dass er merkte, dass meine Hand noch immer wehtat. Irgendwelche atlethischen Spielchen standen also außer Frage, aber darauf waren wir beide momentan sowieso nicht aus.

Danach duschten wir, und dann ging er, um mehr über die zweite noch lebende Person aus der Laborführungsriege, neben der armen Tally Bender, herauszubekommen. Dr. Silver hatte gewusst, wo wir Pat Hampton finden könnten, der als medizinischer Koordinator für all die »Untersuchungen« mit Conleth fungiert hatte und vom neuen Geldgeber eingesetzt worden war. Hampton hatte ein Doppelleben geführt: In dem einen war er verheiratet und hatte Kinder, in dem anderen flanierte er am anderen Ufer. Was ihm letztendlich das Leben gerettet hatte, auch wenn seine Familie dieses Glück nicht mit ihm teilte. Während er in seinem Liebesversteck mit seinem heimlichen Lover war, wurden seine Frau und die kleinen Söhne von Conleth im Schlaf verbrannt. Aber Silver hatte uns gesagt, wo wir ihn finden könnten, und Ryu hatte gestern, während ich schon schlief, noch ein Team zusammengestellt, um Hampton aus der Schusslinie zu bringen.

Ryu küsste mich zum Abschied und versprach, in ein paar Stunden zurück zu sein. Im Gegenzug musste ich ihm versprechen, niemandem die Tür aufzumachen, außer ihm oder einem seiner Leute. Dann war ich mir selbst überlassen. Ich fühlte mich noch immer erschöpft. Ein Messer in der Hand hatte meine Freude am Ermitteln etwas getrübt.

Als Erstes rief ich zu Hause an. Meinem Vater ging es gut, aber er machte sich Sorgen um mich. Außerdem wunderte er sich, dass er sich den Namen der Miniaturkrankenschwester einfach nicht merken konnte. Ich sagte ihm, dass ich ihn liebe und bald zurückkommen werde, was auch stimmte, zumindest hoffte ich das. Dann rief ich im Buchladen an. Sie wollten gleich zusperren, also war Tracy ziemlich kurz angebunden gewesen und hatte gleich wieder aufgelegt. Aber ich hätte schwören können, dass ich Miss Carol im Hintergrund jemanden zurechtweisen hörte.

Meine Güte, vertritt Miss Carol mich etwa im Laden?

Im Stillen betete ich, dass ich noch einen Job hätte, wenn ich zurückkäme, und dass Tracy mich nicht umbringen würde. Während ich noch darüber nachdachte, schlüpfte ich in mein Höschen und in eines von Ryus Hemden. Dann ging ich nach unten, um mir Abendessen zu machen. Ich durchstöberte den Kühlschrank und die Schränke und summte zufrieden vor mich hin, während ich meine Beute begutachtete. Bevor ich meinem kulinarischen Genie freien Lauf ließ, fummelte ich noch an Ryus iPod herum, der in einem topmodernen SoundDock steckte, bis ich die Killers gefunden hatte, und stellte sie auf Shuffle; nicht zuletzt, weil ich die leicht spastischen, aber trotzdem irgendwie sexy Tanzbewegungen des Sängers mochte. Ich zappelte selbst ein bisschen herum, bis mein Magen hungrig knurrend protestierte. Nach einem letzten Hüftschwung stellte ich die Zutaten zusammen. Ich wollte Linsen auf provenzalische Art machen mit zwei leckeren Filet Mignon Steaks, schön blutig. Dann stand noch ein grüner Salat auf der Karte, mit ganz viel Spinat und diesem super-knoblauchigen Dressing, das ich aus einem Barefoot-Contessa-Kochbuch hatte. Es war ein Lieblingsrezept von mir und meinem Dad und passte super zu Spinat. Außerdem brauchte man viel Eisen, wenn man mit einem Vampir zusammen war.

Um meine verletzte Hand zu schonen, schnitt ich langsam und vorsichtig die Zwiebeln, den Lauch und die Karotten und würfelte den Sellerie sorgfältig. Nachdem ich Ryus Le-Creuset-Topf aus der Originalverpackung befreit hatte, wusch ich ihn schnell ab und stellte ihn auf den Herd, um etwas Butter zusammen mit Olivenöl zu erhitzen. Als es leicht zu brutzeln anfing, gab ich das Gemüse hinein und drehte die Temperatur herunter, damit es langsam weich werden konnte. Ich wusch die frischen Kräuter, die ich für mein Gewürzsträußchen brauchte, und band sie anschließend zu einem kleinen Bündel zusammen, wofür ich ein schmales Stückchen Lauch benutzte. Dann schnitt ich den Knoblauch in ganz feine Würfel, ein paar Zehen für die Linsen und ein paar für das Salatdressing, die ich anschließend auch noch zerdrückte. Ein Glück, dass das mit dem Knoblauch und den Vampiren nicht stimmte, denn ein Leben ohne Knoblauch wäre undenkbar für mich gewesen. Wenn Ryu nicht mit Knoblauch leben könnte, könnte ich auch nicht mit ihm leben.

Als ich mit dem Knoblauchzerkleinern fertig war, legte ich das Messer weg, um das Gemüse umzurühren. Ich holte gerade die Linsen und einen Hühnerbrühwürfel aus dem Küchenschrank, als es laut an die Tür klopfte.

Ich erstarrte und stand dann für etwa dreißig Sekunden einfach so da, bis das Klopfen sich wiederholte.

Ich beschloss, dass es einer von Ryus Leuten sein musste, denn die Wächter, die Stefan abgestellt hatte, hätten nicht einfach irgendjemanden unten durch den Eingang spazieren lassen. Aber nur für den Fall, dass Conleth meine Beschützer ausgeschaltet hatte und nun mit Pralinen und dem Tod im Gepäck vor meiner Tür stand, kratzte ich die letzten Knoblauchreste von Ryus imposantem japanischem Küchenmesser und nahm es mit.

Ich zeige diesem Halbling, was ein Messer ist, dachte ich und stellte mich auf die Zehenspitzen, um durch Ryus Spion zu spähen. Doch alles, was ich erkennen konnte, war der durch das Sichtglas leicht verzogene Brustkorb eines Mannes. Also machte ich es wie eine alte Oma und rief mit zittriger Stimme: »Wer ist da?«

»Jane?«, kam die knurrende Antwort. Ich kannte nur einen Hundemann, der sprechen konnte und so knurrte.

»Anyan?«, fragte ich, nur um ganz sicherzugehen.

»Jane!« Er klang verärgert.

Bereits während ich mich an den Schlössern zu schaffen machte, wurde meine Vermutung bestätigt. Noch bevor ich das Bolzenschloss geöffnet hatte, hörte ich wieder seine raue Stimme.

