Aber wirklich schade, dass du es getan hast.

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Auf der Straße erwarteten uns Phädra und ihre Schergen. Ich verstaute die Mappe mit dem geheimen Zettel in meiner Jacke, in der Hoffnung, die Alfar würde sie nicht sehen. Erstens wollte ich nicht, dass sie meine E-Mails an Ryu las, und außerdem wollte ich verhindern, dass sie von der Notiz erfuhr. Es sah schon nach ein bisschen zu viel Zufall aus, dass Jarl so viel Interesse an einer Sache zeigte, die ihn gar nicht direkt betraf. Dass wir nun eine Notiz gefunden hatten, die darauf hinwies, dass Conleth vielleicht bloß ein Opfer war, machte die Sache noch bedenklicher.

Vor einem riesigen Cadillac Escalade stand die kleine Alfar und polierte so beiläufig eines ihrer Messer, als würde sie sich die Nägel feilen. Ihr ganz in schwarzes Leder gehüllter winziger Körper schluckte das Licht der Straße, und zum allerersten Mal fiel mir auf, dass ihre Augen rot waren. Nicht rot wie blutunterlaufen – sondern wirklich rot. Ihre Pupillen hatten die Farbe von getrocknetem Blut.

Sie unterbrach ihren kleinen Einschüchterungsversuch, als sie unseren neuen Begleiter entdeckte. Noch nie hatte ich eine Alfar wütend gesehen, bis ich sah, wie Phädra Anyan anstarrte. Natürlich war es, weil sie nun mal eine Alfar war, keine normale Wut. Sie tobte und kochte nicht. Aber sogar aus der Entfernung fühlte ich mich wie der kleine holländische Junge aus der berühmten Geschichte, der mit dem Finger ein Leck im Deich stopft. Die Kräfte, die hinter ihrem sonst so gelassenen Gesichtausdruck tosten, schrien nach totaler Vernichtung. Nichts Geringeres wäre genug. Und all dieser Zorn zielte auf den Barghest.

Anyan jedoch gähnte bloß gelangweilt und streckte gleichgültig seine Gliedmaßen.

Die Harpyien waren nirgends zu sehen. Ich blickte nach oben, in der Erwartung, sie mit ausgefahrenen Krallen über mir kreisen zu sehen. Wenigstens war der Verbleib des Spriggan und des Vergewaltigerelben klar. Ersterer stand vor dem Escalade und überragte das riesige Gefährt mit seiner knubbeligen grauen Körpermasse. Und Graeme fixierte ebenfalls Anyan. Aber er wirkte aufgewühlt und mehr als nur ein bisschen nervös.

»Anyan Barghest. Verrat mir, was du hier machst«, befahl Phädra. Anyan schenkte ihr keine Beachtung und griff in die Innentasche seiner Lederjacke. Die Alfar spannte ihre Muskeln an, aber Anyan zog bloß einen Kaugummi hervor. Er packte ihn genüsslich aus, bevor er ihn sich in den Mund schob. Phädra fauchte.

»Was machst du denn hier, Phädra?«, mischte Ryu sich ein und trat ein paar Schritte vor. Sofort rückten Daoud und Caleb nach, um mich zu flankieren.

Die Alfar musste sich sichtlich beherrschen. »Wir arbeiten zusammen, oder nicht?«, fragte sie, und ihre kindliche Stimme bewegte sich dabei auf einer dünnen Linie zwischen rhetorisch und kratzbürstig.

»Ich kann diese Ermittlung allein führen, Alfar«, zischte Ryu. Phädra steckte ihr Messer ein und stellte sich ihm energisch entgegen. Wieder überraschte es mich, wie klein sie war. Anders als ich selbst war sie allerdings von einer furchteinflößenden Winzigkeit: die Winzigkeit von giftigen Spinnen, Plastiksprengstoff oder den Olsen-Zwillingen.

»Ach ja, kannst du das, Baobhan Sith? Du hast es ja nicht einmal geschafft, uns abzuschütteln. Wir sind euren ›Erkenntnissen‹ auf der Spur, trotz eurer Bemühungen, sie vor uns geheim zu halten. Und wir konnten uns ja bereits von deinem früheren Versagen überzeugen. Die Opferzahlen, die auf dein Konto zurückgehen, sind wirklich alarmierend.« Phädras gespenstisch rote Augen starrten Ryu an. Ihr kahler Kopf glänzte im weichen Licht der Straßenlaternen.

Ich nahm eine Bewegung auf dem Dach des Geländewagens wahr und zuckte zusammen, als ich bemerkte, dass die beiden Harpyien dort zusammengedrängt kauerten. Ihre graubraunen Schwingen waren um ihre Füße gefaltet, und ihre Köpfe tauchten darunter wie unheimliche, weiße Kugeln auf.

»Unsere Vorsichtsmaßnahmen sind reine Routine«, erwiderte Ryu auf die Unterstellungen der Alfar. »Ich habe nicht versucht, dich und deine Leute abzuschütteln.«

Phädra sah nicht so aus, als würde sie ihm glauben. Zugegebenermaßen ging es mir da ähnlich wie ihr.

»Nun«, sagte die Alfar, und ein frostiges Lächeln spaltete ihr kleines Gesicht, »jetzt wo wir nun mal schon alle hier sind, lasst uns mit den Plänen für den heutigen Abend beginnen. Was hast du jetzt vor, Ermittler. Willst du die Leiche von einem weiteren Menschen einsammeln, den du nicht beschützen konntest?«

Ryu biss die Zähne zusammen, und ich legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Rücken. Wir standen hinter ihm, und wir glaubten fest an ihn.

Phädra lachte, ein unangenehmes, höhnisches Lachen. »Was auch immer du jetzt vorhast, du wirst Graeme und Fugwat mitnehmen. Sie werden dich heute Nacht unterstützen und mir dann von euren Fortschritten berichten.«

Ryu sah so aus, als wolle er protestieren, aber Phädra brachte ihn mit einem einschüchternden kleinen Feuerwerk zum Schweigen. Funken von Energie entluden sich aus ihrer Hand und tauchten ihr bösartiges kleines Gesicht in ein fahles, blaues Licht.

»Ich bin von höherem Rang als du, Baobhan Sith. Wag es nicht, meine Autorität infrage zu stellen, oder ich bezichtige dich der Gehorsamsverweigerung und entziehe dir zwangsweise diesen Fall. Und dann wird es allein von Rechts wegen mein Fall«, zischte Phädra und wollte damit wohl unser aller Protest herausfordern. Als wir jedoch schwiegen, seufzte sie voll Genugtuung.

»Graeme, Fugwat, ihr wisst, was zu tun ist.«

Phädra ging zurück zu ihrem Escalade, und wir sahen zu, wie sie die Tür öffnete und den hohen Fahrersitz erklomm. Sie musste ein paar Schritte zurücktreten und dann mit Hilfe der Armlehne hineinspringen. Das sah herrlich würdelos aus, und ich musste grinsen. Sie verdiente es, würdelos auszusehen, schon allein weil sie so eine schreckliche Wichsschleuder fuhr. Und natürlich, weil sie ein richtig fieses Miststück war.

Als sie den Wagen anließ, erhoben sich die Harpyien und breiteten ihre langen Schwingen aus. Ich spürte ihre Elementarkraft um mich herum aufwirbeln, als sie sich in die Lüfte erhoben. Ich hatte das komische Gefühl, dass auch sie nicht ihrer Herrin, sondern uns folgen würden.

Ryu wandte sich zu mir, nahm mich bei der Hand und führte mich zu seinem Auto. Als ich sicher in Ryus Obhut war, traten Caleb und Daoud vor, nahmen den Spriggan und Graeme in ihre Mitte und führten sie fort. Letzterer wirkte sichtlich erleichtert, von Anyan wegzukommen, der den Elben die ganze Zeit angestarrt hatte, als sei er Frischfleisch. Oder in Anyans Fall wohl eher ein White-Castle-Burger.

Als wir in Ryus Auto saßen, fing er an zu fluchen. Im Fluchen war mein Vampir ein wahrer Meister, und ich lauschte voll Ehrfurcht, wie er seine Kunst in ungeahnte Höhen trieb. Bis jetzt hatte ich keine Ahnung gehabt, dass jemand einen so raffinierten Gebrauch von Cocktailgabeln, Trampolinen, »kleinen Alfar-Miststücken« und Benzin ersinnen konnte.

Als er fertig war, raufte er sich die Haare und warf sich zurück in den Sitz. Die anderen warteten bereits auf uns, und es dauerte nicht lang, bis es an unser Wagenfenster klopfte.

Es war Anyan im totalen Kommandanten-Modus. Er wirkte sehr einschüchternd, und sobald Ryu die Scheibe heruntergefahren hatte, bellte er Befehle.

»Ich lasse nicht zu, dass Jane in Graemes Nähe ist, wenn sie nicht voll bei Kräften ist. Bring sie zum Schwimmen. Sofort. «

»Anyan, das sind meine Ermittlungen«, schnauzte Ryu ihn an, aber der Barghest ließ sich nicht beeindrucken.

»Gut. Dann übernehme ich sie. Steig aus. Wir treffen uns dann am Haus von Wethersby, in zwei Stunden.«

Ryu starrte ihn wütend an, sichtlich hin- und hergerissen. Schließlich antwortete er, indem er das Fenster hochfahren ließ und den Motor startete.

Ich legte die Hand auf seinen Arm. Ich musste wirklich eine Runde schwimmen, aber ich mochte es gar nicht, wenn ich mir wie eine Belastung vorkam.

»Ryu, wir müssen nicht…«

Er schüttelte verärgert den Kopf. »Nein«, unterbrach er mich. »Anyan hat Recht.«

Ich ließ meine Hand wieder in den Schoß fallen, wohlwissend, dass ich nichts einwenden konnte.

»Er hat verdammt nochmal immer Recht«, fügte Ryu verärgert hinzu, und ich fragte mich mal wieder, was geschehen war, dass er einen solchen Groll gegen den Barghest hegte.


Da wir in Southie waren, fuhr Ryu mich zum Carson Beach. Nach einem kurzen, aber intensiven Bad sprudelte ich geradezu über vor Elementarkraft. Außerdem war ich ganz salzig, aber es war keine Zeit, für eine Dusche nach Hause zu fahren, bevor wir uns aufmachen mussten, um die anderen wiederzutreffen.

Unsere angespannte Erwartung auf der Fahrt zu Felicia Wethersbys Wohnung war geradezu greifbar. Es war seit einer ganzen Weile unsere erste richtige Spur, der erste neue Hinweis. Hoffentlich würde es auch das, was in Chicago vorging, mit den Morden hier in Boston in Zusammenhang bringen. Schließlich war es gut möglich, dass auch Felicia sich wie ihr Boss Dr. Donovan in beiden Welten bewegte.

Felicia wohnte am Davis Square auf der anderen Seite des Charles River in einem kleinen Apartment ohne Aufzug, das dem von Tally Bender auf gruselige Weise ähnelte. Ich hoffte inständig, dass bei unseren heutigen Aktivitäten keine halb eingeäscherten Leichen vorkommen würden.

»Bleib immer dicht bei mir, Jane«, ermahnte Ryu mich, als er den BMW verriegelte. Aus gutem Grund gab es keinerlei Diskussion mehr darüber, dass ich besser beim Auto bleiben sollte.

Ryu und ich stiegen die Stufen zu Felicias Wohnhaus hinauf. Wir waren eingehüllt in übernatürliche Kräfte – allerlei magische Fühler und Sonden umschwirrten meinen Vampir, während ich unser Bollwerk aus Schilden stabil hielt. Ich konnte unsere vereinten Energien auf der Haut spüren, fühlte, wie sich die Härchen auf meinen Armen aufstellten, während die Kräfte uns umwehten wie eine kühle Brise.

Er bewegte seine Hand über das Bolzenschloss der Eingangstür, und es sprang klickend auf. Ich schüttelte den Kopf, denn ich wurde wieder einmal daran erinnert, dass das, was wir Menschen »Sicherheit« nannten, für die übernatürlichen Wesen um mich herum nur »gib mir eine Sekunde« hieß. Unsere starken Türen und Schlösser konnten sie kaum aufhalten.

Gerade als wir das Gebäude betraten, fuhr Caleb mit dem Geländewagen auf der Straße vor. Eigentlich hätten sie uns mit unserer Schwimmpause klar zuvorkommen müssen. Doch aus Rücksicht auf seine Gäste von auswärts hatte sich der Satyr allerdings anscheinend für die malerische Touristentour entschieden. Ganz schön clever, der Ziegenmann, denn so hatten Ryu und ich die Gelegenheit, als Erste die Wohnung zu betreten, für den unwahrscheinlichen Fall, dass Felicia zu Hause war.

»Bleib dicht bei mir«, flüsterte Ryu noch einmal, als wir die Treppe hinaufstiegen.

Felicias Wohnung befand sich im zweiten Stock. Die Tür war in einem frischen, klaren Weiß gestrichen und fest verschlossen. Als niemand kam, um sie zu öffnen, fackelte Ryu nicht lange und hebelte sie direkt mit seiner Magie auf. Allerdings ging sie nur einen Spaltweit auf, dann wurde sie von irgendetwas dahinter blockiert.

Ryu und ich sahen uns in böser Vorahnung an und umgaben uns mit dem stärksten Schild. Der Vampir balancierte vorsorglich schon mal einen rotierenden, hellblauen Energieball auf der Handfläche, als wir näher an die Tür herangingen. Dann stieß er sie mit dem Fuß auf.

Die gute Nachricht war, dass der Eingang nicht von einer weiteren Leiche blockiert wurde, wie ich bereits gefürchtet hatte. Die schlechte Nachricht war, dass in der Wohnung völliges Chaos herrschte. Sie war nicht nur durchwühlt, sondern systematisch verwüstet worden. Alles, was man zerschlagen konnte, war zerschlagen, inklusive einiger Wände.

Ich stand in der Küche rechts von der Eingangstür. Geschirr und Gläser lagen zerbrochen auf dem Boden. Felicias Sofa und der Sessel im Wohnzimmer links waren zerfetzt. Ich konnte ein umgeworfenes Bücherregal sehen und zerbrochene Blumentöpfe. Ihr Schlafzimmer wies einen ähnlichen Grad der Verwüstung auf. Die Matratze war aufgerissen, Bettwäsche und Kleidung lagen überall verstreut, der deckenhohe Spiegel war zerbrochen.

