KAPITEL 4
Ich seufzte begeistert, als wir über die nächtlichen Lichter von Boston schauten. Ryu hatte die Arme um mich geschlungen und flüsterte mir ins Ohr, während er auf verschiedene Sehenswürdigkeiten am Horizont zeigte. Nachdem ich mich sattgesehen hatte, kehrten wir an unseren Tisch beim Fenster zurück, um unsere Cocktails zu schlürfen.
Wir waren im Top of the Hub, einem Bar-Restaurant, das sich im obersten Stockwerk des Boston Prudential Tower befand. Ich hatte das Gefühl, dass Ryu das Top of the Hub etwas zu touristisch fand, um wirklich cool zu sein. Aber er hatte mich trotzdem hergebracht, denn er wusste, wie sehr ich die Aussicht genießen würde.
Zu Abend gegessen hatten wir in einem Laden, der so schick war, dass seine Adresse gleichzeitig einfach sein Name war. Es war ein ausgesprochen kleines, intimes Restaurant, wo man uns wie Könige behandelte. Am Tisch neben uns saßen lauter Männer, die wie Scheichs gekleidet und anscheinend tatsächlich Mitglieder der saudischen Königsfamilie waren. Also hatte ich den direkten Vergleich.
Wir hatten ein Sieben-Gänge-Degustations-Chefmenü bestellt, zu dem sieben verschiedene Weine gereicht wurden, und Ryu hatte sicher irgendeinen Stoffwechselzauber auf mich angewandt, damit ich nicht völlig betrunken wurde.
Nun befand ich mich einmal wieder in dem körperlichen Zustand, den ich mittlerweile mit meiner Zeit mit Ryu assoziierte: pappsatt, leicht beschwipst von Wein und Lust und total verwöhnt. Einem Mädchen könnte es durchaus schlechter gehen.
»Nell hat mir erzählt, du hast keine großen Schwierigkeiten mehr, deine Schilde hochzukriegen, auch wenn es noch nicht ganz so reflexartig klappt, wie es sein sollte.«
»Genau«, sagte ich und verkniff mir, ihn darauf hinzuweisen, dass er gerade »hochkriegen« gesagt hatte.
»Na ja, deine Reflexe werden sich nach und nach und mit etwas mehr Erfahrung schon noch entwickeln. Du musst mehr Zeit mit deinesgleichen verbringen, abgesehen von Nell und ihren Leuten. In Rockabill lebst du wie in einer Blase.« Ich runzelte die Stirn, und er verdrehte die Augen. »Ich meine ja bloß, Rockabill ist nicht die echte Welt. Aber in der Zwischenzeit kann ich dir ja auch ein paar Dinge zeigen, solange du hier bist. Nell meinte, du seist bereit für die Aura, also können wir anfangen daran zu arbeiten, wenn du willst.«
Ich grinste. »Super.«
»Ich glaube, du wirst gut darin sein. Du bist kreativ, und wenn du dich konzentrierst, wirst du eine ungeheure Kraft haben. Wir müssen dich nur noch dazu bringen, dich wirklich zu konzentrieren.«
»Hmm?«, fragte ich, denn ich war zu sehr damit beschäftigt gewesen, meinen Fuß an seinem zu reiben, um ihm zuzuhören.
»Genau das meine ich.« Ryu lachte süffisant. »Auch wenn ich es begrüße, wodurch du dich ablenken lässt.«
Er stand auf, schob seinen Stuhl neben meinen und zog mich an sich. Er küsste mich auf die Nasenspitze, auf den Mund und saugte zärtlich an meiner Unterlippe.
»Du weißt ja gar nicht, wie gut es ist, dich hierzuhaben, Baby«, murmelte er zwischen zwei Küssen.