»Verdammt, ich hätte mir eigentlich denken können, dass du hier bist.«

»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, erwiderte ich trocken, als die Tür schließlich aufging.

Anyan, in seiner Menschenform, antwortete, indem er mich finster anblickte, also starrte ich finster zurück. Oder zumindest versuchte ich es. Aber sein stahlgrauer Blick war einfach zu intensiv, und ich wich ihm aus, indem ich stattdessen lieber seine Stirn anstarrte.

»Habt ihr Conleth?«, erkundigte ich mich, nur um irgendetwas zu sagen.

»Nein«, erwiderte er. »Der Mistkerl ist schnell. Lässt du mich rein?«

Ich trat zur Seite, um ihn eintreten zu lassen. Als er an mir vorbeiging, konnte ich mir nicht verkneifen, ihn verstohlen zu betrachten.

Er war so groß, wie ich ihn in Erinnerung hatte, vielleicht wirkte er diesmal sogar etwas größer, weil er angezogen war. Mein Blick streifte seine schwarzen Stiefel und glitt dann hinauf zu seiner abgewetzten Jeans und der Biker-Lederjacke. Er trug eine Art Satteltasche über seiner kräftigen Schulter, und in der Hand hielt er einen Motorradhelm. Als ich das sah, lächelte ich; ich hatte mich immer gefragt, wie er sich fortbewegte. Er konnte ja schließlich nicht überall hinrennen, oder?

Als sich unsere Blicke schließlich wieder trafen, machte er noch immer ein finsteres Gesicht. Außerdem waren seine herausgewachsenen Haare ein schlimmer Fall von Helmfrisur.

»Ich habe nicht gewusst, dass du hier bist«, sagte er, »sonst wäre ich nicht so«, er deutete flüchtig auf sich selbst, »hier aufgetaucht.«

Ich wollte ihm schon sagen, dass er sich wegen mir nicht schick machen musste, als ich begriff, dass er gar nicht von seiner Kleidung sprach. Anyan meinte seine Form. Ich wollte ihn fragen, warum er immer als Hund zu mir kam, als er die große Klinge in meiner Hand bemerkte.

»Willst du jemanden umbringen?«, fragte er und machte eine Kopfbewegung zu dem japanischen Messer.

»Ach, ich habe nur ein paar Rachegelüste. Wäre gestern beinahe abgestochen worden.«

Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf vor Verblüffung, und sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr, so dass er mit seiner großen Nase und den vom Helm geplätteten Haaren ein bisschen aussah wie der Adler aus der Muppet Show.

»Wie bitte?«

»Messerattacke«, präzisierte ich. In dem Moment fiel mir ein, dass ich die Tür nicht wieder zugeschlossen hatte. Also drehte ich mich noch einmal um, und als ich mich anschließend wieder zu ihm wandte, erwischte ich ihn dabei, wie er mir auf die Beine starrte. Ich wurde rot, als mir einfiel, dass ich lediglich mit Ryus Hemd bekleidet war.

»Zieh mich kurz an!«, murmelte ich piepsig und hastete die Treppe hinauf.

Ich wühlte nach meiner schwarzen Stretch-Yogahose und einem Trägershirt, bevor mir einfiel, dass ich ja auch noch einen BH brauchte. Als ich vollständig bekleidet war, fühlte ich mich noch immer ein wenig nackt und wollte schon Ryus Hemd wieder überziehen. Doch dann änderte ich meine Meinung und schlüpfte lieber in meine lila Strickjacke. Ich nahm mir einen Moment Zeit, um mich zu sammeln, kämmte mir die Haare und putzte mir die Zähne, bevor mir fluchend einfiel, dass ich das Gemüse auf dem Herd vergessen hatte.

Ich spurtete nach unten in die Küche und machte mich schon auf einen Großbrand aus verkohlten Zwiebeln gefasst. Stattdessen fand ich Anyan vor, der mit einer Hand das Gemüse umrührte und mit der anderen das Sieb mit den Linsen unter den Wasserhahn hielt.

Ich starrte auf seinen Rücken, unsicher, was ich nun tun sollte, als er auch schon das Wasser abstellte und die Linsen in den Topf schüttete. Er rührte alles um, genau wie ich es getan hätte, bevor er den Brühwürfel hinzugab. Dann wühlte er ein bisschen in den Schränken, bis er einen weiteren fand, und gab auch diesen mit in den Topf.

Ich setzte mich ihm gegenüber an die Kücheninsel, um ihm zuzusehen, und legte die Stirn in tiefe Falten, als er die Temperatur hochdrehte und weiter im Topf herumrührte. Er hielt sich mein Bouquet garni unter die große Nase und roch daran, bevor er es mit in den Topf gab. Dann mahlte er etwas Pfeffer darüber, fügte Salz hinzu und rührte alles noch ein letztes Mal um, bevor er sich zu mir umdrehte und mich ansah. Er stützte sich mit den Handflächen auf dem kühlen Granit der Kücheninsel ab und blickte mir in die Augen.

Er hatte seine Jacke ausgezogen, und mir fiel auf, dass sein schwarzes T-Shirt ein Werbeaufdruck für Hundekuchen zierte. Wenn er mich nicht so angestarrt hätte, hätte ich darüber lachen müssen.

»Was machst du denn überhaupt hier? Und was soll der Scheiß, von wegen, du wärst beinahe abgestochen worden? «

Ich sah ihn argwöhnisch an. »Du hast dir einfach meine Linsen gekrallt.«

»Die Messerattacke, Jane?«, hakte er nach, ohne mich aus den Augen zu lassen.

»Hast du Knoblauch reingetan?«

»Ja. Jetzt erzähl mir, wie das passiert ist.«

»Ich rühre die Brühe normalerweise erst mit Wasser an …«

»Ich nicht. Und jetzt sag schon, was los war.«

»Das ist eine ganz schöne Verschwendung von Brühe.« Ich bemerkte, wie seine Nasenspitze zu zucken anfing.

»Ich schwöre bei allen Göttern, wenn du noch einmal ausweichst, dann stecke ich dich zu den Linsen.«

»Der Topf kocht gleich über!«

Anyan fluchte und fuhr herum, um die Temperatur herunterzustellen und den Topfinhalt umzurühren. Dann sammelte er sich einen Moment, und man konnte ihm deutlich ansehen, dass er sich zusammenreißen musste, bevor er sich wieder mir zuwandte. Auch ich nutzte die Gelegenheit, um durchzuatmen. Es war nicht so, dass ich absichtlich schwierig sein wollte, sondern ich wusste einfach nicht, wie ich mich in Gegenwart des menschlichen Anyan verhalten sollte. Der Hund Anyan war kein Problem, aber der Mann war ein ganz anderes Paar Schuhe. Paar Mann. Paar übernatürlicher gestaltwandelnder Hundemann. Was auch immer.

Und er hatte sich einfach meine Linsen unter den Nagel gerissen.