Hoffentlich hast du jetzt mindestens sieben Jahre Pech, Alter, verfluchte ich denjenigen, der das getan hatte.

Ryu und ich bahnten uns gerade vorsichtig einen Weg durch das Chaos zurück in den Flur, als Caleb, Daoud, Graeme und Fugwat hereinkamen. Anyan führte diese Nachhut an, die den Türrahmen mit Leder und Denim füllte. Ich behielt sie im Auge, als sie hereinkamen, und was ich sah, überraschte mich. Graeme betrachtete das Chaos mit unschuldig blinzelndem Blick. Aber ich hätte schwören können, dass Fugwat kurz grinste, bis sein Blick sich mit dem von Graeme traf. Mit sichtlicher Anstrengung verbannte er daraufhin das Grinsen aus seinem Gesicht.

Klar, er ist genau der Typ, dem bei hirnloser Zerstörung einer abgeht, sagte ich zu mir selbst. Aber ein anderer Teil meines Hirns ließ diese Entschuldigung nicht gelten. Ich wurde den Gedanken nicht los, dass Stolz aus seinem Blick gesprochen hatte. Als hätte er all das eigenhändig angerichtet. Aber das war ja lächerlich. Schließlich hatte Fugwat nicht einmal gewusst, wo wir heute Nacht hinwollten, bis Caleb mit dem Auto vorfuhr.

Ich erschauderte, als ich Fugwats fiesen, stumpfen Ausdruck sah, und wandte mich ab. Ich blickte auf die Wand, an der einmal Felicias Fotos und Diplome gehangen hatten und die jetzt am Boden verstreut waren. Anders als der Spriggan schien sie ein helles Köpfchen gewesen zu sein mit einem Bachelor von der Duke University und einem Master aus Harvard, beide in Englischer Literaturwissenschaft. Es kam mir nicht einmal in den Sinn, abfällige Witze darüber zu machen, was einem ein Abschluss in Literaturwissenschaft heutzutage auf dem Arbeitsmarkt brachte. Unter den gegebenen Umständen war mir nicht danach.

Plötzlich verspürte ich ein Stechen: Ich hoffte inständig, dass Felicia noch am Leben war, aber mittlerweile wusste ich bereits aus Erfahrung, dass ich mit dem Schlimmsten zu rechnen hatte. Und all diese Dinge über sie herauszufinden, die sie mir noch lebendiger erscheinen ließen, ließ mich die Gefahr, in der sie schwebte, noch schwerer ertragen.

Schweigend betrachteten wir das Chaos. Caleb beugte sich hinunter zu einem Haufen aus zerschlagenem Geschirr, doch bevor er anfangen konnte, darin herumzustochern, wurde er von Daoud davon abgehalten. Der Dschinn zog einen Packen Arbeitshandschuhe aus seinem Hosenbund und reichte sie herum. Ich nahm meine mit spitzen Fingern entgegen, denn mir war immer noch nicht richtig wohl dabei, Sachen zu tragen, die jemand aus seiner Hose gezaubert hatte.

»Von dem Mädchen keine Spur«, sagte Ryu. »Ganz offensichtlich ist uns jemand zuvorgekommen.«

»Aber erst vor kurzem«, warf ich ein. Ryu und die anderen drehten sich fragend zu mir um. Graeme stierte mir auf die Brüste, bis Anyan ihn dabei ertappte und ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf schlug.

»Die Pflanzen in den zerbrochenen Töpfen leben noch«, erklärte ich und zeigte auf die gesunden, grünen Blätter, die aus ihrem Grab aus zersplittertem Ton sprießten.

Ryu lächelte mich an, und ich errötete.

»Okay, Leute. Versuchen wir uns ein Bild von Felicias Leben zu machen. Julian, was wissen wir bisher?«

Der jüngere Baobhan Sith sah auf. Sein Blick war die ganze Zeit auf den Laptopbildschirm geheftet gewesen, vermutlich seit wir Cons Schlupfloch vor ein paar Stunden verlassen hatten.

»Ich habe da schon einiges. Ihre Eltern starben, als sie acht Jahre alt war; sie ist Einzelkind. Sie wuchs bei einer Großmutter auf, bis sie aufs College kam.« Julian redete weiter über ihre Ausbildung, was ich aber schon alles wusste, weil ich all die Diplome gesehen hatte. Also beugte ich mich, statt weiter zuzuhören, hinunter, um ein gutes Foto von Felicia zu suchen. Es gab zwei oder drei von einer rundlichen, hübschen Schwarzen mit verschiedenen Freunden. Dann war da noch ein Bild, bei dem es sich wohl um ein Familienfoto von Felicia als Kind handelte mit einem gemischtrassigen Elternpaar. Der Mann und die Frau hatten die Arme umeinander gelegt und drückten das kleine Mädchen zwischen ihnen an sich. Sie wirkten so glücklich und verliebt. Falls es sich dabei um Felicias Eltern handelte, wovon man meiner Ansicht nach mit großer Wahrscheinlichkeit ausgehen konnte, dann musste das Foto ein paar Jahre vor deren Tod aufgenommen worden sein. Außerdem war da noch ein Haufen gerahmter Bilder von Felicia mit einer älteren Frau, die wilde, ungebändigte Dreadlooks hatte. Man sah die beiden schick gekleidet vor einem Theater, in typischer Touristenaufmachung vor dem berühmten Brunnen aus La Dolce Vita in Rom und vor Shakespeares Globe Theatre in London.

»…verbrachte Auslandssemester in Italien und London. Sie hinterließ einer Freundin auf Facebook eine Nachricht, dass sie versucht habe, einen Job an der Junior High zu bekommen, aber sie wollten sie bloß als Aushilfe, also arbeitete sie wieder als persönliche Assistentin. Sie war ganz begeistert von ihrem neuen Job für eine Ärztin. Meinte, die Bezahlung sei super, ihr Boss wirklich nett und dass sie die ganze Zeit zwischen Boston und Chicago hin und her pendeln würde.«

Julian blickte auf, und ich konnte den Schmerz in seinen Augen sehen. Die anderen waren bloß auf der Suche nach Hinweisen, aber Julian machte sich genau wie ich ein Bild von dem echten Menschen, der hinter all diesen Informationen steckte.

»Scheiße«, hörte ich Anyan fluchen. »Wir müssen sie finden. Und zwar heil.«

Ich sah ihn blinzelnd an, überrascht von der Heftigkeit seiner Stimme. Offensichtlich machte auch er sich Sorgen um die junge Frau.

»Ja, finden wir sie«, warf Graeme mit seiner schönen, fiesen Tenorstimme ein, womit er den Moment allerdings ruinierte und mir vor Grauen ein kalter Schauder den Rücken hinunterlief. Graeme jagte mir noch mehr Angst ein als Jimmu, eine Tatsache, die ich nie für möglich gehalten hätte. Der Naga war ein Killer gewesen, aber dem Elb hier traute ich ohne weiteres zu, dass er dafür sorgte, dass seine Opfer so lange wie möglich am Leben blieben. Und zwar schreiend.

Ich fragte mich, ob meine eigenen, leider viel zu wenig genutzten Kenntnisse der englischen Literatur sich hier vielleicht als nützlich erweisen könnten, und bahnte mir einen Weg zu dem umgestürzten Bücherregal, um einen Blick auf Felicias Lektüre zu werfen. Da waren eine ganze Reihe von Anthologien, viele Klassiker und jede Menge Titel aus dem gängigen Literaturkanon, alles in Form preiswerter Taschenbücher, wie sie eben an den Schulen üblich waren. Es gab keine anspruchslose oder typische Unterhaltungsliteratur und kaum etwas, das nach Neunzehnhundert geschrieben worden war, abgesehen von ein paar hochwertigen gebundenen Ausgaben von Edie Thompson, einer zeitgenössischen afroamerikanischen Schriftstellerin, die in akademischen Kreisen als Literaturkritikerin und Romanautorin hoch geschätzt wurde, aber noch nicht den Durchbruch in die Populärliteratur geschafft hatte.

Ich hob eines von Thompsons Büchern auf und entdeckte beim Aufschlagen, dass es signiert war. »Für Felicia, liebe Grüße, Edie Thompson.« Auch alle anderen Bücher der Autorin waren signiert, meistens sehr persönlich. »Für Felicia, von Herzen«, »Für Felicia, ich bin so stolz auf deinen Erfolg« und »Für Felicia, du hast’s geschafft!« bewiesen, dass Felicia mehr war als nur Edies Fan; die beiden kannten sich und das vermutlich ziemlich gut.

Ich wusste nicht mehr viel über Edie Thompson, also blätterte ich nach hinten zu ihrer Autorenbiografie mit ihrem Foto, und da ergab plötzlich alles einen Sinn.

»Ryu!«, rief ich leise. Ich hoffte, so nicht auch die Aufmerksamkeit von Phädras Leuten zu wecken, aber da hätte ich genauso gut lauthals schreien können. Alle hielten inne und starrten mich erwartungsvoll an.

Ich seufzte. Ryu kam zu mir herüber, und ich beschloss, ihm einfach zu zeigen, was ich entdeckt hatte, und es ihm zu überlassen, was davon er den anderen mitteilen wollte. Ich wusste, hier waren gerade jede Menge Alfar-Machtkämpfe im Gange, und ich hatte das Gefühl, Ryu kämpfte um die Vormachtstellung. Er konnte Phädras Befehle nicht missachten, aber genauso wenig konnte er ihr trauen. Also mussten wir alle einen kleinen Eiertanz aufführen. Und Ryu war unser Choreograph.

Ich zeigte auf das Autorenfoto, auf dem eine sehr attraktive, ältere Frau zu sehen war, mit langen, dicken Dreadlocks, die zu einem großen Knoten hochgesteckt waren. Die hoch aufgetürmte Frisur hob ihre großen, dunklen Augen hervor. Sie hatte Lachfältchen um Augen und Mund und – zumindest auf diesem Foto – sah aus wie die perfekte Mutterfigur: offen, intelligent, humorvoll und freundlich. Exakt die Person, zu der sich ein verwaistes Mädchen wohl hingezogen fühlen würde – besonders, da sie auch Felicias Doktormutter war.

Ich wies auf die verstreuten Fotos, von denen Edie und Felicia in Boston, Italien und London lächelten. Ryu stieß einen Seufzer aus.

Dann zeigte ich mit dem Finger auf die anderen relevanten Informationen. Edie war Professorin in Harvard und lebte in Cambridge.

Ryu nahm mir das Buch aus der Hand und küsste mich auf die Wange. Ich hatte gute Arbeit geleistet.

Nun musste er nur noch einen Weg finden, diese Informationen zu nutzen, ohne dass die beiden netten Frauen auf den Fotos dadurch umkamen.

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Du Mistkerl…«, japste ich. »Du hast mich ins Wasser gestoßen! «

»Du musst Fahren lernen, Kleine!«, antwortete Anyan bloß. »Lern Fahren!«

Sobald mich die kleine Wolke wieder auf die Bahn gesetzt hatte, verengten sich meine Augen zu Schlitzen, und ich gab Vollgas. Ich brauchte ein bisschen, bis ich aufgeholt hatte, aber einmal auf gleicher Höhe gab es für mich kein Halten mehr. Erst jagte ich Anyans riesige Drachen/Schildkröten-Figur mit einer Ersatzbombe in die Luft, und dann zog ich an ihm vorbei über die Ziellinie.

»Buh, Loser!«, schrie ich, sprang auf und vollführte einen kleinen Siegestanz. »Wer muss hier Fahren lernen, du Mädchen?! «

Anyan schnitt mir vom anderen Ende des Sofas eine Grimasse. »Revanche!«

»Dann verlierst du nur nochmal.« Ich grinste, und Julian auf dem Sessel neben uns prustete los.

Anyan lachte. »Komm schon, nochmal! Und dann nochmal, so lange, bis ich gewinne«, sagte er. Seine stahlgrauen Augen fixierten mich dabei und ließen seine unbeschwerten Worte ernster wirken. Für eine Sekunde war ich mir seiner, meiner selbst und des Raums zwischen uns sehr bewusst.

»Ich glaube, ich habe noch was gefunden«, ließ Julian hinter seinem Laptopbildschirm verlauten.

Von Halbling gerettet…, dachte ich, legte meinen Gamecontroller weg und wischte mir die plötzlich ganz feuchten Handflächen an meiner Jeans ab, bevor ich zu Julian ging, um ihm über die Schulter zu schauen.

Es war der Abend, nachdem wir die Verbindung zwischen Edie und Felicia entdeckt hatten. Ein paar von Stefans Leuten waren sofort ausgesandt worden, um zu überprüfen, ob die beiden Frauen in Cambridge waren. Es hatte jedoch keinerlei Spur von ihnen gegeben, also hatten unsere Leute das Gebäude gesichert, damit wir die Wohnung am nächsten Tag, nachdem wir uns ausgeruht und neu formiert hatten, genau durchsuchen konnten.

Heute Morgen, sobald sie wach, gestärkt und einsatzbereit gewesen waren, waren Ryu, Caleb, Daoud und Camille mit Phädras Bande im Schlepptau aufgebrochen, um Edies Wohnung in Cambridge nach Hinweisen auf sie oder Felicia zu durchsuchen. Ich hatte mich freiwillig dafür gemeldet, Julian in der Zwischenzeit bei seiner Recherche über aktuelle Fälle von Bränden mit Todesfolge in der Chicagoer Gegend zu helfen. Wir suchten nach Leuten, die etwas mit dem Unternehmen zu tun hatten, das Conleths Labor betrieben hatte, und markierten alle wohlhabenden Leute mit guten Verbindungen, die unter ungeklärten Umständen verbrannt worden waren. Trotz einer überraschend großen Anzahl von Treffern waren viele leicht auszuschließen, weil es sich bei ihnen um den falschen Opfertyp handelte oder der Mörder bereits gefasst war oder weil es sich ganz offensichtlich wirklich bloß um Unfälle handelte. Aber wir waren auf fünf weitere Namen gestoßen, die wir der Liste, die Dr. Donovan ihrem Freund geschickt hatte, hinzufügen konnten.