»Ich freue mich auch, hier zu sein. Ich finde es schön, zu sehen, wie du lebst.«
»Ja, ich kann mich nicht beklagen«, sagte er zustimmend und lächelte mich an. Bescheidenheit war nicht gerade Ryus Stärke. »Aber, dich hierzuhaben, macht alles noch besser.«
Seine Zunge fuhr über meine pochende Halsschlagader, und ich erschauderte. Ich wollte etwas sexuell Aufgeladenes sagen, das ihm vor Lust die Nackenhaare aufstellen würde. Aber zu meinem eigenen Entsetzen platzte ich heraus: »Ich habe das Büchlein unter deinem Telefon gesehen.«
Ryu wich zurück, seine Augen verengten sich. »Bitte?«
»Ich wollte nachsehen, wie spät es ist, dabei bin ich an dein Telefon gestoßen. Und da habe ich das Buch gesehen.«
»Und du hast hineingeschaut.«
Ich nickte bedrückt, obwohl ich nicht das Gefühl hatte, mich entschuldigen zu müssen. Schließlich war Ryus Leben hier in Boston etwas, über das wir letztendlich reden mussten. Aber mir war auch klar, dass ich damit nicht den Pokal für den angenehmsten Wochenendgast gewinnen würde.
»Tja, Miss Schnüffelnase, offenbar müssen wir uns unterhalten. « Ryu fuhr sich mit einer besorgten Geste übers Gesicht. »Es tut mir leid, dass du das gesehen hast, aber es ist die Wahrheit. Und ich weiß, dass du das weißt. Aber erst mal, geht es dir gut?«
»Natürlich«, sagte ich mit erstaunlich fester Stimme. »Ich denke, ich verstehe es, soweit ich es eben verstehen kann. Und ich glaube, es ist okay für mich. Mehr oder weniger. Aber es ist auch seltsam. Und irgendwie habe ich das Gefühl, es sollte mich viel mehr stören, auch wenn es sich nicht so anfühlt…« Ich verstummte, ich hatte vergessen, was ich eigentlich sagen wollte. »Es ist kompliziert«, schickte ich kraftlos hinterher.
Ryu blickte finster drein. »Es ist auch kompliziert. Und, um ehrlich zu sein, es gefällt mir selbst nicht. Ich hasse die ganze Sache. Ich habe es so satt … Verdammt, Jane, ich bin einfach nur müde. Können wir gehen? Und in Ruhe darüber reden?«
Diese erschöpfte Stimme, bei dem Mann, den ich sonst nur mit Vitalität in Verbindung brachte, traf mich mitten ins Herz, und ich knickte ein wie ein Grashalm. Ich nahm seine Hand, hob die Innenfläche an meine Lippen und küsste sie sanft. Als sich seine Finger liebevoll an mein Kinn legten, schloss ich die Augen.
Ich spürte die Wärme seiner Hand auf meiner Haut, und schließlich trafen sich unsere Blicke.
»Bitte…«, sagte er.
»Alles was du willst, Ryu.« Und ich meinte es so.
»Komm, Baby. Ich habe noch eine letzte Überraschung für dich.«
Ryu bezahlte unsere Cocktails, und wir gingen. Er wollte mir seine Pläne nicht verraten, also schlenderten wir Arm in Arm die Boylston Street entlang, bis wir zu den Boston Public Gardens gelangten, die zu dieser Stunde bereits geschlossen waren und ganz im Dunkeln lagen. Vor dem Tor angekommen, bückte Ryu sich und machte mit den Händen eine Räuberleiter.
»Allez-hop, mein Schatz«, forderte Ryu mich grinsend auf.