Anyan griff erneut zum Kochlöffel und nahm damit etwas Brühe auf. Dann drehte er sich wieder um und pustete darauf, um sie abzukühlen, bevor er mir den Löffel hinhielt, damit ich probieren konnte.

»Probier doch selbst«, forderte er mich auf.

»Okay so?«, fragte er, als ich gekostet hatte.

Ich nickte.

»Gut, und jetzt vergiss mal die Linsen und erzähl mir, was passiert ist.«

Ich sah ihn missmutig an, erzählte ihm aber trotzdem in so knappen Worten wie möglich, was mir zugestoßen war. Während meines Kurzberichts rieb ich mir gedankenverloren die noch immer leicht schmerzende Stelle an meiner Handfläche, wo das Messer eingedrungen war.

Als ich zu Ende erzählt hatte, starrte er mich schweigend an. Dann kam er um die Insel herum zu mir. Mit seiner großen Hand nahm er meine und hielt sie sanft fest, während er sie mit seiner Magie untersuchte.

Ich erschauderte, als ich seine Kräfte spürte, und entzog ihm meine Hand. »Anyan, ist schon okay…«, protestierte ich, aber er legte mir einen Finger auf den Mund und brachte mich so zum Schweigen. Der Barghest nahm sanft mein Kinn und hob mein Gesicht, so dass sich meine schwarzen Augen mit seinen grauen trafen. Er roch nach Kardamom und Leder und Mann. Und vielleicht ein ganz bisschen nach sauberem Hund.

»Sch … du hast noch immer Schmerzen. Lass mich das mal ansehen.«

Ja, verdammt, ich hatte wirklich noch Schmerzen. Also schob ich meine geballte Faust wieder in seine Handfläche.

Behutsam bog er mit beiden Händen meine Finger auf und strich mir mit den Daumen über die Handfläche. Ich wusste nicht, was heißer war: Anyans Haut oder die Heilmagie, die er durch mich hindurchfließen ließ. Ich fühlte mich wie ein Kind, klein wie ein Zwerg angesichts seiner imposanten Erscheinung, als er sich über mich beugte, völlig in sich gekehrt, während er in Ordnung brachte, was auch immer mir noch fehlte.

»Du hast dich in ein Messer geworfen, um Ryu zu retten?«, fragte er plötzlich und ließ mich damit zusammenzucken. Seine Stimme klang jetzt ganz leise, sogar heiser. Und seine Finger streichelten meine Haut unglaublich zärtlich.

»Ja«, sagte ich und wurde rot. »Es war ein richtiges Crocodile-Dundee -Messer.« Dann ließ ich den Kopf hängen. »Aber Ryu war schon zur Seite gesprungen. Also habe ich bloß ein Stück Luft gerettet.«

»Es geht nicht darum, was du getan hast, Jane. Sondern um die Intention.«

Ich runzelte die Stirn. Aber ich weiß nicht, was meine Intention war, hatte ich plötzlich das Bedürfnis Anyan anzuvertrauen, obwohl mir beim besten Willen nicht klar war, warum es mir so wichtig erschien, dass er das wusste.

Aber dann lenkte mich eine weitere warme Woge der Energie, die in meine Hand floss, von diesem Gedanken ab, und ich hörte – und fühlte – etwas zerplatzen. Der Schmerz war plötzlich weg, und ich konnte meine Finger wieder ohne Beschwerden ausstrecken.

»Du warst sehr tapfer«, sagte Anyan zu mir, und seine heisere Stimme klang etwas bedrückt.

Ich errötete und streckte meine Hand unter seiner schwieligen Handfläche aus.

»Tu so etwas nie wieder …«, sagte er und strich mir noch ein letztes Mal mit dem Daumen über die Handfläche, bevor er sich wieder dem Herd zuwandte, um die Linsen umzurühren.

Plötzlich war mir zu warm, und ich zog meine Strickjacke aus, während ich ihm dabei zusah, wie er am Temperaturregler herumdrehte, bis die Linsen nur noch auf kleiner Flamme vor sich hinköchelten. Meine Augen weiteten sich, als mir plötzlich alles klarwurde. Ich war so ein Idiot.

»Die Blockhütte«, sagte ich atemlos. »Sie gehört dir, oder? Nicht Nell.«

Er schnaubte, drehte sich aber nicht zu mir um.

»Du hast gedacht, sie gehöre Nell?«

Ich starrte seinen breiten Rücken an. »Mann, du warst ein Hund, als ich dir zum ersten Mal begegnet bin, da habe ich natürlich gedacht, dass das alles ist, was du bist. Und Hunde besitzen normalerweise keine Häuser.«

»Okay, aber wie dachtest du, kommt Nell an alles ran? Psychokinese?«, fragte er, nachdem er sich schließlich doch umgewandt hatte, um mich fragend anzusehen.

»Na, mit einer Trittleiter«, antwortete ich automatisch.

»Trittleiter?«

»Ja, Trittleiter. So wie ich eine benutze.«

Auf Anyans großem Gesicht machte sich ein Lächeln breit, und ich musste einfach zurücklächeln, so ansteckend war es. Es verwandelte ihn völlig.

»Arme kleine Jane. Dein Leben scheint eine einzige riesige Trittleiter zu sein. Wenn wir wieder nach Rockabill kommen, besorge ich dir Stelzen.«

Ich lachte und sah auf seine Hände hinab. Ich hatte gespürt, wie rau seine Haut dort war, auch wenn die Berührung selbst ganz sanft gewesen war. Sie waren narbig schwielig. Arbeiterhände.

Oder die Hände eines Künstlers, der so etwas wie Metallskulpturen anfertigte.

»Hast du die ganzen Sachen gemacht?«, fragte ich. »Die Kunst?«

Er nickte etwas verlegen. »Ja, das meiste davon. Das ist, was ich mache. In den Geldsachen der Menschen bin ich nicht so gut wie die anderen, also mache ich lieber das, was ich schon immer gemacht habe. Ich bleibe bei der Kunst. Glücklicherweise habe ich ein sehr gutes internationales Renommee, also verdiene ich ganz gut damit.«

»Die Sachen sind wundervoll. Besonders das im Badezimmer«, gestand ich, bevor ich mir darüber klarwerden konnte, dass das wahrscheinlich ein bisschen seltsam klang.

Er lachte, ein lauter, voller Klang, der die ganze Küche erfüllte.

»Ich wusste, dass es dir gefallen würde. Dass du verstehst, warum es da ist…«

Ich dachte darüber nach. »Es zeigt eine der Geschichten, die du mir erzählt hast, als ich im Krankenhaus war, oder?«

Er nickte. Ich beugte mich auf meinem Stuhl vor. »Und die Geschichte über den Kampfhund, der seine Leute rettete, das war eigentlich deine eigene, nicht wahr?«

Ich glaube, er wurde tatsächlich ein bisschen rot. »Ich wusste nichts anderes zu erzählen«, gab er zu.