Anyan war ebenfals bei Julian und mir geblieben. Die meisten der politischen und territorialen Winkelzüge der Alfar und ihres Hofes waren mir weiterhin ein Rätsel, aber sogar ich begriff, dass es eine ziemlich große Sache war, dass der Barghest Verbindungen in die Grenzregion hatte. Ich wusste, dass Anyan seine Anrufe nicht machen wollte, solange Ryu in der Nähe war, zweifelsohne, weil das scharfe Gehör des Baobhan Siths Dinge aufgeschnappt hätte, in die Anyan ihn nicht einweihen wollte. Also hatte der Barghest die Gelegenheit genutzt, mit uns zurückzubleiben, angeblich, um uns bei den Recherchen zu helfen, aber in Wahrheit wohl eher, weil er ein bisschen Privatsphäre wollte.

Sobald Ryu mit den anderen aufgebrochen war, hatte Anyan sich Dr. Donovans Originalliste geschnappt. Das war bereits vor Stunden gewesen, und wir warteten noch auf Rückmeldung von seinen Kontakten. Julian war noch immer bei der Onlinerecherche, aber Anyan und ich hatten irgendwann genug von Polizeiberichten gehabt, also hatte er angefangen, mir dumme, kleine Tricks mit Hilfe unserer übernatürlichen Kräfte beizubringen, bevor ich die alte Nintendo-Konsole entdeckt hatte.

»In diesem Fall hier war das Opfer reich«, fuhr Julian unbeirrt fort, und ich widmete ihm meine volle Aufmerksamkeit. »Es hatte Verbindungen sowohl in die Wirtschaft als auch in die Politik und starb, als sein Haus abbrannte. Die Polizei geht davon aus, dass er gegen neun Uhr abends beim Rauchen im Bett eingeschlafen ist. Aber seine Ex-Frau beteuerte, dass er normalerweise niemals vor Mitternacht ins Bett ging. Außerdem behauptete sie, dass er noch während der Scheidung mit dem Rauchen aufgehört hatte – ich zitiere: ›Nur um mir eins auszuwischen‹. Aber die Polizei verwarf all ihre Einwände, da die Spurensicherung keinerlei Brandbeschleuniger nachweisen konnte oder andere Hinweise auf Brandstiftung oder Mord. Es mochte Spuren von Gewalteinwirkung am Körper gegeben haben, aber aufgrund der massiven Verbrennungen ergab die Autopsie keine verwertbaren Beweise, und so einigte man sich schließlich auf Unfall als Todesursache.«

»Setz ihn mit auf die Liste«, sagte Anyan nach einer Sekunde, und dann fluchte er. Ich blickte auf und sah, dass er noch immer Mario Kart spielte. Der Barghest war völlig unbeeindruckt gewesen, als ich die alte Spielkonsole in einer Kiste unter Ryus riesigem Flachbildschirm gefunden hatte. Aber als ich sie erst einmal mit der neuesten, supermodernen Konsole, die bereits am Bildschirm angeschlossen war, ausgetauscht und zu spielen angefangen hatte, hatte der Hundemann schnell seine Meinung geändert.

»Was zu trinken, Jungs?«, rief ich ihnen über die Schulter zu, als ich in die Küche ging. Beide wollten Wasser.

Ich hatte gerade das Wasser für Julian und Anyan in der Hand, als die Truppen heimkehrten. Glücklicherweise allein, denn ich empfand es in etwa so angenehm, mit Graeme in einem Raum zu sein, wie wenn mir jemand mit einem Trinkhalm willkürlich in die Augen piekste.

»Baby«, begrüßte Ryu mich und schickte noch eine Umarmung und einen Kuss hinterher. Dann schielte er auf die Gläser in meiner Hand, und ich gab ihm eines davon, bevor ich zurück an den Schrank ging, um ein neues herauszuholen.

Als ich Anyan und Julian schließlich das Wasser brachte, hatte Daoud bereits begonnen, gegen den Barghest zu spielen. Die beiden hatten den gleichen konzentrierten und doch seltsam leeren Gesichtsausdruck.

Wer kann Mario Kart schon widerstehen, dachte ich verständnisvoll.

Ich hatte gerade Anyans Glas abgestellt, als ich eine seltsam prickelnde Kraft an meinen Schilden wahrnahm, wie ich sie noch nie verspürt hatte. Sie war stark, aber ganz klar keine Elementarkraft. Ein Schatten angespannter Ruhe legte sich über den Raum, und ich machte meine magischen Luken dicht. Das Prickeln wurde intensiver, bis plötzlich ein winziges Wesen direkt vor mir auftauchte und das Wasserglas umstieß, das ich soeben abgestellt hatte. Ich stieß einen ziemlich hysterischen Schrei aus.

Anyan legte beruhigend die Hand auf mein Bein, und er und das Wesen setzten gerade noch rechtzeitig schützende Energien frei. Denn während ich auf das Auftauchen der Kreatur nur mit einem tussimäßigen Kreischen reagiert hatte, feuerten alle anderen sofort Magiekugeln darauf ab.

Das kleine Ding zwitscherte uns etwas in einer seltsamen Sprache zu, und Anyan lachte.

»Keine Angst, Leute. Beruhigt euch. Das ist nur ein Bote.«

»Meine Güte«, hörte ich Camille vom anderen Ende des Zimmers rufen. »Ist das etwa ein…?«

»Wichtel?«, fiel Anyan ein. »Ja, das ist ein Wichtel.«

Alle im Zimmer kamen näher, um das winzige Wesen besser sehen zu können, das auf Ryus Couchtisch aus Glas und Stahl stand. Es war höchstens fünfundvierzig Zentimeter groß und über und über mit braunem Fell bedeckt, das so dicht und flauschig war, dass man weder sein Gesicht noch seine Gestalt richtig sehen konnte. Es sah ein bisschen aus wie ein Ewok – mit Kali als Großmutter väterlicherseits und einer Wolfsspinne als Großvater mütterlicherseits. Sechs pelzige Arme fuchtelten vor uns herum, die fast alle irgendwelche obszönen Gesten machten, und sechs tiefschwarze Augen starrten uns an, während sich weiter ein Schwall piepsiger, unverständlicher Beschimpfungen über uns ergoss.

Es sah so aus, als führe das kleine Wesen einen seltsamen rituellen Tanz auf. Mir fiel auf, dass seine Füße ganz nass von dem umgestoßenen Wasser waren.

»Oh!«, rief ich erschrocken und rannte in die Küche, um ein Tuch zu holen, damit ich das Malheur aufwischen konnte. Der kleine Wicht beäugte mich argwöhnisch, während ich die Pfütze beseitigte, und wich erschrocken zurück, als ich ihm einen trockenen Zipfel des Tuches hinhielt. Doch ich verharrte so, bis er sich näher heranwagte. Schließlich stützte sich der Wichtel mit zweien seiner sechs winzigen Hände auf meinem Arm ab und trocknete sich die haarigen Füßchen. Er brauchte eine Weile, bis er das Wasser aus seinem dichten Fell bekam, aber ich hielt die ganze Zeit über meinen Arm ganz still. Als er fertig war, tätschelte er mir mit einer Hand den Arm und streichelte mit einer anderen meine Finger, in denen ich das Küchentuch hielt.

Ich akzeptierte diese offensichtliche Geste der Dankbarkeit mit einem freundlichen Lächeln, bevor ich das Tuch vorsichtig zusammenknüllte, damit es nicht tropfte.

»Anyan, warum befindet sich ein Wichtel in meinem Wohnzimmer? Ich dachte, die wären ausgestorben.« Ryu achtete darauf, dass er seine Stimme unter Kontrolle behielt, aber ich merkte, dass er total außer sich war.

»Nein, nicht ausgestorben, sie waren es nur leid, die ewigen Forderungen der Alfar zu erfüllen.« Der Barghest lächelte die kleine, nun schon deutlich entspanntere Kreatur an und sagte etwas zu ihr in der seltsamen, zwitschernden Sprache.

»Und er spricht auch noch die alte Sprache…«, sagte Ryu und warf in einer Geste der Kapitulation die Hände in die Luft, »war ja klar.« Als er dann steif in die Ecke der Küche stakste, in der sich der Alkohol befand, wurde mir klar, dass er Anyan gemeint hatte und nicht den Wichtel.

Ich legte das Tuch auf den Boden neben mich und wandte mich an Caleb.

»Was ist hier los?«, flüsterte ich.

Der Satyr zwinkerte mir zu und lächelte mich dann entschuldigend an. »Du kommst mit allem hier so gut klar, Jane, da vergesse ich manchmal, dass das ja ganz neu für dich ist.« Caleb hatte mir ein Kompliment gemacht, und ich errötete. Ich war kein besonders großer Fan von Komplimenten.

»Die Alfar gibt es schon sehr lange, aber sie waren nicht die Ersten. Die Urmagiewesen gehörten einer Gattung an, die uns völlig fremd ist und ganz verschieden in ihrer Herkunft und ihren Kräften. Heute sind sie nur noch sehr selten. Manche von ihnen starben eines natürlichen Todes, aber die meisten durch unsere Hand oder das Vordringen der Menschen in ihren Lebensraum. Wichtel gehören zu diesen Urmagiewesen. Ursprünglich dienten sie den Alfar oder den Menschen gern, im Austausch für Lebensraum und Nahrung. Schließlich war es ihnen nur mehr erlaubt, den Alfar zu dienen. Aber vor langer Zeit sind sie langsam aus unseren Territorien verschwunden. Wir nahmen an, sie seien ausgestorben. Offenbar lagen wir damit falsch.«

Natürlich waren mir die Mythen von den Wichteln bekannt, aber es fiel mir schwer zu glauben, dass diese kleinen Haushaltsgeister, die man mit einem Tellerchen Sahne besänftigen konnte, nicht nur wirklich existierten, sondern dass sie außerdem älter waren als die Alfar.

»Heißt das, dass sie jetzt denjenigen dienen, die die Grenzregion beherrschen?«, fragte ich. Caleb zuckte bloß mit den Schultern, und seine ratlose Geste machte mir die Tiefe des Geheimnisses, das sich vor uns auftat, noch deutlicher.

»Wow!«, hauchte ich. Ich beobachtete Anyan und den Wichtel, die sich weiterhin zwitschernd miteinander unterhielten. Schließlich führte das Wesen seine sechs kleinen Fäuste zusammen und warf dann die Arme wieder auseinander, wobei es erneut dieselbe seltsam prickelnde magische Energie verbreitete, die ich bei seinem Erscheinen gespürt hatte.

Wir duckten uns alle und stärkten unsere Schilde, aber es erschien nur ein Aktenordner, der direkt vor Anyans Nase in der Luft schwebte.

Der große Mann lächelte, als er den Ordner im Austausch für Julians Namensliste entgegennahm. Anyan verbeugte sich leicht vor dem Wichtel und zwitscherte etwas, von dem ich annahm, dass es ein Dank war. Das kleine Wesen streckte seine linken Hände aus, die Liste unter seine rechten Arme geklemmt, und schüttelte Anyans Finger. Dann winkte es mir noch kurz zu, zeigte den anderen im Zimmer zwei nachdrückliche Mittelfinger und verschwand dann mit einem puffenden Geräusch.

Ryu kam zurück, etwas Teefarbenes und Scharfriechendes schwamm in seinem Glas. Er ließ sich schwer in den freien Sessel gegenüber von Julian fallen und fuhr sich in seiner typischen Geste der Frustration mit der Hand übers Gesicht. Dann wandte er sich an den Barghest.

»Anyan, kannst du uns bitte erklären, was das eben war? Und wie, verdammt nochmal, soll ich all das Orin und Morrigan erklären, ohne dass sie uns zur Schnecke machen? «


Ich betrachtete eingehend den Ordner, den mir Anyan gegeben hatte, während die Jungs noch stritten. Im Wesentlichen lag das Problem darin, dass Ryu es für eine echt große Sache hielt, dass hier gerade ein Wichtel aufgetaucht war. Anyan sah das anders. Niemanden hatte es besonders interessiert, als die Wichtel verschwanden, warum also sollte man sich jetzt über ihr Wiederauftauchen groß aufregen?

»Du hast deine Stellung immer für selbstverständlich gehalten, Anyan, so als wärst du unantastbar…«

»Und du kümmerst dich für meinen Geschmack zu sehr darum, was die anderen denken, Ermittler…«

Ich schüttelte unwillig den Kopf, blendete die beiden Streithähne aus und schlug den Ordner auf.

Ganz vorne klebte an einem Bericht ein Post-it mit einer Nachricht an Anyan, die mit »Capitola« unterschrieben war. Ich wusste, es war neugierig von mir, aber ich konnte nicht anders. Die Nachricht lautete: »Das ist alles, was wir finden konnten. Sicher ist Magie mit im Spiel, aber abgesehen von dieser Tatsache sind wir genauso ratlos wie die menschliche Polizei. Viel Glück! Wir bleiben in Kontakt. Du fehlst uns.«

Ich fragte mich, wer Capitola war und ob sie und der Barghest vielleicht ein Paar waren. Dann wunderte ich mich, warum ich mich das überhaupt fragte, während ich weiter durch den Ordner blätterte.

Wer auch immer sie war, diese Capitola und ihr Team hatten gründliche Arbeit geleistet. Jeder einzelne der Namen auf unserer Liste war überprüft worden. Einige waren Blindgänger; weder an den Tatorten noch an den Leichen konnten Anzeichen von Magie-Einwirkung nachgewiesen werden. Sie starben bei ganz normalen Bränden und keineswegs durch magisches Feuer.

Aber bei einigen wenigen war die Sachlage anders. Bei diesen Opfern gab es Hinweise auf Magie. Capitola schrieb, dass eine der Leichen sogar durch den Sarg im Grab hindurch so starke Anzeichen auf Magie ausgestrahlt hatte, dass man es bis ans Friedhofstor spüren konnte.

Sie schrieb außerdem, dass sie ihre eigenen Ermittlungen anstellen und versuchen würden, aktuellere Todesfälle ausfindig zu machen, damit sie eine der fraglichen Leichen selbst in die Finger bekämen. Wenn sie etwas herausfänden, werde sie ihn mit Hilfe des Wichtels kontaktieren.

Ich reichte Julian den Ordner und wandte mich wieder Ryu und Anyan zu.