»Äh, ernsthaft?«, fragte ich. »Du bist doch ein Meister im Öffnen von Dingen«, erinnerte ich ihn. »Kannst du nicht einfach auch das Tor aufmachen?«
»Das könnte ich natürlich. Aber so macht es viel mehr Spaß.«
Seufzend setzte ich einen Fuß in seine Hände, und er hob mich hoch wie eine Cheerleaderin. Ich protestierte quiekend und griff Halt suchend nach dem Eisengitter. Vorsichtig manövrierte ich meine Füße in die Spalten, die am stabilsten aussahen. Ich bekam die aufwändigen Verschnörkelungen oben am Tor zu fassen und verlagerte mein Gewicht von Ryus Händen auf die von mir ausgesuchten Lücken im Gitter. Ryu wartete, bis ich mich sicher festhielt, bevor er selbst nach den Eisenstäben griff und sich elegant in einem Zug über das Tor schwang. Ich grummelte irgendetwas wenig Vornehmes über seine Abstammung und fing an, umständlich über das dekorative Tor zu klettern, indem ich meine Füße vorsichtig in kleine Schnörkel auf der anderen Seite setzte, so dass ich dem Park den Rücken zuwandte.
»Komm, Jane, lass los. Ich fange dich auf.«
Ich warf einen Blick über die Schulter zu ihm hinunter. Wenn ich nicht verdammt genau gewusst hätte, dass ich ohne ihn auf dem Zaun festsaß, hätte ich ihn mit Blicken getötet.
»Komm schon, Baby. Vertrau mir.«
Ich verkniff mir, ihn daran zu erinnern, dass ich, als er mir das zuletzt gesagt hatte, zwei Tage lang kaum laufen konnte, und nahm einfach all meinen Mut zusammen, atmete tief durch und stieß mich vom Eisengitter ab.
Ryu fing mich mühelos auf und lachte.
»Ich sagte, du sollst loslassen und nicht losschießen wie eine Rakete.«
»Ich gebe dir gleich eine Rakete«, brummte ich.
»Was?«
»Nichts. Lass mich runter.«
»Nein«, raunte er und zog mich noch fester an sich.
Ich wollte protestieren, aber weil es in seinen Armen so angenehm war, ließ ich mich von ihm tragen. Als wir an der Brücke, die über den kleinen See mit den Schwanenbooten führte, angelangt waren, setzte er mich wieder ab.
Er machte eine Bewegung mit der Hand, und plötzlich gingen die Lichter an und ließen den Fluss und die Boote und die Brücke erstrahlen. Na ja, er ließ nicht wirklich die Lichter angehen, vielmehr machte er seine eigenen.
Ich blickte über das dunkle Wasser, spürte, wie es mir etwas zumurmelte. Aber im Gegensatz zum Tosen meines Ozeans plätscherte dieses künstliche Gewässer bloß vor sich hin. Die Lichter der Stadt glitzerten auf seiner Oberfläche und halfen Ryus Lichtern dabei, die anmutigen Formen der Schwanenboote schimmern zu lassen, die an ihren Anlegeplätzen auf dem Wasser schaukelten, jedes an seinem angestammten Platz wie Pferde in ihren Boxen.
»Es ist wunderschön, Ryu.«
»Ich dachte mir, dass dir das gefällt«, erwiderte er an das Brückengeländer gelehnt. »Hattest du nicht gesagt, du erinnerst dich noch aus deiner Kindheit daran?«
Ich lächelte. Als er zum zweiten Mal nach Rockabill gekommen war, gleich nach dem ganzen Drama am Hof der Alfar vor einigen Monaten, hatte ich ihm von einem Familienausflug nach Boston erzählt, vor Jahren, als meine Mutter noch bei uns war. Eine Unterhaltung, an die sich Ryu nicht nur zu erinnern schien, sondern die er sogar in seine Pläne für meinen Besuch hatte einfließen lassen. Es war unglaublich süß von ihm, aber ein Teil von mir verfluchte diese Sensibilität. Denn das war genau der Mist, der mich dazu brachte, mich ernsthaft in den Vampir zu verlieben, und das war viel zu kompliziert, um es in Worte zu fassen.