»Es war eine gute Geschichte«, sagte ich leise zu ihm. »Ich wusste sie sehr zu schätzen.«

Seine großen Hände verkrampften sich, und er wandte sich wieder dem Herd zu, um die Linsen umzurühren.

»Also, du hast deine Leute gerettet und ein Wandbild aus Metall daraus gemacht, und dann hast du es im Badezimmer aufgehängt.«

Er zuckte zustimmend mit den Schultern.

»Sehr postmodern von dir«, sagte ich grinsend.

Er lachte leise und öffnete die Kühlschranktür.

»Ich nehme an, der zerstampfte Knoblauch war für etwas anderes gedacht?«

»Genau, den Salat. Das Rest dafür ist im Gemüsefach. Ich helfe dir.«

Ich schnitt die Tomaten und Oliven, während Anyan die Karotten rieb und den Salat wusch. Wir arbeiteten in einvernehmlichem Schweigen und brachen es nur, als ich das Dressing anrührte und er die Zutaten wissen wollte.

Ich zeigte auf die Steaks, die noch immer eingepackt bei Zimmertemperatur darauf warteten, gebraten zu werden. »Tut mir leid, wir haben bloß zwei Steaks. Aber du kannst die Hälfte von meinem haben.«

Anyan lächelte mich an. »Keine Sorge, Jane. Ich esse normalerweise kein Fleisch, außer ich habe es selbst erlegt.«

Ich sah ihn erstaunt an. »Warum?«

»Deshalb«, sagte er und piekste mit einem Finger in das Steak, das noch immer in Zellophan verpackt auf seinem Styroportellerchen lag. »Das ist irgendwie unsportlich.«

Ich schnaubte. »Du bist ein seltsamer Mann, Anyan. Oder Hund. Hundemann?«

»Barghest«, stellte er klar und stach noch einmal abschätzig in das Filet Mignon.

»Barghest«, wiederholte ich, als er mich direkt anlächelte, und plötzlich war ich froh, dass ich meine Strickjacke ausgezogen hatte. Bei all dem Kochen war es ziemlich warm in der Küche geworden.

»Was isst du dann so?«, wollte ich wissen.

»Na ja, normalerweise jage ich mir etwas. In unserer Gegend kann man hervorragend jagen. Und es gibt ein paar Leute in Rockabill und Umgebung, bei denen ich Fleisch kaufe. Aber ansonsten esse ich kein Fleisch. Abgesehen von zwei Ausnahmen, denen ich nicht widerstehen kann.«

»Und was sind das für Ausnahmen?«

»Haggis und White-Castle-Hamburger.«

»Was ist denn bitte Haggis?«

»Ein schottisches Nationalgericht, Schafsinnereien – also Herz, Leber und Lunge – mit Hafermehl und Gewürzen vermischt und im Schafsdarm gegart.«

Ich dachte kurz darüber nach. Und hatte nur eine Frage.

»Wie kannst du nur diesen White-Castle-Fraß essen?«

Er lachte. »Die Burger dort sind kleine, fettige Liebesbeweise, Jane. Also zieh nicht so über sie her.«

Mir lief ein kleiner, wohliger Schauer über den Rücken. Da ging die Wohnungstür auf.

»Honey«, rief Ryu, »ich bin zu Hause!«

Anyan und ich drehten uns zur Tür um. Dort stand Ryu und streckte mir den größten Blumenstrauß entgegen, den ich je gesehen hatte. Er starrte Anyan an. Und er sah alles andere als erfreut aus.

Ich zog meine Strickjacke wieder an.

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Das Abendessen verlief ziemlich… unbehaglich, obwohl die Linsen köstlich waren. Als wir mit dem Essen fertig waren und das Geschirr abgeräumt hatten, setzten wir uns noch einmal an Ryus Esstisch und besprachen das Geschäftliche.

»Weshalb genau bist du hier, Anyan?«, erkundigte sich Ryu.

»Ich bin hergeschickt worden. Nach der Geschichte mit Jimmu habe ich beschlossen, dass ich mich nun schon zu lange rausgehalten habe. In den letzten Monaten habe ich für die Alfar gearbeitet, bin Hinweisen nachgegangen, hatte ein Auge auf die Oberen«, sagte Anyan, ohne mich anzusehen. Ich wusste, wie sehr er sein heimliches Leben in Rockabill schätzte, und ich bedauerte, dass er seine schwer erkämpfte Freiheit wieder hatte aufgeben müssen. »Bei Hofe ist etwas aufgekommen, und ich wurde geschickt, um dich zu unterstützen. Und zwar von Morrigan persönlich.«

Ryu und ich tauschten Blicke aus. »Du bist nicht der Einzige, der uns zur Unterstützung geschickt wurde«, sagte Ryu.

»Die Alfar namens Phädra ist hier«, mischte ich mich ein. »Jarl hat sie entsandt.«

Anyan sah mich an und nickte. Er wusste, dass wir hier unser kleines Geheimnis berührten. Ryu war die Bedeutung von Jarls Beteiligung in dieser Sache nicht vollständig klar, denn er wusste nichts von Jarls Übergriff auf mich vor ein paar Monaten. Ryu war zwar klar, dass Jarls Einmischung nichts Gutes bedeuten konnte, aber nicht, wie schlimm es wirklich war. Er wusste nicht, dass Jarl mich für den Tod seines Ziehsohns verantwortlich machte; auch nicht, dass er versucht hatte, mich umzubringen, und dass es, als ihm das misslungen war, zwei Zeugen für seinen Übergriff gab. Ich hatte das Gefühl, dass Anyan und ich Ryu sehr bald die Wahrheit sagen mussten, und ich war nicht gerade scharf auf dieses Gespräch. Die beiden hatten so schon genug Alphamännchen-Querelen, ohne dass Ryu glauben musste, ich hätte Geheimnisse vor ihm. Geheimnisse, die ich mit niemand Geringerem teilte als mit dem anderen Platzhirsch.

»Ich weiß. Das ist auch ein Grund, warum ich hier bin. Aber wen hat Phädra mitgebracht?«, wollte Anyan von Ryu wissen.

»Kaya und Kaori. Fugwat. Und Graeme.«

Anyans Gesicht nahm wieder Ähnlichkeit mit dem Adler aus der Muppetshow an. »Graeme?«

Ryu nickte nur, als Anyan ihn finster anstarrte.

»Ich weiß«, erwiderte mein Freund. »Ich werde sie von ihm fernhalten.«

Mir lief ein eisiger Schauer den Rücken hinunter, wohlwissend, dass sie von Graemes ungesundem Interesse an mir zerbrechlichem Halbling sprachen. Aber obwohl ich ein ausgesprochen unwohles Gefühl hatte, meisterte ich die Situation mit dem für mich so typischen Fingerspitzengefühl.