»Was kann sie veranlasst haben, den Alfar den Rücken zu kehren und sich in die Grenzregion zurückzuziehen? Das ist es, was ich mich frage…«, zischte Ryu gerade.

»Es ist nicht so, dass irgendeine mächtige Kraft die Wichtel fortgelockt hätte, Ryu. Sie waren das ewige Dienerdasein bloß leid.«

»Wichtel dienen gern. Das ist es, was sie tun.«

»Ja, aber das heißt nicht, dass man ihre Hilfe für selbstverständlich nehmen sollte oder sie ausbeuten darf…«

Ich seufzte, als ich sie bei ihren Reibereien beobachtete. Es war nun wirklich nicht die Zeit zum Streiten, und das sagte ich ihnen auch.

»Was?«, erwiderten beide gleichzeitig und drehten sich zu mir um.

»Das ist wirklich nicht die Zeit für so was, Jungs. Ihr könnt all das in Ruhe ausdiskutieren, wenn wir die zwei Frauen erst einmal gefunden haben.« Ich ließ meine Stimme sanft, aber bestimmt klingen. Aber eigentlich hätte ich ihnen am liebsten den nassen Putzlumpen zu meinen Füßen um die Ohren geschleudert.

Bevor Ryu auch noch mit mir zu streiten anfangen konnte, fragte ich, was sie in Edies Wohnung gefunden hatten.

»Nichts«, sagte Camille und trat vor. Sie war offensichtlich genauso erpicht darauf, die Reibereien beizulegen und wieder an die Arbeit zu gehen wie ich. »Die Wohnung war leer und unangetastet. Aber es sah so aus, als hätte sie jemand überstürzt verlassen, und es kam uns so vor, als fehle Gepäck.«

»Ist sie vielleicht nur im Urlaub?«, fragte ich. »Oder sie macht gerade ein Sabbatical oder so was?« Alle sahen erst mich und dann Julian an, der pflichtbewusst nickte und anfing, auf seine Laptoptastatur einzuhacken.

»Nein, sie müsste eigentlich gerade eine Vorlesung halten, aber da steht, sie sei beurlaubt.«

»Dann lasst uns zu ihrem Büro fahren. Mal sehen, was wir dort finden«, schlug ich vor.

Camille nickte, und Julian teilte uns die Adresse mit. Nachdem wir uns geeinigt hatten, wer mit wem fährt und ob wir Phädra benachrichtigen müssten, standen wir alle auf, um unverzüglich aufzubrechen.

Unterdessen fragte ich mich, seit wann ich jemand war, der Entscheidungen traf.

Und warum sich das so gut anfühlte.

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Eine Stunde später standen wir am Harvard Yard in der Nähe der Trambahnhaltestelle gleich beim Pit-Amphitheater und warteten auf Phädra und ihre Harpyien. Anscheinend war ihr daran gelegen, bei dieser Aktion dabei zu sein.

Als die Alfar schließlich auftauchte, hatten die Harpyien ihre Schwingen wie Sarongs um sich geschlungen. Ich hätte sie durchaus für einen schönen Anblick gehalten, wenn sie nicht in so schlechter Begleitung gewesen wären. Und apropos schlechte Begleitung, glücklicherweise waren Graeme und Fugwat nicht mit von der Partie.

Was unsere Begegnung mit den Urmagiewesen betraf, so hatten wir schon beschlossen, dass Phädra nichts von dem Wichtel oder den Morden in Chicago erfahren musste, bis wir keine handfesteren Verbindungen zu unserem Fall hergestellt hatten. Wir trauten ihr nicht, und ebenso wenig brauchten wir ihre Hilfe. Wir wollten sie und ihr Gefolge bloß da wissen, wo wir sie im Auge behalten konnten; um alles Weitere würden wir uns kümmern, wenn es nötig würde.

Der Barghest trieb uns die Massachusetts Avenue hinunter zu Edies Büro, das sich in einem der Hauptgebäude gleich beim Harvard Yard befand. Über den Campus zu laufen, war sehr beeindruckend. Die roten Ziegelgebäude schimmerten vor dem nächtlichen Himmel und bildeten einen sanft beleuchteten Rahmen für die große Grünanlage, die den Harvard Yard bildete. Wege aus Kopfsteinpflaster und Asphalt verliefen kreuz und quer über den winterlichen Rasen und führten die Studenten von einem Gebäude zum anderen. Die Fassade der altehrwürdigen Universität wirkte so friedlich und makellos, dass man beinahe glauben konnte, Harvards Nimbus der Undurchdringlichkeit könnte jeden schützen, der hier lebte.

Beinahe.

Als wir bei Edies Büro angekommen waren, hielten Julian und ich uns im Hintergrund, während sich die anderen auf der Treppe davor in Stellung brachten. Sie wirkten sehr professionell mit ihren Magielichtern im Anschlag. Für einen Moment fühlte ich mich wie in einem Actionfilm – bis die Tür aufging und mal wieder nichts passierte.

Ich fing an zu begreifen, dass Kriminalermittlungen tatsächlich hauptsächlich aus Hektik und Warten bestanden, gepaart mit stundenlangem Herumsitzen und Recherchieren.

Außer wenn man ein Messer in die Handfläche bekommt, Jane, erinnerte mich mein Gehirn trocken. Also sei bloß nicht so scharf auf Aufregung.

Edies Büro war ziemlich leer. Sehr ordentlich. Und sehr groß. Es bestand aus zwei Räumen: Einer davon war eine Art Empfangszimmer, wo sie sich mit Studenten zusammensetzen konnte. In den deckenhohen Regalen an den Wänden befanden sich tonnenweise Bücher, und es gab sogar eine komplette Sitzecke mit Sofa und ledernen Lehnsesseln, die um einen wunderbaren Couchtisch mit elegant geschwungenen, klauenförmigen Tischbeinen gruppiert waren. Neben dem Empfangsraum befand sich das eigentliche Büro. Dort herrschte etwas mehr Durcheinander. Es gab zwei Tischchen, die überhäuft mit Papieren und Büchern waren, und auch in diesem Raum fehlten nicht die hoch aufragenden Bücherregale.

»Okay, schwärmt aus und seht, ob ihr etwas finden könnt, irgendetwas, das uns einen Hinweis auf Felicias und Edies Aufenthaltsort geben könnte. Ihr Leben hängt davon ab!«, sagte Ryu, und wir alle nickten feierlich.

Ich ging sofort an Edies Bücherregale. Das hatte ja schließlich in Felicias Wohnung geklappt, warum also nicht auch hier?

»Menschen und ihre Bücher«, gähnte Phädra. »So langweilig! Und eine so sinnlose Variante der Unsterblichkeit.«

Ich blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an. Plötzlich verabscheute ich sie aus tiefstem Herzen. Sie war also nicht nur bösartig und absolut widerlich, sondern sie mochte auch keine Bücher.

»Natürlich nicht«, entfuhr es mir aus Versehen.

»Was sagst du, Halbling?«, zischte Phädra, und ihre Stimme klang scharf in meinen Ohren.

»Natürlich liest du nicht«, wiederholte ich meinen Gedanken und schenkte ihr dabei ein süßliches Lächeln, um sie noch mehr aus dem Konzept zu bringen.

»Warum sollte ich auch? Ich bin nicht an Einblicken in die menschliche Seele interessiert. Mir ist völlig gleichgültig, wie sie mit ihren psychischen Problemen umgehen, ihre Vergangenheit bewältigen oder ihr Leben gestalten. Die menschliche Literatur ist doch nichts weiter als der Fehlerkatalog einer schamlosen Spezies, die bloß auf dieser Welt ist, um denen, die ihnen überlegen sind, zu dienen und sie zu erhalten…«

Phädra verstummte, als sie bemerkte, dass ich ihr überhaupt nicht mehr zuhörte. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Julian zu beobachten, der so aussah, als habe er entweder etwas gefunden oder bekäme gleich irgendeinen Anfall.

»Vergangenheit«, sagte er und starrte Phädra an. »Der Verlauf eines menschlichen Lebens… Edie Thompson ist Edies Ehename«, rief Julian in die Runde und strahlte mich an.

»Natürlich!«, rief ich atemlos, als ich gedanklich zusammensetzte, was er da gerade erkannt hatte.

»Was bitte?«, fragte Ryu, der noch einen übernatürlichen Schritt hinterherhinkte. In seiner Welt heiratete man nicht, also gab es auch keine Ehenamen. Natürlich kannte er die menschlichen Traditionen, aber er begriff nicht sofort, was Julian damit sagen wollte. Ich war verdammt überrascht, dass Julian es wusste, aber ich vermute, die Faszination, die für ihn von seiner menschlichen Seite ausging, reichte so weit, dass er sich sogar mit unseren Heiratsgepflogenheiten auseinandergesetzt hatte.

»Ich habe es gelesen, als ich über Edie recherchierte, aber es hat nicht gleich klick gemacht«, erklärte er Ryu aufgeregt. »Es gibt nur sehr wenig Biografisches über sie; sie schirmt ihr Privatleben ab. Aber ich habe gelesen, dass sie im Berufsleben ihren Ehenamen verwendet. Sie war nur zwei Jahre verheiratet, mit so einem Arschloch, das sie geschlagen hat, aber in dieser Zeit veröffentlichte sie ihr erstes Buch. Also war sie beruflich gesehen auf den Namen Thompson festgelegt. Das ist im Übrigen ein Grund, warum ich es bescheuert finde, dass bei den Menschen die Frauen ihren Namen ändern, aber das ist jetzt nebensächlich…«

Alle starrten Julian gespannt an, bis er wieder zum Punkt kam. »Wie dem auch sei, ich habe sie noch nicht unter ihrem Mädchennamen gecheckt. Wie auch immer der lautet. «

Inspiriert von meinem Mithalbling sah ich mich in dem Büro um, bis ich entdeckte, wonach ich suchte. Ein uraltes Synonymwörterbuch, das schon vor ewigen Zeiten publiziert worden sein musste, stand neben einem ähnlich betagten Lexikon in der hintersten Ecke von Edies Regal.

Bingo! Jeder Lehrer, den ich je gekannt hatte, besaß so etwas: das obligatorische Lexikon/Synonymwörterbuch-Paket, das man zum Schulabschluss bekam.

»Ich bin sicher, wir könnten es auch online herausfinden, aber wo wir schon einmal hier sind…«, sagte ich und schlug eines der Bücher ganz vorn auf, wo man in einem Buch normalerweise seinen Namen vermerkte.

Grinsend hielt ich das Buch hoch, damit alle es sehen konnten.

»Edie ist nicht nur Felicias Doktormutter. Sie ist ihre Tante.«

Ich legte das Buch wieder weg, damit Julian und ich uns abklatschen konnten, bevor er sich wieder seinem Laptop zuwandte. Die anderen blickten alle noch immer ziemlich verwirrt drein, aber sie ließen uns gewähren.

»Gute Arbeit, Julian, Jane«, sagte Ryu. »Und die anderen… ihr sucht weiter. Stellt sicher, dass wir auch wirklich alles, was hier von Belang ist, gefunden haben. So lange die beiden Frauen verschwunden sind, sind sie in Gefahr.«

Während Julian in seinen Computer hackte, schwärmten wir anderen wieder aus, und Phädra flüsterte ihren Harpyien etwas ins Ohr. Ich stellte das Synonymwörterbuch dorthin zurück, wo ich es gefunden hatte.

Ryu hatte Recht. Ein echter Erfolg wäre es erst, wenn wir die beiden lebend gefunden hätten.

Bis dahin hatten wir noch jede Menge zu tun.


Julian hatte seine Internetrecherche zwar noch nicht beendet, aber wir waren mit dem Durchsuchen des Büros soweit fertig. Also rückten wir wieder alles zurecht und verschlossen die Tür, bevor wir zurück nach unten eilten. Wir brauchten alle einen Kaffee, und wir wollten Julian genügend Zeit für seine Arbeit geben.

Also nahmen wir ein paar Tische auf der erhöhten Terrasse des Au Bon Pain gegenüber vom Harvard Yard direkt neben der Trambahnhaltestelle am Pit in Beschlag und starteten dort in den Abend. Daoud brachte mir etwas Süßes und Cremiges und Leckeres, das ich wegschlürfte wie ein kleines Kind seine Limo. Obwohl ich wusste, dass wir noch immer einen Schritt hinterherhinkten, fühlte ich mich durch das Koffein und den Zucker sofort besser. Und auch der schöne Abend tat sein Übriges. Die Nachtluft war frisch und kalt, aber die erhöhte Terrasse des Cafés war überraschend voll. Unter uns saßen warm eingepackte Schachspieler an den Steintischen jenseits des schmiedeeisernen Zauns, der unsere Terrasse umgab, auch zu dieser fortgeschrittenen Stunde über ihre Spiele gebeugt. Einige junge Pärchen, vermutlich alles Harvardianer, eingemummt in ihre Studentenklamotten bestehend aus bescheuerten Strickmützen, Daunenjacken, Eskimostiefeln und den obligatorischen Jeans. Außerdem sah man einige ziemlich fröstelnd aussehende europäische Jungs, die für das kalte Wetter etwas dürftig gekleidet waren, mit dünnen Lederjacken, Button-Down-Hemden und glänzenden Hosen. Aber sie rauchten beharrlich ihre filterlosen Zigaretten und plauderten in ihren verschiedenartigen, melodischen Muttersprachen.

Der dicke Rauch ihres schwarzen Tabaks waberte hinauf in die nackten Äste der Bäume, die aus Löchern im Asphalt wuchsen. Ich sog die kalte, rauchige Luft tief ein und seufzte glücklich. Ich würde noch glücklicher sein, wenn wir Edie erst gefunden hätten, aber immerhin.

Ich sah Julian bei seiner Recherche zu, das fahle Licht seines Laptops spiegelte sich in seinen Brillengläsern. Dann sah ich zu Phädra hinüber und versuchte nicht loszukichern.

Die winzige Frau saß ziemlich unbequem an der Kante ihres Stuhls und starrte die Menschen um sie herum böse an. Sie hatte ein Getränk abgelehnt, als würden wir sie vergiften wollen.