»Ja, ich war erst fünf oder so, also habe ich keine besonders klare Erinnerung mehr daran. Und vielleicht sind es nicht einmal meine eigenen Erinnerungen, sondern nur die, die ich von den Fotos von damals habe. Wir sind nach Boston gefahren in dem Jahr, bevor meine Mutter wegging, und ich mag die Vorstellung, dass ich mich noch daran erinnern kann.«
Ich ging zu ihm hinüber und lehnte mich übers Geländer, so dass ich aufs Wasser und den Pavillon schauen konnte, wo die Boote festgemacht waren.
Er betrachtete mich schweigend, während ich versuchte, mir vorzustellen, wie ich als kleines Mädchen auf derselben Brücke stand und die Hand von einem Mann und einer Frau hielt. Die Frau würde bald fortgehen, und von da an würde mein Leben nie mehr so sein wie zuvor, aber in jenem Augenblick damals musste ich glücklich gewesen sein.
Ryu strich mir das Haar hinters Ohr und drehte sich um, so dass wir Hüfte an Hüfte nebeneinander standen und in dieselbe Richtung übers Wasser blickten.
»Jane«, sagte er. »Ich will dich etwas fragen. Du musst nicht gleich antworten, und wir müssen auch noch gar nichts deswegen unternehmen. Ich will nur, dass du darüber nachdenkst. «
Ich wandte mich ihm zu und sah ihm ins Gesicht. Ich hatte ihn noch nie so ernst gesehen.
»Es ist nur so, dass ich es mag, wenn wir zusammen sind. Ich mag uns, Punkt. Ich bin gern mit dir zusammen, habe dich gern in meiner Nähe…« Ryu verstummte nervös und fing an, am Träger meines Oberteils herumzunesteln. Sein Finger fuhr meinen Bizeps nach. »Du fühlst dich richtig an. Wir fühlen uns richtig an. Ich weiß, du sprichst nicht gern über diese Dinge…« Sein Finger setzte federleicht seinen Weg meinen Unterarm entlang fort, aber als er meine Hand nehmen wollte, blieb er aus Versehen an meinem Armband hängen. Als er die Hand zurückzog, löste es sich.
»Mist, sorry«, sagte er, als wir uns beide gleichzeitig hastig bückten, um es aufzuheben, und mit den Köpfen zusammenstießen. Wir lachten verlegen und rieben uns die Stirn.
»Ich hebe es auf, warte«, sagte ich. Das Armband hatte meiner Mutter gehört. Ich wollte es nicht verlieren.
Das rettete mir das Leben. Gerade als ich mich hingekniet hatte, um zu meinen Füßen nach dem Armband zu tasten, rollte eine Feuerwand von links aus der Dunkelheit direkt über unsere Köpfe hinweg.
Ryu hatte keine Witze über seine magischen Reflexe gemacht. Seine Schilde waren schon in dem Moment oben, als uns das erste Kribbeln des Zaubers erreichte, einen Bruchteil einer Sekunde bevor das Feuer kam. Unglücklicherweise mussten seine Reflexe auch für mich herhalten, denn ich schien diese Lektion komplett verpasst zu haben. Als die Explosion uns traf, war ich nur knapp von den Rändern seines Schildes verdeckt, was den größten Teil des Feuers abhielt. Ansonsten wäre ich noch im selben Augenblick gut durchgeschmort gewesen. Aber sein Schild konnte die pure Kraft hinter den Flammen nicht ganz abfedern.
Ich konnte gerade noch nach dem Schmuckstück greifen, als ich auch schon durch die Luft geschleudert wurde. Ich erinnere mich weder daran, wie ich gegen den Pfeiler der Laterne prallte, der mich davon abhielt, im See zu landen, noch daran, wie ich auf den Betonboden der Brücke stürzte. Aber ich erinnere mich an den Schmerz und an den Rauch.
Ich erinnere mich auch noch daran, wie mir durch den Kopf schoss, dass ich besser mal meine Reflexe trainieren sollte, und zwar ein bisschen pronto.