»Und es kommt noch schlimmer«, krähte ich. »Es könnte nämlich sein, dass es in der Grenzregion noch mehr Morde gegeben hat, von denen nicht klar ist, ob Conleth sie begangen hat oder nicht.«

»Natürlich hat Conleth sie begangen«, sagte Ryu und verdrehte dabei genervt die Augen. Ich zuckte mit den Schultern. Ich würde mit Ryu nicht über dieses Thema streiten, aber wie Dr. Silver war auch ich nicht überzeugt, dass es Con war, der für diese anderen Verbrechen verantwortlich war. Er war so ungeschickt mit dem Messer umgegangen, und außerdem hätte ich schwören können, dass er ehrlich schockiert war, als er es in meinem Handrücken stecken sah. Er war eher der Typ, der Leute in die Luft jagte, sie aus der Ferne röstete oder ihre Häuser in Brand steckte, während sie schliefen. Aber Conleth trat nicht an Menschen heran und schlitzte sie auf, zumindest bis gestern nicht.

Außerdem hatte ich keinerlei Vergnügen in seinen Augen erkennen können, als sein Messer mich traf.

»Genaugenommen«, sagte Anyan, »sind diese anderen Morde der Grund, warum ich hier bin.« Der große Mann streckte sich und setzte sich leicht seitlich auf den Stuhl, damit er seine langen Beine besser ausstrecken konnte. »Einer von Nyx’ Kumpanen ist ein Baobhan Sith, ein berühmter Chirurg sowohl in der Menschenwelt als auch in der Welt von uns Übernatürlichen. Er hatte ein Verhältnis mit einer Menschenfrau, einer Ärztin aus Chicago, die aber die Hälfte ihrer Zeit in Boston zubrachte. Ihr Name war Brenda Donovan.«

Ryu und ich blinzelten überrascht. »Sie war auch Silvers Kontakt zu dem Unternehmen, das das Labor finanzierte«, sagte ich zu Anyan und erklärte ihm dann, wer Dr. Silver war.

»Tja, Silver ist nicht der Einzige, mit dem sie ihre Befürchtungen teilte. Kurz bevor Donovan starb, rief sie ihren Freund an und kündigte ihm an, dass sie ihm ein Päckchen schicken werde. Darin befand sich eine Liste mit Namen und eine Kassette mit ihrer Geschichte. Sie meinte, sie habe Angst, dass jemand hinter ihr her sei. Falls sie verschwinden sollte, solle er mit der Liste zur Polizei gehen. Sie dachte natürlich, er sei ein Mensch wie sie. Als sie dann wirklich verschwand, wusste er, dass sie tot war. Er behielt die Informationen ein oder zwei Wochen für sich, aber als er schließlich Einblick in den Autopsiebericht bekam und erfuhr, wie grausam sie ums Leben gekommen war, wandte er sich damit an Nyx. Nyx informierte Morrigan. Und Morrigan wiederum stellte den Zusammenhang zu Conleth her und wandte sich an mich.«

Wir verdauten diese neuen Erkenntnisse eine Weile.

»Aber wusste sie denn nicht, dass Jarl bereits jemanden auf Conleth angesetzt hatte?«, fragte ich schließlich.

»Natürlich wusste sie das«, erwiderte Anyan. »Ich war dabei, als Jarl sich und sein Team freiwillig dafür anbot. Er zog eine Riesenshow ab, von wegen, er habe ja gewusst, dass ein Halbling sich eines Tages erheben und zum Problem werden würde und dass er Phädra bereits auf einen Einsatz vorbereitet habe.«

»Aber Morrigan schickte auch ihre eigenen Leute los … Heißt das, sie traut ihm nicht? Zeichnet sich da etwa ein Bruch ab?«

Anyan nickte, und Ryu lächelte mich grimmig an. »Jarl mag ja vielleicht Orin in der Tasche haben, aber Nyx hat Morrigan auf ihrer Seite. Man glaubt es kaum, aber Nyx und Jarl hassen sich gegenseitig.«

»Wirklich?«, fragte ich ehrlich überrascht. Nyx war eine der fiesesten Kreaturen, die kennenzulernen ich das zweifelhafte Vergnügen gehabt hatte, und ich hätte wetten können, dass sie und Jarl wie für einander gemacht waren.

Ryu zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, es ist seltsam, aber sie haben sich schon immer nicht sonderlich gemocht. Ich denke, Nyx ist klar, dass Jarl sie immer als geringer ansehen wird, weil sie keine Alfar ist. Und jetzt findet Nyx bei der Königin ein offenes Ohr.«

»Also traut Morrigan Jarl nicht?«, fragte ich. Es war schon das zweite Mal seit den Ermittlungen vor vier Monaten, als Ryu und ich uns kennengelernt hatten, dass Morrigan ihre eigenen Leute loschickte.

»Wer weiß schon, was Morrigan denkt oder nicht denkt. Sie ist eine Alfar«, knurrte Anyan. Ryu zog die Braue hoch und musste darüber lächeln, was mir widerum ein Lächeln entlockte. Ich mochte es, wenn wir alle gut miteinander auskamen.

»Also, was wissen die Alfar jetzt genau über diese Ermittlung? «, erkundigte sich Ryu.

Nun war Anyan mit dem Schulterzucken an der Reihe. »Keine Ahnung«, erwiderte er. »Sie wissen, was ihr ihnen über die Morde hier in Boston berichtet habt, und das, was die tote Ärztin über weitere Morde in Chicago gesagt hat.«

»Und was weißt du über diese Morde?«, fragte Ryu.

»Nur sehr wenig. Donovan lieferte keine konkreten Informationen, sondern lediglich ein paar Namen. Sie wusste nur, dass ein paar ihrer Kollegen tot und einige weitere verschwunden waren. Es gab Todesanzeigen zu allen Leuten auf ihrer Liste, also war sie nicht verrückt. Aber weiter bin ich noch nicht gekommen, bevor Conleth in Rockabill auftauchte. Ich war nur kurz zu Hause, um nach Jane zu sehen, und anschließend wollte ich Donovans Behauptungen überprüfen. «

Ryu und Anyan starrten sich eine Weile gegenseitig an, bis Ryu schließlich aufstand und die Unterlagen holte, die Dr. Silver uns gegeben hatte. Er reichte Anyan die Akte über die »anderen« Morde.

»Woher habt ihr das?«, knurrte Anyan, als er ihren Inhalt durchsah.