Keine schlechte Idee, dachte ich und sah zu, wie sie die noch verbleibende Harpyie anfuhr. Kaya – oder Kaori – war weggeflogen, nachdem wir Edies Büro verlassen hatten, so dass nur noch Kaori – oder Kaya – zurückblieb, um ihrer Herrin den Rücken zu decken. Die Harpyie schlürfte an einem Kaffee, achtete aber darauf, sich ihren Genuss nicht anmerken zu lassen, solange Phädra sie im Blick hatte. Aber sobald die Alfar wegsah, trank sie gierig aus der Tasse, bevor sie wieder ihr stoisches Gesicht aufsetzte, um auch ja nicht dabei erwischt zu werden, dass sie Spaß hatte. Die Harpyie tat mir fast ein bisschen leid.

Aber nur fast.

Ich stand auf, was Ryu dazu veranlasste, mich fragend anzuschauen.

»Ich geh nur mal schnell auf die Toilette, Babe«, sagte ich.

»Soll ich mitgehen?«

Ich lachte. »Nein, ich komme schon klar. Halt du lieber hier die Stellung.«

Ryu lächelte und wandte sich wieder an Camille, mit der er sich gerade unterhielt.

Drinnen musste ich in einer unglaublich langen Schlange warten, um einen bescheuerten Chip zu bekommen, mit dem sich die Toilette aufschließen ließ. Es dauerte ewig, und als ich schließlich fertig war, war die Schlange am Eingang noch immer genauso lang wie vorher. Also verließ ich das Café auf der anderen Seite und wollte um die kleine Terrasse herumgehen und über den Zaun springen, um wieder an meinen Platz zurückzukehren.

Ich hätte mal lieber nicht experimentieren sollen.

Gerade als ich an der hinteren Ecke des Zauns angelangt war, detonierte etwas im Amphitheater.

Ein Grüppchen Menschen wurde von der Explosion völlig überrascht, und die jungen Leute, die dort zusammengesessen und vermutlich Gras geraucht oder Gitarre gespielt hatten, wurden in die Luft geschleudert. Alle Cafébesucher duckten sich instinktiv, aber meine übernatürlichen Begleiter setzten sich umgehend in Bewegung.

Anyan, Ryu, Camille, Phädra und Daoud sprangen bereits geschmeidig über die Terrasse. Caleb trappelte eher schwerfällig hinter den anderen her. Und Julian, der Gute, mühte sich verzweifelt, seinen Laptop im Rucksack zu verstauen. Die Harpyie hatte sich hoch in die Luft erhoben, zeigte hinüber zum Pit und rief Phädra etwas zu.

Ich war noch unentschlossen, ob ich den anderen folgen oder besser zurückbleiben sollte, als weitere Explosionen den Boden erschütterten und mir die Entscheidung abnahmen, indem sie mich auf die Knie warfen.

»Bleib, wo du bist, Jane!«, schrie Ryu mir zu, der zusammen mit den anderen bereits die Straße überquerte. Die Menschen hasteten in alle Richtungen, während eine Druckwelle nach der anderen von der Haltestelle aus über den Platz waberte. Ich konnte die Kraft spüren – Conleths Kraft –, die von diesem Punkt ausging, meine Nackenhaare aufstellte und die Caféabfälle aufwirbelte. Die skelettartigen Arme der Bäume rasselten eine verspätete Warnung.

Ich blieb zusammengekauert hocken und ließ Kraft in meinen Schild fließen, während der Zaun mir Schutz vor den fliehenden Leuten bot. Die europäisch aussehenden Jungs verloren keine Zeit, sprangen über das Geländer der Caféterrasse und rasten davon. Die amerikanischen Collegekids sahen einfach nur verängstigt aus und rannten kopflos durcheinander, bis Julian, der seinen Rucksack mit dem Laptop nun auf dem Rücken trug, ihnen den Weg wies.

Die Explosionen kamen noch immer von der Haltestelle. Allein die Wucht, die dahintersteckte, machte deutlich, über welche Kräfte der Ifrit-Halbling verfügte. Druckwellen erschütterten den Boden und rissen alles, was ihnen in die Quere kam, mit sich. Die Tische neben mir wurden umgeworfen. Ich kauerte mich noch enger zusammen und klammerte mich am Zaun fest, damit ich nicht weggerissen oder von etwas getroffen wurde, das von der Terrasse stürzte.

Ich war so darauf konzentriert, mein Team zu beobachten, das sich einen Weg zum Ausgangspunkt von Conleths Angriffen bahnte, dass ich völlig verwirrt war, als ich eine Hand auf meinem Haar spürte und Conleths Stimme in meinem Ohr hörte.

»Jane«, flüsterte er.

Oh, Scheiße, dachte ich und wandte mich um, um dem Unvermeidlichen ins Auge zu sehen.

Wie bei unserer ersten Begegnung hatte Conleth auch diesmal sein Feuer eingedämmt. Wie er da so neben mir kauerte, hätte er genauso gut ein verängstigter Mensch sein können, der an der Terrassenbegrenzung Schutz suchte. Aber aus der Nähe konnte ich seine Augen sehen. Seine völlig total gaga-irre-verrückten Augen.

Er ließ seinen durchgeknallten Blick über mein Gesicht wandern, und ich begriff, dass er von mir wissen wollte, ob ich verletzt war. Ich schüttelte den Kopf, unfähig meine sonst so hyperaktive Zunge dazu zu bringen, Worte zu formen.

Conleth kniete sich vor mich und legte die Hand an meine Wange. Ich konnte noch immer die Explosionen hören, das Feuer umrahmte ihn wie der gespenstische Abglanz seiner Ifrit-Form. Sein Ablenkungsmanöver für die anderen war ziemlich gut und seine Fähigkeit zum Multitasking geradezu bewundernswert.

»Jane«, sagte Con leise und umfasste nun sanft mit der Hand mein Kinn. Endlich meldeten sich meine natürlichen Reflexe zurück, und ich wollte ihm mit einem Ruck mein Gesicht entziehen, aber sein Griff wurde nur fester, und er zwang mich, ihm direkt in die Augen zu blicken.

»Da bist du ja …« Er kicherte, und mir wurde eiskalt vor Grauen. Ich antwortete ihm mit einem aufrichtigen, ja sogar tapferen Wimmern.

»Keine Angst, Jane«, sagte Conleth und grinste mich irre an. »Ich weiß, es ist nicht leicht, neue Leute kennenzulernen. Das verstehe ich.« Der Blick aus den verrückten, blauen Augen meines Mithalblings brannte sich in meine. »Aber wir sind füreinander bestimmt«, fügte er mit einem überzeugten Nicken hinzu.

Ich schluckte und versuchte meine Panik zu überwinden, damit ich mich darauf konzentrieren konnte, diese kleine Begegnung zu überleben. Ich musste den bekloppten Feuerteufel bei Laune halten, sonst würde er mich ohne langes Zögern umbringen. Seine Hand umklammerte noch immer fest mein Kinn, und immer wieder loderten beunruhigenderweise Flammen an seinem Arm auf.

Trotz all seiner Kraft hat er sich so wenig unter Kontrolle, kam es mir in den Sinn, und meine Angst verstärkte sich akut. Selbst wenn er mir gerade nichts tun wollte, ich konnte nicht darauf vertrauen, dass Conleth mich nicht aus Versehen abfackeln würde, wenn er sich zu sehr aufregte oder wütend wurde. Also musste ich ihn beschwichtigen und zwar schnell.

Das klappt doch nie, dachte ich verzweifelt, als ich versuchte, mir ein Lächeln abzuringen und insgeheim betete, dass jemand – irgendjemand – bemerken würde, dass mein Gesicht in Feindeshand waren.

»Na also. Du lächelst! Wie schön du bist.« Conleth strich mir grinsend die Haare aus dem Gesicht. Ich unterdrückte einen Schauder, der mich reflexartig überkam und drohte, meine Schmierenkomödie auffliegen zu lassen. »Ich weiß ja, dass er sich immer bloß Hübsche aussucht, aber du bist geradezu perfekt.«

Eine Welle der Übelkeit überkam mich, als ich begriff, dass Conleth mit »Hübsche« die Frauen meinte, von denen Ryu während meiner Abwesenheit trank. Ich hasste mich dafür, dass mir Cons Worte in Anbetracht der Situation, in der ich mich befand, so zusetzten.

»Ich bin dir schon den ganzen Abend gefolgt. Sie waren alle so sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig im Auge zu behalten, ich hätte einfach auf dich zugehen und ›Buh!‹ rufen können.« Conleth lachte, und seine Hände strichen mir über Kinn und Wangen. Es kostete mich alle Überwindung, meinen Kopf nicht wegzuziehen – ich hätte mir nie träumen lassen, wie aufdringlich es einem vorkommen konnte, wenn einem jemand nur ans Gesicht fasste.

»Aber ich will dir ja keine Angst einjagen«, fuhr er fort. Ich weiß nicht, wie er mein Grauen übersehen konnte, aber wir haben wohl alle unsere Schwächen. »Mir wurde klar, wie besonders du bist, nachdem du bei unserem ersten Treffen so viel Mut bewiesen hast. Dann habe ich dich durch deine E-Mails noch besser kennengelernt, und von da an wusste ich, dass wir zusammengehören, also müssen wir einander vertrauen. Denn darum geht es in einer Beziehung. Vertrauen.« Con nickte entschlossen und hielt mein Kinn noch immer so fest, dass ich ihm in die Augen schauen musste. »Ich konnte noch nie irgendjemandem vertrauen, Jane. Aber ich weiß, dass wir beide uns verstehen. Wir sind wie die zwei Seiten ein und derselben Medaille.«

Meine Kehle war wie ausgedörrt, meine Lippen waren wie zwei trockene Kräcker, die sich aneinander reiben. Ich befeuchtete sie mit der Zunge, versuchte, meine Stimme zurückzugewinnen: »Wie?«, krächzte ich. Ich musste ihn beschäftigen, ihn ablenken. Die anderen werden gleich da sein. Sie müssen einfach gleich da sein…

»Wir sind uns so ähnlich, Jane«, seine Hände krampften sich um mein Kinn zusammen, und ich bemühte mich, nicht zusammenzuzucken. »Ich weiß, wie schwer es für dich war, unter Menschen zu leben und von den anderen nicht als gleichwertig angesehen zu werden.« Die Worte »Menschen« und »anderen« klangen bei ihm so, als würde er »Scheiße« und »Dreck« sagen. Conleth stand offenbar mit seiner Herkunft auf Kriegsfuß, was meines Erachtens durchaus verständlich war. »Und ich weiß, wie stark du bist. Ich kann es spüren, wenn du in meiner Nähe bist.« Er hatte mein Kinn losgelassen und streichelte nun meinen Hals und meine Arme. Seine Augen nahmen einen entrückten Ausdruck an: der leicht raubtierhafte, leicht verzweifelte Blick eines erregten Mannes. »Deine Kraft ruft nach meiner. Feuer und Wasser.« Er spreizte die Finger der Hand, mit der er meinen Arm streichelte, so dass sein Daumen meinen Busen berührte. »Wasser und Feuer«, säuselte er und ließ seinen Blick über meinen Körper gleiten.

»Conleth«, sagte ich etwas zu schrill. Ich wollte ihn weiter ablenken, ja, aber sicher nicht mit Sex. Ich musste ihn am Reden halten.

»Conleth«, wiederholte ich sanfter. »Warum ich? Ich bin nichts Besonderes.«

»Jane, wie kannst du das nur sagen? Schau uns an! Schau mich an!« Sein Feuer, das sich gelegt hatte, solange er abgelenkt war, flackerte gefährlich nah an meinen Haaren wieder auf. »Wir sind die Macht! Wir haben all die Macht der andern, aber keine ihrer Schwächen. Keine! Wir können alles tun, was wir wollen.«

Ich nickte und versuchte große Augen zu machen, interessiert auszusehen. Er quittierte meine Reaktion mit einem Lächeln.

»Sie sind am Ende, durch Inzest degeneriert. Ihre Zeit ist abgelaufen. Und die Menschen sind nichts weiter als ein Witz. Sie laufen herum, als Futter für andere, wie Vieh.« Er schnaubte verächtlich und nahm meine Hände in seine. »Beide Seiten werden untergehen. Die Reinblütigen sterben aus, und die einzige Möglichkeit für sie zu überleben, besteht darin, dass sie Nachwuchs mit Menschen zeugen und so noch mehr Wesen wie uns beide schaffen. Wir aber brauchen niemand anderen…«

Daraufhin hob er meine Hände an seine Lippen. Sie fühlten sich auf meiner Haut dünn und feucht an, und es drehte mir fast den Magen um, als ich seine Zunge an meiner rechten Handfläche spürte, in einer grotesken Parodie von Ryus bevorzugter Liebkosung. Ich bemerkte aber auch, dass sein Schild zusammen mit dem Feuer aufwallte und wieder abflaute. Ich hatte Recht; er hatte keine Kontrolle über sich. Conleth hatte sich alles selbst beigebracht, und er konnte seine magischen Kräfte nur dürftig kontrollieren.

»Denk nur, wie unsere Kinder sein würden, Jane. Stell dir bloß ihre Macht vor. Dein Wasser und mein Feuer flösse in ihren Adern. Sie wären in der Lage, die ganze Welt aus den Angeln zu heben, die ganze Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Stell dir nur die Welt vor, die wir zusammen erschaffen könnten!« Conleth zog mich fester an sich, ganz offensichtlich wollte er mich küssen, und sein Unterkörper wand sich auf eine Weise, die verriet, dass seine Hose gerade enger wurde.

Ich sträubte mich gegen seine Umarmung und wich abrupt zurück. Seine Augen verengten sich. Die Züge um seinen Mund wurden hart, und ich wusste, ich musste ihn ablenken.

Glücklicherweise fand ich meine Stimme wieder. Nur dummerweise sagte sie nicht, was sie sollte. Ich wollte eigentlich irgendetwas Zärtliches, Besänftigendes murmeln, aber stattdessen rief ich: »Ich wäre doch nie sicher bei dir! Dr. Silver hat dich praktisch wie sein eigenes Kind großgezogen. Und jetzt ist er verschwunden.«

Ich hatte erwartet, Conleth würde wütend reagieren, und verstärkte vorsichtshalber schon einmal meinen Schild. Ich versuchte, so großen körperlichen Abstand zwischen ihm und mir herzustellen wie irgend möglich. Was nicht gerade viel war, wenn man bedachte, dass er mich noch immer an beiden Unterarmen festhielt.