»Von Silver. Ich weiß nicht, wie er all das zusammengetragen hat, aber offenbar hat er jede Menge Verbindungen. Und er ist ein schlauer, alter Bussard.«

»Das hier – das ist Brenda Donovan«, sagte Anyan und zeigte auf eines der Fotos. »Die Geliebte von diesem Baobhan Sith.« Er blätterte weiter, bis er zum Autopsiebericht kam. Er las ihn aufmerksam durch. »Habt ihr auch die Autopsieberichte von den Morden in Boston?«, fragte er.

Ryu nickte und suchte sie für den Barghest heraus. Anyan blätterte sie rasch durch. Schließlich gab es dabei nicht viel zu lesen. Sie waren alle verbrannt worden. Ende der Geschichte.

»Also haben wir zwei Gruppen von Morden. Wir wissen, dass Conleth für die eine verantwortlich ist, aber ob er auch die anderen begangen hat, darüber lässt sich streiten. Ich verstehe nicht, warum er seine Vorgehensweise so sehr ändern sollte. Außerdem habe ich ihn gejagt. Er ist schnell, und dieser Raketentrick eignet sich hervorragend für eine schnelle Flucht. Nicht zuletzt, weil wir dann Stunden damit beschäftigt sind, menschliche Zeugen mit Auren zu belegen. Aber er kann diesen Zustand nicht lange aufrechterhalten, und es schwächt ihn ungemein. Ich bin nicht sicher, ob er es so schnell bis Chicago und zurück schaffen würde. Einige der Morde in Chicago wurden nur wenige Tage nach Morden in Boston begangen.« Mit Hilfe einiger Polizeiberichte hatte er nebenbei schnell eine Zeitachse der Verbrechen angelegt. Alle drei blickten wir nun mit ähnlich frustrierten Gesichtern auf die Papiere in Anyans Händen.

Schließlich brach der Barghest das ratlose Schweigen. »Habt ihr in letzter Zeit irgendwelche neuen Spuren im Zusammenhang mit den Mordfällen hier gefunden?«

Ryu seufzte. »Wir hatten da eine Spur, aber Conleth kam uns zuvor.«

Ich erblasste. »Ist Hampton tot?«

Ryu nickte. »Er schwelte noch, als wir dort ankamen.«

»Wie um alles in der Welt hat Conleth ihn gefunden?«

»Silver ist verschwunden«, erwiderte Ryu. »Und mit ihm die Leute, die sein Haus bewachen sollten.«

Schockiert starrte ich auf meine Hände. Bisher waren alle, die von Conleth getötet wurden, nur Papiere oder Fotos für mich gewesen. Aber mit Dr. Silver hatte ich sogar einen getrunken. Er schien ein netter Mann zu sein. Na ja, abgesehen von der Tatsache, dass er im Auftrag der Regierung ein Kind gefangen gehalten hatte.

»Und was die Infos über die Morde in Chicago betrifft, da haben wir wirklich die Arschkarte gezogen. Julian arbeitet daran, in ihren Polizeiakten Todesfälle mit Brandeinwirkung ausfindig zu machen, aber…« Ryu zuckte resigniert mit den Schultern. »Wir bekommen einfach nicht mehr Informationen aus der Grenzregion.«

Anyan blickte Ryu lange an, als wäge er seine Möglichkeiten ab. Schließlich sagte er: »Nenn mir ein paar Namen, und ich sehe, was ich tun kann.«

Ryus Augen verengten sich, und er presste die Lippen zusammen, als er den Barghest anstarrte. »Willst du mir damit sagen, deine Verbindungen reichen bis in die Grenzregion? «

Anyan zuckte kaum merklich mit den Schultern.

»Wissen der König und die Königin davon?«, fragte Ryu verärgert. »Wenn du etwas weißt, was wir nicht wissen …«

»Bleib locker, Baobhan Sith«, erwiderte der Barghest. »Ich habe nichts Relevantes geheim gehalten. Es ist immer noch mein Leben«, knurrte er und setzte Ryus Fragen damit ein klares Ende.

Na super, dass alle ihr eigenes Leben haben, fuhr es mir durch den Kopf, und ich musste daran denken, wie ich selbst mehr und mehr entwurzelt wurde. Ryu war wenig begeistert von Anyans Antwort, und er funkelte den Barghest über den Tisch hinweg wütend an.

Wie immer darauf erpicht, die Spannungen zwischen den beiden beizulegen, fragte ich Anyan, wie die Verfolgung von Conleth gelaufen war. Als Antwort bekam ich ein seltsam trauriges Lächeln und einen Bericht über alle Geschehnisse nach Conleths Angriff auf uns in Rockabill. Es hatte jede Menge Verfolgungsjagden gegeben, ein paar Kämpfe, und am Ende war es Anyan gelungen, den Ifrit in einem Schlupfloch hier in der Bostoner Gegend aufzuspüren. Aber Con hatte wieder fliehen können und war nicht mehr zurückgekehrt. Doch zumindest wussten wir jetzt, wo er gewohnt hatte.

Nachdem Anyan seinen Bericht beendet hatte, entwickelten er und Ryu einige Theorien darüber, wie Con überhaupt nach Maine gekommen war.

Sie nahmen an, er habe uns im Park angegriffen und zunächst geglaubt, ich sei nichts weiter als irgendeine weitere menschliche »Bettgenossin« von Ryu. Hier sei unbedingt erwähnt, dass meine Gesichtszüge bei dieser Hypothese ausgesprochen entspannt blieben. Wie dem auch sei, als ich Ryu dann bei der Abwehr half und Con sah, dass ich auch zu den Übernatürlichen gehörte, war er offenbar neugierig geworden und hatte sich daraufhin in Ryus Computer gehackt. Anscheinend hatte Ryu sich ein Computerspiel namens Elfenbowling heruntergeladen, das irgendein Schadsoftware-Virus-Ding enthielt, das sich in seinen Computer gefressen und jede Menge Spyware hinterlassen hatte. Oder irgend so etwas. Ryus Erklärug, die vermutlich ursprünglich von Julian stammte, war etwas wirr, aber ich verlor sowieso den Anschluss, sobald er mit dem Fachsimpeln anfing. Zu meiner Verteidung kann ich sagen, dass Anyan bei Ryus Gefasel gelangweilt aus dem Fenster schaute wie ein Mathegenie im Anfängerkurs.

Ein paar Tage, nachdem Con meinen Wohnort herausbekommen hatte, war er nach Rockabill aufgebrochen.

»Er scheint es wirklich auf mich abgesehen zu haben«, sagte Ryu bedauernd, »wenn er sogar dich deshalb ins Visier nimmt. Sorry, Baby.« Er zog meine Hand an seine Lippen und küsste die Innenfläche, wurde dabei aber von einem verächtlichen Schnauben des Barghest gestört.