Aber anstatt in Wut zu entbrennen, sah Conleth eher verwirrt aus.

»Der Doc? Doc ist weg?«, fragte er heiser.

»Tu nicht so unschuldig«, fuhr ich ihn ohne nachzudenken an. Aber er ging nicht darauf ein.

»Doc…«, flüsterte er, und ich hätte bei meinem Julia-Child-Kochbuch schwören können, dass ihn das Verschwinden des Doktors ehrlich erschütterte. Er war sogar so überrascht, dass er seinen Griff etwas lockerte. Auf diesen Augenblick hatte ich nur gewartet, und ich riss mich heftig von Conleth los, just in dem Moment, als die Kavallerie kam. Ich hatte schon einen Arm befreien können, als Con gleichzeitig gleich zwei Energiekugeln mitten ins Gesicht schlugen – eine gleißend weiß und die andere in wogendem Dunkelgrün –, die gegen seine Schilde prallten wie zwei Football-Linebacker.

Dummerweise hielt er noch immer einen meiner Arme in fester Umklammerung, und als ihn die Kraft des Aufpralls auf die Terrasse hochkatapultierte, riss er mich mit sich. Wir wurden in hohem Bogen gegen die andere Seite des schmiedeeisernen Geländers geschleudert. Ich sah, wie Ryu und Anyan über den Zaun sprangen, wo wir gerade noch gekauert hatten. So nah und doch so fern, fing mein Gehirn unpassenderweise an zu summen, als Conleth mich auch schon wie eine Stoffpuppe hochriss und vor sich hielt. Ich stellte fest, dass es nichts gab, das eine Frau ernsthafter an der Liebeserklärung eines Mannes zweifeln ließ, als wenn er sie gleich darauf als menschliches Schutzschild verwendete.

Wir befanden uns also in einer Pattsituation. Magiekugeln tanzten einsatzbereit über Ryus und Anyans Handflächen, aber sie konnten sie nicht abfeuern, da Conleth sich hinter mir versteckte. Ryu raste natürlich vor Wut, aber Anyans Zorn perlte geradezu an seinem Körper hinunter. Conleth saß wirklich in der Klemme, sollte der Barghest ihn jemals in die Finger bekommen.

Meine beiden Retter tauschten Blicke aus, kommunizierten offenbar miteinander, und Anyan nickte, während Ryu seine Kugel fallen ließ. Sie zischte am Boden noch einmal kurz auf, bevor sie verpuffte. Nell würde eine solche Energieverschwendung nicht befürworten.

»Conleth, du hast deinen Standpunkt deutlich gemacht. Wir wissen, wie mächtig, wie stark du bist. Aber wir wollen doch alle nicht, dass Jane etwas passiert, oder? Sie zittert, Conleth. Sie hat Angst. Hör auf, ihr Angst zu machen. Lass sie los.«

Ich wusste, warum Ryu immer wieder meinen und Conleths Namen sagte, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass die Standardverhandlungstaktik hier ausreichte. Nicht in einem Moment wie diesem. Con war so wütend, so verrückt vor Zorn und all den übermäßigen Qualen, die er schon ausstehen hatte müssen, dass man sicher nicht mit Worten zu ihm durchdringen konnte, wenn er sich bedroht fühlte. All die schrecklichen Erfahrungen, die er in seinem kurzen Leben bereits gemacht hatte, hatten ihn zu einem harten Überlebenskämpfer werden lassen – im schlechtesten Sinne. Um zu überleben, würde er alles tun, ganz gleich, wie viele Leute dabei in Mitleidenschaft gezogen wurden.

»Warum?«, knurrte Conleth grimmig, seine wütende Stimme klang laut in meinen Ohren. »Damit du sie weiter benutzen, sie betrügen kannst? Du hast sie nicht verdient, und sie weiß das genauso gut wie ich. Sie liebt dich nicht. Sie liebt mich!«

»Du hast Recht, Conleth. Jane hat mehr verdient, als ich ihr geben kann. Und darüber können wir reden. Sie sollte die Gelegenheit bekommen, dich richtig kennenzulernen. Also lass sie los. Jane wird dich nicht lieben, wenn du ihr wehtust. Das weißt du…«

Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass sich Camille von einer Seite und Caleb und Daoud von der anderen an uns heranpirschten. Ich wusste nicht, wo Phädra und ihr Gefolge war, aber zum allerersten Mal, seit ich sie kannte, hoffte ich inständig, sie wären nicht weit. Andererseits hätte die Alfar wahrscheinlich keine Skrupel, mich zusammen mit Conleth in die Luft zu jagen, also sollte ich vielleicht nicht so erpicht auf die Intervention der glatzköpfigen, kleinen Frau sein.

»Stopp sie!«, brüllte Conleth so laut, dass mir fast das Trommelfell platzte. Auch er hatte die heranpirschenden anderen entdeckt. »Stopp sie! Und sagt ihnen, sie sollen sich da hinstellen, wo ich sie sehen kann. Ich will es nicht, aber sonst werde ich ihr wehtun!«, fügte er hinzu, und ich spürte plötzlich Hitze an meinem Rücken, sah, wie Flammen an den Armen entlangzüngelten, die mich festhielten. Als Caleb und Camille sich nicht vom Fleck bewegten, verstärkte sich Cons Griff noch, und ich konnte seine Hitze durch meine Kleider hindurch spüren. Ich wimmerte, und Ryu bedeutete Camille, Caleb und Daoud mit grimmigem Gesicht, nicht näher zu kommen. So viel zu dem Überraschungsangriff.

Anyan, der offenbar genug davon hatte, den Unterhändler zu spielen, trat plötzlich vor. »Lass sie runter, sofort!«, knurrte der Barghest drohend. »Sonst gehst du drauf, Junge… und wenn Jane etwas passiert, dann stirbst du einen qualvollen Tod, das verspreche ich dir! Lass sie runter, überlass sie uns, dann hast du vielleicht noch eine Chance davonzukommen.« Mit seinen harten, grauen Augen starrte der große Mann Con fest in die Augen, und ich wusste, dass Anyan es ernst meinte. Ich bekam meine erste Kostprobe davon, warum der Barghest eine Legende war. Er war zwar kein Killer wie Graeme, aber Gewalt war ihm nicht fremd.

Conleth fluchte leise. Er wägte seine Optionen ab, denn auch er hatte die Drohung in Anyans Augen gesehen. Ich spürte, wie Cons Körper sich anspannte, und schloss die Augen, in der Befürchtung, dass ich gleich sterben würde. Doch stattdessen verspürte ich einen ruckartigen Schmerz, als Conleth eine Mischung aus seiner Körperkraft und seinen übernatürlichen Kräften aufwandte, um mich durch die Luft zu dem Barghest hinüberzuschleudern. In derselben Sekunde setzte der Ifrit-Halbling vier Feuerblitze frei, die in die vier Bäume rund um die Terrasse einschlugen und sie auf uns herniederstürzen ließen. Während die anderen fluchend die brennenden Bäume mit ihren Schilden abzufangen versuchten, landete ich auf Anyan. Es war, als würde ich gegen eine Ziegelmauer prallen. Nur dass diese Ziegelmauer mich auffing und festhielt. Meine Beine hingen noch in der Luft, während seine Arme sich um mich legten und er mich so fest hielt, dass meine Wirbel knackten.

»Jane…«, flüsterte Anyan heiser, wobei sich sein Mund an mein Ohr presste und er mich noch fester an sich drückte. Sein Atem war so abgehackt wie meiner, und ich bemerkte, dass Geiseldramen chaotische Gefühlsreaktionen hervorrufen konnten.

Dann wurde ich behutsam auf die Füße gestellt, und Anyan heftete sich an Conleths Fersen, denn der war wie der Blitz davongeschossen, sobald er mich nicht mehr als Geisel hatte. Ich sank zu Boden, denn meine zitternden Beine konnten mein Gewicht nicht mehr tragen. Ich sah, dass alle, die nicht gerade damit beschäftigt waren, uns von den brennenden Bäumen abzuschirmen, entweder auch die Verfolgung aufgenommen hatten oder die menschlichen Zeugen hektisch mit einer Aura belegten. In dieser Nacht würde in Cambridge ganz offenbar wieder das Gerücht von einer undichten Gasleitung umgehen.

Ich setzte mich im Schneidersitz hin, als der Adrenalinschub in meinem Körper nachließ und ich in mich zusammensackte wie eine Marionette, deren Schnüre gekappt worden waren.

Dann hörte ich Julian fluchen.

Er hatte einen der größeren Bäume gehalten. Phädra war endlich wieder aufgetaucht und half Kaya (oder Kaori) nun dabei, ihre brennende Last hochzuhieven und vom Café wegzukippen. Die Harpyie schwebte in der Luft und zog mit all ihrer Kraft von oben, während die Alfar von unten drückte. Sie wollten die noch immer brennenden Bäume auf der großen Asphaltfläche neben der Terrasse stapeln.

Aber Julian rutschte der Baum weg, den er hielt und der direkt über uns loderte. Ich wusste bisher nur, wie ich mich mit meinen Schilden gegen magische Angriffe zur Wehr setzen, nicht jedoch, wie ich reale Dinge damit bewegen konnte, also dachte ich schon, mein letztes Stündlein hätte geschlagen, als ich den feurigen Stamm erst über mir schwanken und dann von Julians Schild abrutschen sah.

Er stoppte nur ein paar Zentimeter über mir, gehalten von einem Netz aus Alfar-Kräften. Als ich durch meine Finger spähte, starrte Phädra mich an, als frage sie sich selbst, warum sie das getan hatte.

Eine Sekunde lang fürchtete ich, sie werde ihre Meinung ändern und den Baum doch noch auf mich fallen lassen. Aber stattdessen schnippte sie nur lässig mit den Fingern, und einen Augenblick später landete der Baum mit einem lauten Krachen bei den anderen, die bereits auf einem Haufen vor sich hin schwelten, wo sie keinen Schaden mehr anrichten konnten.

Ich konnte nicht glauben, dass die kleine Alfar gerade mein Leben gerettet hatte.

Aber ihrem Gesichtsausdruck zufolge war ich sehr viel glücklicher darüber als sie.

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Nackt und tropfnass kam ich aus dem Atlantik und ging zu Ryu, der im Sand sitzend mit einem Handtuch auf mich wartete. Er hielt es mir mit ausgebreiteten Armen hin und umschlang mich damit, als ich mich zwischen seine Beine kuschelte und meinen Kopf an seine Brust bettete.

Die Verfolgung von Conleth war noch immer in vollem Gange, also hatte Ryu es für unbedenklich befunden, schnell mit mir eine Runde schwimmen zu gehen. Wir waren noch immer alle völlig erschöpft von unserem letzten Zusammenstoß mit Con, aber Carson Beach war mal wieder meine Rettung.

»Ich fasse nicht, dass wir es wieder zugelassen haben, dass Conleth an dich rankommt.« Ryus Stimme grollte in mein Ohr.

»Mach dir nichts draus, Babe«, erwiderte ich und streichelte seine Rippen. »Mir war gleich klar, dass er hinter dem Anschlag im Pit steckt. Er scheint wirklich verrückt zu sein«, stellte ich fest und hob den Kopf, damit ich Ryu ansehen konnte. »Und leider auch sehr stark.«

Ryu neigte seinen Kopf zu mir herunter und küsste mich auf die Stirn. »Ja, das ist er.«

»Was ich nicht fassen kann, ist, dass Phädra mich gerettet hat.«

»Tja, wir können sie vielleicht nicht besonders gut leiden, aber sie ist Teil unseres Teams.«

Ich schnaubte verächtlich. »Ja, genau, das ist sicher der Grund, warum Jarl sie uns auf den Hals gehetzt hat – damit sie Teil unseres Teams ist.«

»Den Alfar ist genauso daran gelegen, diesen Fall zu lösen, wie uns, Jane. Niemand von uns ist sicher, solange Conleth nicht gefasst ist. Außerdem müssen wir herausfinden, wie dieses Labor finanziert wurde und von wem. Falls wir einen neuen Feind haben, müssen wir das alle wissen. «

Ich lehnte meinen Kopf wieder an Ryus Brust, um meinen skeptischen Blick zu verbergen. Ich glaubte zwar auch, dass die Alfar Conleth erwischen wollten, aber ich hätte mein Leben drauf verwettet, dass Jarls Interesse an ihm noch etwas anderes zu bedeuten hatte. Wir wussten noch nicht, was, aber es musste einfach mehr dahinterstecken.

In den Filmen oder Büchern, die ich las, verliefen Kriminalfälle oder Ermittlungen immer linear, und die Handlung entwickelte sich Schritt für Schritt vom Fund der Leiche über verschiedene Enthüllungen bis zur ultimativen Lösung des Falles. Wenn man also schlau war und sorgfältig ermittelte, konnte man die Missetäter fangen und weitere Opfer retten. Aber unsere »Ermittlung« im echten Leben war ein einziges Riesendurcheinander, in dem wir alle blind herumstolperten und nichts weiter als Conleths Spielbälle waren – oder auch von denen, die hinter den Morden in Chicago steckten, wer auch immer das sein mochte. Ich glaubte noch immer nicht, dass Con diese Verbrechen begangen hatte. Der Schuldige musste stark sein und über beste Verbindungen verfügen und darüber hinaus genau über alles informiert sein, was vor sich ging. Ich glaubte eher, dass dieser jemand Conleth den Hinweis auf Felicia Wethersby zukommen hatte lassen, um ihn als Köder zu missbrauchen und damit von seinen eigenen Machenschaften abzulenken.

Und unterdessen tanzten wir alle nach seiner geheimnisvollen Pfeife.

Sieht so also mein neues Leben aus?, fragte ich mich. Besteht es nur darin, die ganze Zeit von den Alfar herumgeschubst zu werden oder von jedem, der nun mal mächtiger oder furchteinflößender ist als ich selbst?