»Oh nein, er ist nicht an dir interessiert, Baobhan Sith.«

Ryu legte erstaunt die Stirn in Falten. »Was soll das heißen? «

»Du hast nicht gefragt, was ich in seinem Unterschlupf gefunden habe.«

Die Augen meines Geliebten wurden schmal. »Jetzt sei nicht so kryptisch. Sag schon, was du entdeckt hast.«

Der Barghest erhob sich. »Das müsst ihr sehen, sonst glaubt ihr es nicht. Am besten bringen wir es gleich hinter uns.«

Anyan wandte sich mir zu, und sein Ausdruck wurde deutlich milder.

»Jane, mach dich auf etwas Erschreckendes gefasst. Aber ich denke, es ist besser, wenn du es mit eigenen Augen siehst, damit du weißt, wie ernst die Sache ist. Keine Sorge, du bist sicher. Ich werde dabei sein, und Ryus Team ist auch schon dort. Ich habe Caleb vorher informiert.« Ryu blickte finster drein, sichtlich verärgert, dass Anyan sich ohne sein Wissen an seine eigenen Männer gewandt hatte, aber der Barghest schenkte ihm keinerlei Beachtung.

»Bereit?«, fragte er.

»Nein«, antwortete ich ganz ehrlich. »Aber bringen wir es hinter uns.«

Und obwohl ich keine Ahnung hatte, was »es« wirklich war, wusste ich doch, dass es nichts Gutes sein konnte.


Das Schlupfloch befand sich in Southie in einer verlassenen Mietskaserne. Anyan fuhr hinter uns auf einem schön restaurierten Motorrad der Marke Indian, das ich mir nur allzu gern näher angeschaut hätte.

Durch den Seitenspiegel warf ich einen Blick auf den Barghest, als Ryu mit dem Wagen plötzlich einen Satz nach vorn machte, dann einen zurück, und dann, das schwöre ich, glitten wir seitwärts in eine Parklücke, die eigentlich selbst für ein Kindergartenkind auf einem Dreirad zu klein war. Ich überlegte, ob ich ihm einen gepfefferten Vortrag über seinen Fahrstil halten sollte, doch just in diesem Moment wurde die Beifahrertür aufgerissen und ich mit einem enormen Penis konfrontiert.

Der Penis trat zur Seite, und eine große Hand streckte sich mir entgegen, um mir aus dem Wagen zu helfen.

Caleb, dachte ich.

»Hosen«, brummelte ich.

»Hä?«, erkundigte sich das Wesen, das zu dem Pimmel gehörte, höflich.

»Ach nichts«, erwiderte ich und sagte mir, dass, wenn er kein Problem damit hatte, kein Höschen zu tragen, auch ich mal über meine menschliche Prüderie hinwegsehen könnte, schließlich waren es seine Genitalien. Ich nahm also die Hand des Ziegenmanns und ließ mir von ihm aus dem Wagen helfen.

Er lächelte mich wohlwollend an, und ich beschloss, dass ich ihn trotz seines legeren Kleidungsstils mochte. Doch da rutschte ich auf einer Eisplatte aus und griff, um nicht der Länge nach hinzufallen, reflexartig direkt an seinen Schritt.

Entsetzt über die Berührung mit seiner nackten Haut, ließ ich eilig los, noch bevor ich wieder richtig Halt gefunden hatte … und rutschte prompt weg und knallte mit dem Gesicht voraus auf den Gehweg.

»Jane!«, rief Ryu, und schon zogen mich vier Paar starke Arme vom Boden hoch.

Meine Nase blutete, und ich sah Sternchen. Sie drehten sich um die besorgten Gesichter von Ryu, Anyan und Caleb, der gleich seine Hand auf meine Nase legte und seine warme Heilmagie fließen ließ. Das vierte Händepaar musste zu Daoud gehört haben, der mich angrinste wie eine Kürbislampe und mir ein weißes Taschentuch ans Kinn drückte, das das Blut aufsaugte, das mir übers Gesicht lief. Ich wollte gar nicht wissen, wo er das Taschentuch herausgezogen hatte.

»Bist du okay? Was ist passiert?«

Über Calebs heilende Finger hinweg sah ich Ryu verlegen an.

»Schürze«, murmelte ich, wobei mein Mund noch immer teilweise von der Hand des Satyrs bedeckt war. »Oder ein Lendenschurz …«

Daoud lachte lauthals los, während Ryu noch immer leicht verwirrt aussah. Mir fiel ein, dass er ja auf der anderen Seite des Autos gewesen war und somit nicht gesehen hatte, was passiert war.

»Was?«, fragte er irritiert.

Daoud klopfte ihm mit der Hand auf die Schulter. »Sie ist okay, Chef. Sie hat sich nur ablenken lassen von der Größe von Calebs… Hörnern. Das ist alles.«

Ryu warf mir einen seltsamen Blick zu, und ich funkelte Daoud wütend an.

»Geht’s wieder?«, mischte sich auch noch Caleb ein.

Ich murmelte ein peinlich berührtes »Ja, danke«, und vermied es, ihm in die Augen zu blicken.

»Gut, dann lasst uns mal reingehen, oder?«, schlug Ryu vor und legte seinen Arm energisch um meine Taille. »Und diesmal bleibst du auf den Füßen, ja, Jane?«, murmelte er mir ins Ohr und fing sich damit einen spitzen Ellenbogen in die Rippen ein.

Wir gingen zum Eingang, wo Anyan bereits auf uns wartete. Dann stiegen wir gemeinsam die Treppen hinauf. Der Barghest führte uns zu einer Wohnung im zweiten Stock und legte mir die Hand auf die Schulter. »Denk dran, Jane«, sagte er beruhigend, »wir sind alle hier. Und vergiss nicht, dass all das nur in Cons krankem Kopf passiert. Du hast nichts damit zu tun.«

Ich nickte, aber mein Herz rutschte mir in die Hose. Eigentlich wollte ich wirklich nicht da hineingehen.

Aber ich tat es dennoch. Zuerst Anyan, dann Daoud und dann Ryu und ich. Er hatte seinen Arm beschützend um mich gelegt. Diesmal war ich froh über seine Besitzansprüche, die mir sonst oft lästig waren. Caleb folgte als Letzter, und es war ein gutes Gefühl, ihn hinter mir zu wissen.

Was mich in der Wohnung erwartete, war gar nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte. Teilweise war ich aber vielleicht auch davon abgelenkt, wie traurig Conleths Leben war. Nun verstand ich auch, warum man Schlupflöcher »Schlupf-Löcher« nannte. In der Ecke lag eine versiffte Matratze, und daneben stand ein ziemlich ramponierter Gartenstuhl, und damit hatte es sich schon mit Möbeln. Was auch immer Con an Klamotten besaß, musste er bei sich haben, denn hier lagen bloß ein paar alte T-Shirts und ein Paar abgelegte, ziemlich verdreckte Boxershorts herum. Dem ganzen Müll zufolge, der am Boden verstreut war, lebte Con von billigem Fastfood, das er sich vermutlich irgendwo klaute.