Denn wenn das der Fall war, dann fragte ich mich wirklich, ob mein neues Leben all die Opfer wert war. Ich hatte zwar, bevor ich von dem übernatürlichen Vermächtnis meiner Mutter erfahren hatte, kein besonders aufregendes Dasein geführt, aber wenigstens hatte ich das tun können, was mir wichtig war. Obwohl ich mein ganzes Leben zu Hause gewohnt hatte, war ich doch auf meine Art ziemlich unabhängig gewesen. Ich hatte für meinen Vater gesorgt, genauso wie er für mich. Ich war die ganzen letzten Jahre über der Hauptverdiener in unserer kleinen Familie gewesen, und ich hatte die Entscheidungen getroffen, die ich treffen wollte. Selbst wenn der Entschluss, im örtlichen Buchladen zu arbeiten, damit ich mich um meinen Vater kümmern konnte, vielleicht nicht gerade glamourös erscheinen mochte, es war allein mein Entschluss gewesen.

Und jetzt? Jetzt war überhaupt nichts mehr meins. Im Moment kam Ryu für alles auf, eine Tatsache, die mir überhaupt nicht gefiel. Aber ich hatte nun mal gerade kein eigenes Einkommen. Jemand anderes achtete auf meinen Vater, und ich wurde von einem pyromanischen Irren verfolgt, der mit mir Überhalblinge zeugen wollte.

Ich will einfach nur nach Hause, dachte ich, nicht zum ersten Mal, aber mit einer ganz neuen Dringlichkeit. So will ich nicht leben. Das ganze Herumjagen und Rennen und die ständige Bedrohung, das ist einfach nicht mein Leben.

Ryu verschob mich sanft, so dass ich mit dem Rücken an seiner Brust lehnte.

»Bist du okay, Liebling?«

»Eigentlich nicht. Aber sicher besser dran als Edie und Felicia.«

»Sie könnten durchaus noch am Leben sein, Liebling.«

»Glaubst du das wirklich?«, fragte ich.

Ryus bedrückendes Schweigen war Antwort genug.

»Wir haben noch nicht darüber gesprochen, wer Conleth die Nachricht über Felicia geschickt haben könnte. Entweder Phädra war in der Nähe, oder wir haben Jagd auf Conleth gemacht oder wurden von ihm gejagt. Ich glaube, diese Nachricht ist der Schlüssel zu allem.«

Ryu zuckte mit den Schultern. »Möglich. Aber er könnte die Nachricht genauso gut bei einem seiner Opfer gefunden haben. Schließlich ist sie nicht an ihn adressiert.«

»Ich glaube einfach nicht, dass Conleth je in Chicago war«, argumentierte ich beharrlich. »Ich glaube, wer auch immer die Leute dort ermordet hat, hat auch Conleth die Nachricht zukommen lassen, damit er jemanden tötet, der als das Bindeglied zwischen den Bostoner Opfern und denen aus Chicago dient.«

Ryu zuckte erneut mit den Schultern. »Falls du damit Recht hast, dann mischt da noch jemand mit…«

»Es muss derjenige sein, der das Labor finanziert hat. Der neue Geldgeber.«

»Das wäre die logische Folgerung, falls deine Theorie stimmt. Aber das ist ein ziemlich großes ›Falls‹, findest du nicht, Baby?«

»Das weiß ich. Aber für mich ist es so, wie du damals gesagt hast, als wir gegen Jimmu ermittelten. Ich kann sehen, dass es da irgendwo ein Muster gibt; ich kann es bloß noch nicht entziffern. Aber ich weiß, auf wen ich mein Geld setze.«

»Jane«, seufzte Ryu in leidgeprüftem Ton, »du kannst nicht immer alles auf Jarl schieben.«

»Wirklich nicht?«, fragte ich und hob das Kinn, damit ich ihm in die Augen schauen konnte. »Ich glaube noch immer, dass mehr hinter Jimmus Morden steckte, als wir wissen, und ich denke, dass wir irgendwann entdecken werden, dass er hinter alledem steckt.« Ryu wollte protestieren, aber ich ließ mich nicht davon beirren. »Findest du es nicht auch komisch, dass Jarl jemanden geschickt hat, der uns im Auge behält? Und warum ist Phädras Gefolge immer in zwei Gruppen aufgeteilt, eine geht mit uns, und eine ist immer urplötzlich verschwunden. Es ist, als würde uns eine Hälfte ausspionieren, und die andere steht auf Abruf bereit, um auf unsere jeweiligen Enthüllungen sofort zu reagieren.«

Ryu schüttelte, wie zu erwarten gewesen war, den Kopf.

»Und warum haben wir überhaupt vor Phädra nicht über die Nachricht gesprochen? Weil niemand ihr über den Weg traut, Ryu! Nicht einmal du selbst. Und wie weit reicht dieses Misstrauen, wenn nicht bis zu ihrem Boss?«

»Es ist ein Unterschied, ob man Jarl oder Phädra nicht traut, oder ob man ihnen gleich unterstellt, dass sie die Morde in Chicago zu verantworten haben. Wir haben nichts gegen sie in der Hand. Und wenn mich nicht alles täuscht, dann behauptest du außerdem, dass nicht nur eine Verbindung zwischen Jarl und diesen Morden besteht, sondern auch zwischen Jimmus Morden und den aktuellen Geschehnissen. Ist dir eigentlich klar, wie verrückt das klingt?«

»Okay, es klingt weit hergeholt, aber…«

»Jane, welchen Teil von ›Wir haben jeden Aspekt von Jimmus Verbrechen ermittelt‹ hast du nicht verstanden? Hältst du uns für so unfähig?«

»Nein, überhaupt nicht! Ich glaube nur, dass unsere Feinde schlau sind, Ryu. Vielleicht sogar schlauer als wir.«

Ryu stieß geräuschvoll die Luft aus. Ich wusste, er war genervt von mir, aber ich würde trotzdem nicht lockerlassen.

»Also, wie denkst du, ist Jarl darin verwickelt?«

Ich atmete tief durch und ordnete sorgfältig meine Gedanken. Ich wusste, ich hatte die Tendenz, wie eine Verschwörungsfanatikerin zu klingen, also musste ich meine Worte umsichtig wählen. »Ich glaube, Jarl ist der geheimnisvolle Geldgeber. Du hast mir doch selbst gesagt, er sei der Oberste Spion. Was, wenn er von Conleth Wind bekommen hat, das Gerücht aber unterdrückt und dann selbst Untersuchungen angestellt hat? Und als er Con dann in dem Labor entdeckt hat, hat er es mit Hilfe von Magie und Geld einfach übernommen. So hatte er sofort sein Versuchskaninchen ohne Wenn und Aber.«

Ryu sah mich an, als hätte ich soeben Küchenschaben gekotzt.

»Das ist so absurd, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Kein Mitglied der Alfar würde je auf diese Weise unser Publikwerden riskieren. Wir haben das Geheimnis unserer Existenz über Jahrtausende mit einem Eifer gehütet, der keinerlei Skrupel zuließ. Jeder Mensch, der je dahinterkam und versuchte, seine Entdeckung publik zu machen, wurde von uns neutralisiert. Zusammen mit allen, denen er auch nur davon erzählt haben könnte. Früher haben wir sogar ganze Dörfer ausgelöscht, um unser Geheimnis zu schützen.« Ich runzelte die Stirn, aber Ryu ließ sich nicht beirren. »Ich erzähle dir das nicht, um über die moralische Tragweite unseres Handelns zu diskutieren. Ich erzähle es dir, weil es die Wahrheit ist. Abgesehen davon ergibt das, was du sagst, keinen Sinn. Wie hätte er sich in ein solches Unternehmen einkaufen können, ohne dass wir davon erfahren? «

Ich dachte über Ryus Worte nach. Es gab da etwas, was Morrigan vor Monaten im Verbund zu mir gesagt hatte, das damals in Bezug auf die Mordfälle, in denen wir ermittelten, wirklich wichtig war. Seither war ich das, was damals passiert war, fast schon wie besessen immer und immer wieder durchgegangen, weil ich noch immer nicht verstand, warum Jimmu es getan hatte. Die anderen Übernatürlichen schienen sich damit zufriedenzugeben, die Nagas als durchgeknallte Rassisten abzutun, die nur die Gunst der Stunde genutzt hatten, um ein paar Halblinge um die Ecke zu bringen. Aber ich war mir sicher, hinter diesen Morden steckte mehr als nur Hass. Ich spürte es in meinem kleinen halb menschlichen, halb Selkie-Körper.

Nun, Morrigans schicksalhafte Worte waren mir natürlich in Erinnerung geblieben, weil sie mich damals darauf brachten, dass ich Jimmu schon einmal in Verkleidung in Rockabill gesehen hatte. Aber jetzt bekamen sie noch einen ganz anderen Beiklang.

»Ryu«, warf ich ein und verdrehte den Hals, um zu ihm hochschielen zu können. »Erinnerst du dich noch, wie Morrigan mir damals den entscheidenden Tipp gab, wo ich Jimmu schon einmal gesehen hatte, indem sie etwas von ›Wissenschaftlerteams‹ sagte?«

»Ja, natürlich.«

»Tja, dann denk mal eine Minute darüber nach. Ich meine, sogar damals fand ich es seltsam, dass sie das sagte. Wir reden über die Zeugungsfähigkeit der Übernatürlichen, und sie bringt die Tatsache zur Sprache, dass es bei ihnen diesbezüglich keine wissenschaftlichen Forschungen gibt wie bei den Menschen. Es hätte Millionen andere Dinge gegeben, die sie hätte sagen können, also warum ausgerechnet das?«

Ryu dachte einen Moment darüber nach und nickte dann, wenn auch widerwillig, als er meinen Gedanken weiter verfolgte.

»Als hätte sie es schon im Kopf gehabt…«, sagte er.

»Genau. Und nun ermitteln wir plötzlich rund um ein Labor, das Tests an einem Halbling durchführte. Was, wenn Jarl es ihr und Orin gegenüber schon damals zur Sprache gebracht hat? Sie hätten eine solche Idee bestimmt abgelehnt. Als sie damals von ›Wissenschaft‹ sprach, klang das, als sei es das Verrückteste, das sie je gehört hatte.«

»Aber sie hatte es bereits im Kopf.«

»Also, was wenn Jarl ihnen damals den Vorschlag machte, wissenschaftliche Methoden wie die der Menschen anzuwenden, und sie seine Idee sofort verworfen haben. Jarl ist nicht der Typ, der sich so leicht von etwas abbringen lässt. Was, wenn er daraufhin beschloss, die Sache einfach auf eigene Faust durchzuziehen? Wenn er tatsächlich versucht hätte, Experimente mit Halblingen auf den Weg zu bringen. Das würde auch Peter Jakes’ Mission erklären …«

»Aber selbst wenn Jarl Experimente mit Halblingen machen wollte«, gab Ryu zu bedenken, »warum tötete er sie dann?«

»Oh.«

»Genau.«

»Mist.« Mein Gehirn blockierte, als ich mit dem Kopf voraus in die Betonmauer der Realität knallte. »Ja, das ergibt keinen Sinn. Warum hätte er seine Versuchskaninchen töten sollen?«

Ryus Hand glitt unter das Handtuch und streichelte meinen Bauch. »Es war eine kluge Idee, Baby«, murmelte er, und seine Lippen, die seinen Worten folgten, pressten sich an mein weiches Ohrläppchen.

Was mich jedoch an die blutigen, abgeschnittenen Ohren erinnerte, die Jimmu gesammelt hatte. Ich erschauderte.

Ryu rückte von mir ab und sah mich stirnrunzelnd an, während ich eine Entschuldigung stammelte: »Äh, tut mir leid, Ryu. Ich musste nur gerade an die Ohren denken, die Jimmu den ermordeten Halblingen abgeschnitten hat…«

Und damit sprang mein Gehirn anmutig wie eine Gazelle einfach über die lästige Betonmauer hinweg. Ich gab einen komischen Laut von mir, der wie der Schrei einer Schleiereule klang. Ryu blinzelte mich irritiert an, und ich blinzelte erschrocken von meinem eigenen Geräusch zurück, bevor ich mich wieder daran erinnerte, was mir soeben in den Sinn gekommen war.

Es war zwar eine ziemlich unglaubliche Sache, aber eine genauere Erwägung wert …

»Ryu, was ist mit den Leichen von Jimmus Opfern passiert? «

»Wie bitte?«

Ich setzte mich in Ryus Armen auf. Ich spürte, wie mein Handtuch wegrutschte, kümmerte mich aber nicht darum.

»Was ist mit den Leichen von Jimmus Opfern passiert? Wurden sie begraben? Eingeäschert? Oder was?«

»Keine Ahnung«, erwiderte mein Vampir atemlos, dessen Augen sich sofort an meine nackten Brüste geheftet hatten. Ich zog das Handtuch wieder hoch und somit seine Aufmerksamkeit hoffentlich wieder auf das, was ich zu sagen hatte.

»Wir müssen herausfinden, was mit den Leichen passiert ist. Lässt sich das feststellen?«

Ryu sah mir flüchtig in die Augen, bevor er nach meinem Handtuch griff und daran zog. Ich hielt es fest und wartete auf seine Antwort.

Er seufzte. »Ich bin sicher, dass wir all diese Informationen in den Fallakten haben. Wir können nachsehen, sobald wir zu Hause sind…«

Ich sprang auf, erpicht darauf, meine Vermutung umgehend zu überprüfen. Ryu sah zu mir hoch und streckte mir die Hand entgegen, als wolle er Hilfe beim Aufstehen. Aber als ich sie nahm, zog er fest daran, und schon lagen wir beide wieder im weichen Sand.

»Erst ein kleiner Snack…«, raunte er und drehte mich mühelos mit sich herum, so dass ich unter ihm zum Liegen kam. Sein Mund fand einen meiner Nippel, und seine Hand tauchte zwischen meine Beine. Ich stieß einen kleinen überraschten Schrei aus.

»Die Akten können warten«, nuschelte er in die weiche Haut meiner Brust.

Ich wollte schon protestieren, als mir wieder einfiel, dass es hier nicht nur um ein Schäferstündchen ging, sondern genauso darum, Ryu bei Kräften zu halten.

Er hatte heute Nachmittag viel von seiner magischen Kraft eingebüßt, also hatte er genauso das Bedürfnis nach einem Schuss Energie wie ich vor meinem Bad im Atlantik. Und wir waren darauf angewisen, dass jedes Mitgleid unseres Teams top in Form war …

Also ließ ich mich von der Lust mitreißen, auch wenn ich dafür meine Ungeduld, nach Hause zu kommen und die Akten zu durchforsten, noch etwas zügeln musste. Ich spannte die Muskeln um seine Finger fest an, damit ich schneller kam. Schon spürte ich Ryus Zunge an meinem Hals, die mir seinen Biss verhieß.