Abgesehen davon hätte ich durchaus Grund gehabt durchzudrehen. Denn die Wände waren mit Fotos von mir zugepflastert. Sie waren mit einem billigen Drucker auf normalem Papier ausgedruckt worden, aber man konnte mich deutlich genug erkennen. Es waren dieselben Fotos wie aus Ryus digitalem Bilderrahmen, nur dass diejenigen, auf denen auch er zu sehen war, nicht dabei waren. An der Wand über der versifften Matratze klebte das Foto, das mich schlafend zeigte, und das auf dem ich, auf den Kirchenstufen sitzend, die Zunge in die Kamera streckte.

»Es ist nicht Ryu, auf den er es abgesehen hat. Du bist es«, sagte Anyan zu mir von der Seite, die nicht von einem sehr beunruhigten Vampir in Anspruch genommen wurde. »Geht’s?«

Ich sah ihn an. »Ja«, sagte ich. »Es hätte schlimmer sein können. Ich hatte gedacht, es wäre … noch schmieriger. Mit Fotos an der Wand komme ich noch klar.«

Anyan lächelte mich an und hob die Hand, als wolle er mir übers Haar streichen, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Nicht zuletzt, weil Ryu mich fester an sich und etwas von Anyan weggezogen hatte.

Ich befreite mich aus den Klauen von Mister Eifersüchtig und wandte mich wieder an Anyan.

»Aber ich verstehe es nicht. Warum ich?«

Der Barghest griff in seine Lederjacke und zog ein dickes Bündel zerfledderter, abgegriffener Blätter heraus.

»Ich habe sie nicht gelesen. Sie lagen am Bett.«

Ich zögerte, bevor ich die abgegriffenen Zettel nahm. »Sind sie schmierig

Anyan knurrte sein brummendes Lachen. »Nein. Nur… abgegriffen.«

Es waren all meine E-Mails an Ryu, ausgedruckt und zusammengeheftet. Daoud schlenderte herüber, und obwohl er unbeteiligt tat, konnte ich sehen, dass er versuchte, einen Blick auf ihren Inhalt zu erhaschen. Mir wurde klar, dass alle im Raum, abgesehen von Ryu und mir, vermutlich annahmen, dass es sich um sexy Liebesgeflüster handelte, dass Ryu und ich uns schmutzige E-Mails geschrieben hatten, was auch Cons Interesse daran erklärte.

Ryu verdrehte die Augen über seinen Mitarbeiter und befahl allen, die Wohnung noch einmal gründlich zu durchsuchen, Daoud eingeschlossen. Ich setzte mich in eine Ecke, um die E-Mails durchzublättern. Ich wusste ja im Prinzip, was darin stand, aber ich hoffte, einen Anhaltspunkt dafür zu finden, was Conleth von mir wollte. Was an mir ihn so interessierte oder wodurch er sich so angezogen fühlte. Denn vielleicht konnten wir seine kleine Schwäche ja für uns ausnutzen. Die E-Mails waren leider nach Datum geordnet, denn ich hatte gehofft, Con habe seine Favoriten ganz nach oben gelegt. Oder sie zumindest gekennzeichnet. Aber das wäre natürlich zu einfach gewesen.

Trotzdem sahen manche Seiten zerlesener aus als andere. Dummerweise schienen die abgegriffensten diejenigen zu sein, in denen ich über mein Leben zu Hause und den Gesundheitszustand meines Vaters geschrieben hatte. Diese E-Mails waren ein Beweis meiner Liebe für meine Familie, und Cons Interesse an eben diesen E-Mails war ein Hinweis darauf, zumindest für mich, wie verzweifelt er darüber war, dass ihm selbst eine solche Liebe fehlte.

Ich blätterte weiter, versuchte noch mehr Hinweise zu finden und blickte nur hin und wieder auf, wenn einer von Ryus Leuten etwas fand, das ihm von Interesse schien. Ich war so abgelenkt, als Daoud – und natürlich war es Daoud – Cons Pornoversteck aufstöberte, dass ich beinahe den Notizzettel übersehen hätte, der zwischen den restlichen größeren Blättern mit meinen E-Mails steckte.

Es handelte sich um eine handschriftliche Notiz, die einfach nur lautete:

Felicia Wethersby
Sie wusste es

Die Schrift war groß, geschwungen und wirkte altmodisch. Es handelte sich definitiv nicht um Cons verkrampfte, nur aus Großbuchstaben bestehende Druckschrift, die mir aus den Akten mittlerweile so vertraut war.

»Ryu! Anyan!«, rief ich und schreckte aus meiner Versunkenheit hoch, als mir klarwurde, dass ich, anders als Daouds Fund von Heiße Hausfrauen, womöglich wirklich etwas entdeckt hatte.

Ich hielt den Notizzettel hoch, den Anyan mir abnahm, während Ryu mir auf die Beine half. Die beiden Männer betrachteten ihn gemeinsam.

»Das ist nicht seine Schrift«, bemerkte Ryu, und ich schüttelte zustimmend den Kopf.

»Definitiv nicht seine Schrift…«

»Wer ist Felicia Wethersby?«, fragte Anyan.

»Keine Ahnung. Julian!«, bellte Ryu, und eine Sekunde später spähte der hagere Halbling auf den Zettel.

»Bin dran, Chef«, murmelte er und eilte zu seinem Rucksack, in dem sich sein Laptop befand. Damit setzte er sich auf den schäbigen Gartenstuhl.

»Wer zur Hölle hat diesen Zettel geschrieben?«, fragte ich.

»Keine Ahnung«, erwiderte Ryu. »Setz es auf die lange Liste der Dinge, die wir noch herausfinden müssen.«

Ich schüttelte ratlos den Kopf und starrte finster auf den Zettel. Wie konnte etwas so Nützliches gleichzeitig so verwirrend sein?

Ein paar Minuten später präsentierte Julian uns die Antwort. »Ich glaube, ich habe sie. Es gibt eine Felicia Wethersby bei LinkedIn. Sie arbeitet als persönliche Assistentin in einer Privatklinik, die von Dr. B. L. Donovan geführt wird. Und wir haben eine Adresse.«

Ryu klatschte mich freudig ab, zog mich dann an sich und küsste mich.

»Hab dir doch gesagt, dass ich ganz nützlich sein kann«, murmelte ich ihm, ziemlich zufrieden mit mir selbst und meinem Fund, ins Ohr.

»Daran hätte ich nie zweifeln sollen«, antwortete er.

Ganz genau, Vampir, dachte ich. Als ich mich umdrehte, fiel mein Blick auf Anyan, der uns stirnrunzelnd ansah. Ich wurde knallrot, zog den Kopf ein und ging schnell zu Julian hinüber, der noch immer aufmerksam auf den Bildschirm seines Laptops starrte.