Ich musste mir eingestehen, dass es sich verdammt gut anfühlte.

Aber ich hatte mich noch nie im Leben so sehr wie ein Müsliriegel gefühlt.


»Ryu«, rief ich dreieinhalb Stunden später. Wir waren zurück in Boston, und ich saß an seinem Arbeitsplatz über die Akten von Jimmus Halblingsopfern gebeugt. Ryu hatte mir gesagt, dass er alle Tatorte untersucht hatte, aber mir war nicht klar gewesen, wie gründlich er dabei vorgegangen war. In diesen Berichten stand einfach alles, was mit den Leichen der Opfer geschehen war, inklusive …

»Ryu! Das ist wichtig…«

Ryu kam aus der Küche, wo er gerade etwas beim Thailänder bestellt hatte.

Mit einem weiteren komischen Triumphschrei, der uns beide kurz innehalten ließ, überreichte ich ihm die Papiere, die ich aus allen Akten über Jimmus Opfer herausgesucht hatte. Ryu setzte sich und stützte sich mit dem Ellenbogen an der Tischkante auf, während ich ihm voller Erwartung beim Lesen zusah. Er ging in Ruhe alle Unterlagen durch, während ich vor Ungeduld zappelte. Schließlich blickte er auf und schüttelte kleinlaut den Kopf.

»Jane, wenn ich geahnt hätte, was für ein kleines Genie du bist, hätte ich dich gleich an dem Tag, an dem ich dich zum ersten Mal sah, gekidnappt.«

Ich wurde rot und dachte erst dann darüber nach, was er eben gesagt hatte.

»Moment, was hast du denn von mir gedacht, als du mich zum ersten Mal sahst?«

Er lachte. »Ehrlich? Ich dachte ›hübscher Vorbau‹ und dann ›sehr hübscher Vorbau‹. Exakt in dieser Reihenfolge.«

Damit kann ich leben, dachte ich auf perverse Art erleichtert darüber, dass er wenigstens nicht über die Qualität meines Blutes nachgedacht hatte. Dass er von meinen Brüsten begeistert war, erschien mir … akzeptabler, als wenn er mich bloß als Blutzapfsäule betrachtet hätte.

»Aber im Ernst, du bist der Wahnsinn! Wir wären nie auf diese Verbindung gekommen.«

»Tja, ihr seid es eben nicht gewohnt, wissenschaftlich vorzugehen wie wir Menschen«, sagte ich. »Warum solltet ihr da prüfen, was mit den Leichen passiert ist?«

»Dabei ist es so offensichtlich, aber eben auch so außerhalb unseres Bezugsrahmens«, gab Ryu zu.

Was Ryu und die anderen übersehen hatten, war, dass jeder einzelne tote Körper von Jimmus Opfern der Wissenschaft überlassen worden war. Und keiner von ihnen war in den Spenderlisten verzeichnet gewesen bis unmittelbar vor den Morden.

»Ich stelle mir das Szenario so vor«, sagte ich und nahm das Blatt Papier, auf dem ich mir Notizen gemacht hatte, seit wir wieder bei Ryu waren und ich »Körper der Wissenschaft überlassen« in den Autopsieberichten der ersten beiden Opfer gelesen hatte. »Aufgrund dessen, was Morrigan im Verbund zu mir sagte, nehmen wir einmal an, dass jemand ihr die Idee unterbreitet hat, menschliche Wissenschaftsmethoden anzuwenden, um die Nachwuchsprobleme der Übernatürlichen zu lösen. Dann muss es jemand gewesen sein, der dem Herrscherpaar sehr nahesteht. Und wer ist ihnen näher als Jarl?«

»Jane…«

»Ryu, bitte lass mich ausreden. Du musst ja nicht mit allem, was ich sage, einverstanden sein, aber lass mich ausreden. « Nach ein paar Augenblicken des Zögerns nickte er. Aber er sah nicht besonders glücklich darüber aus.

»Das Nächste, was wir wissen, ist, dass Jarls Handlanger Jimmu die Halblinge ermordet hat, die Peter Jakes voher katalogisiert hat. Haben wir je eine offizielle Begründung erhalten, warum Jakes beauftragt wurde?«

Ryu zuckte mit den Schultern. »Orin und Morrigan sind mir natürlich keine Rechenschaft schuldig, aber sie haben mir gesagt, dass sie die Halblinge katalogisieren lassen wollten, damit sie einen Überblick haben, wie viele es von ihnen in ihrem Territorium gibt, über welche Kräfte sie verfügen und warum sie sich sozusagen nicht im Schoße der Familie befinden.«

Ich dachte scharf nach, wobei ich an einem Nagelhautfetzen kaute und auf meine wirren Notizen starrte.

»Was wenn sie gar keinen richtigen Grund hatten, Jakes loszuschicken? Wenn sie es nur getan haben, um Jarl bei Laune zu halten?« Als ich es aussprach, ergab es plötzlich einen Sinn. »Vielleicht haben sie ihn damit vertröstet, seine Idee in Betracht zu ziehen, je nachdem, was bei Jakes’ Nachforschungen herauskommt!«

Ryu nickte nachdenklich. Ich wusste, dass ihm meine Denkrichtung nicht gefiel, aber ich wusste auch, dass Ryu die Herausforderung liebte. Er liebte es, die Spielchen, die seine Brüder spielten, zu durchschauen. Vielleicht war er von dem, was ich sagte, nicht vollkommen überzeugt, aber womöglich fand er Spaß an der bloßen Spekulation.

»Ich sage nicht, dass ich schon mit dir übereinstimme, aber falls Jarl der geheime Geldgeber des Labors war, dann könnte er unsere Monarchen auch darauf gebracht haben, Jakes einzusetzen, damit Jarl selbst sich seine Arbeit zunutze machen konnte. Denn damit hätte er Jakes, der durch die Lande zieht und Halblinge katalogisiert, die nicht in die Gemeinschaft integriert sind – was bedeutet, dass sie schwach, verwundbar und außerhalb unseres Radars sind.«

Ich nickte. »Also folgt Jarl Jakes überallhin und wartet, bis er wieder weg ist. Dann erscheint Jimmu und bringt die Halblinge dazu, ihre Körper der Wissenschaft zu überschreiben. Sobald sie eingewilligt haben, bringt er sie um. Die Leichen werden einem speziellen Labor zugeführt. Entweder einem, das Jarl eingerichtet hat, oder einem, in das er seine Leute eingeschleust hat. Alles läuft glatt, bis Jakes dahinterkommt, dass sein Katalog eine Todesliste geworden ist. Er bemerkt, dass Jimmu sich immer da herumdrückt, wo er sich gerade befindet, und zählt zwei und zwei zusammen – und daraufhin tötet Jimmu auch ihn.«

»Und wie passt Conleth in dieses Szenario?«

Ich dachte darüber nach. »Ich sehe keine direkte Verbindung… außer«, erwiderte ich und wurde wieder ganz aufgeregt, »als eine Art Inspiration! Wie schon gesagt, vielleicht hat Jarl Wind von einem Halbling bekommen, der in einem menschlichen Labor vor sich hinvegetiert? Er übernimmt das Labor und beschließt später, die Operation auszuweiten. «

»Jetzt schießt du dir aber ein Eigentor. Wenn Conleth Jarls Inspiration war, warum lässt er die Halblinge dann töten und benutzt nur ihre Leichen? Warum kidnappt er sie dann nicht stattdessen und führt Experimente an ihnen durch wie mit Conleth?«

Ich legte nachdenklich die Stirn in Falten. Das war ein berechtigter Einwand. Aber berechtigte Einwände sind wie Bleistifte: Sie werden mit der Zeit stumpf.

»Na ja«, sagte ich schließlich, »denken wir das mal in Ruhe durch. Erstens, Jarl hat schon einen lebenden Halbling in seinen Fängen. Es gibt natürlich jede Menge Versuche, die man nur mit lebenden Wesen machen kann, aber eben auch jede Menge Experimente, die sich nur an Toten durchführen lassen. Plus, denk nur an all den Aufwand, der betrieben werden musste, um allein Conleth gefangen zu halten. Es war ein ganzer Apparat von Angestellten nötig, dieses Labor zu führen, was ziemlich teuer gewesen sein muss. Okay, Conleth verfügt über enorme Kräfte, aber trotzdem. Es muss doch sicher ganz schön stressig sein, Leute zu entführen und gefangen zu halten, oder? Außerdem haben die meisten Opfer Freunde oder Familie oder Mitarbeiter, denen auffällt, wenn sie plötzlich verschwinden. Aber niemand bemerkt, wenn eine Leiche heimlich in einem Labor landet. Denn die ist ja schon tot; man muss sie nicht mal versorgen oder bewachen. Solange man nicht bei den Morden ertappt wird – was nicht passiert, wenn man ein Super-Ninja-Zauber-Schlangenmann ist, der darauf dressiert wurde, sich anzuschleichen und lautlos zu töten –, ist es praktisch der perfekte Weg, an Testobjekte zu kommen, findest du nicht?«

»Ich habe mir noch etwas anderes überlegt«, sagte Ryu nach einer Weile. Ich konnte spüren, dass ihm nicht wohl dabei war, meine Idee zu sehr zu unterstützen, aber wie gesagt, er liebte Intrigen. »Wir wissen nur von den Morden, weil Jimmu nachlässig wurde und Jakes ihm auf die Schliche kam. Wenn er Jakes nicht ermordet hätte, dann hätten wir nie erfahren, was die Nagas taten. Was wenn es noch weitere Entführungen gegeben hat oder Morde, die aber nicht entdeckt oder einfach nicht mit der Sache in Verbindung gebracht wurden?«

Entsetzt von diesem Gedanken lief es mir kalt den Rücken hinunter. Und trotzdem war ein Teil von mir gleichzeitig ganz aufgeregt über unsere Spekulationen. Natürlich waren solche Gedanken weder angenehm noch schön, aber ich hatte immer vermutet, dass mehr hinter Jimmus Morden steckte. Vielleicht stimmten unsere Theorien noch nicht bis in jedes Detail, doch in vielerlei Hinsicht ergaben sie Sinn. Nichtsdestotrotz versuchte Ryu abzuwiegeln.

»Eine gute Theorie«, sagte er zögernd, »aber wir haben bloß Beweise für Jimmus Beteiligung. Und es könnte sich immer noch nur um einen dummen Zufall handeln. Ich gebe zu, deine Überlegungen haben … einen gewissen plausiblen Gehalt. Aber wir bräuchten echte, konkrete, unwiderlegbare Beweise, bevor wir Jarl auf irgendeine Weise beschuldigen.«

»Ich weiß«, sagte ich, »aber es ist zumindest etwas. Eine Verbindung! Selbst wenn wir nichts davon beweisen können, müssen wir wissen, wer unser wahrer Feind ist.«

Unausgesprochen ließ ich meine Überzeugung, dass es sich bei unserem wahren Feind um Jarl handelte. Ryu dagegen sagte nicht, dass er nicht überzeugt war, dass ich Recht hatte. Also befanden wir uns mal wieder in einer Pattsituation.

»Wenn du Recht hast, ist die entscheidende Frage doch: Gibt es noch weitere Labors? Und wenn ja, wo?«, sagte Ryu vorsichtig. Mir wurde flau im Magen, als er weitersprach. »Und mit was arbeiten sie jetzt, da sie keine Leichen mehr von Jimmu bekommen?«

»Verdammt«, murmelte ich, als mir die Tragweite von Ryus Worten bewusstwurde. Jarl hatte Con verloren, er bekam auch keinen Nachschub an Halblingsleichen mehr für seine Experimente, und er war nun mal nicht der Typ, der so leicht aufgab; ich wollte gar nicht darüber nachdenken, zu welchen Freveltaten er vor diesem Hintergrund fähig war.

»Genau.«

» Gar nicht gut.«

»Nein.«

Langsam dämmerte mir, dass es in diesem Fall um mehr ging als nur um Conleth – und vielleicht sogar um mehr, als Ryu und ich uns auch nur vorstellen konnten.

Und ich war überhaupt nicht scharf darauf, darin verwickelt zu werden.

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Nachdem Anyan, Daoud, Camille und Julian eingetrof- fen waren, kam Ryu direkt zur Sache. Er erklärte ihnen, was wir uns soeben überlegt hatten, ging aber nicht im Detail auf unsere Hypothesen ein. Vermutlich wollte er sehen, welche Schlussfolgerungen sie selbst ziehen würden.

Da fiel mir plötzlich Ryus Visitenkartenhalter auf. Übernatürliche hatten keine Familiennamen; sie gaben zur Spezifizierung einfach ihre jeweilige Gattung an, also war ich gespannt, welchen Namen Ryu in seiner menschlichen Inkarnation verwendete. Mir fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, als ich es las.

»Ryu T. Tootie?«, rief ich ungläubig, aber Ryu ignorierte mich einfach.

»Ryu T. Tootie?«, wiederholte ich und piekte ihm mit dem Finger in den Bauch. »Ist das dein Ernst? Sag mir, dass das ein Witz ist.«

Ryu sah Daoud verärgert an. »Ich habe eine Wette verloren. Die nächsten zwanzig Jahre muss ich mich als Ryu T. Tootie ausgeben.«

»Ernsthaft?

»Ernsthaft.«

Ich starrte Daoud anerkennend an: »Das muss ja eine ziemlich gute Wette gewesen sein.«

Daoud neigte grinsend seinen dunklen Kopf zu mir hinunter, wobei seine Grübchen zum Vorschein kamen. »Danke. Sie war sogar ziemlich genial.«

»Ryu, da steht, du seist ›persönlicher Berater‹.«

»Ja«, erwiderte Ryu. »Ich nehme immer ›Berater‹. Es ist perfekt: vage, eigentlich bedeutungslos, und trotzdem klingt es nach Geld.«

»Ich wollte, dass er ›Intimberater‹ draufschreibt, aber das war in unserer Wette leider nicht enthalten«, informierte mich Daoud mit ernster Stimme, bis unsere Blicke sich trafen und wir losprusteten.

»Scheiße, heißt das etwa, dass er mir in Zukunft Rechnungen stellen wird?«, fing ich an, mit Daoud herumzublödeln, doch wir wurden von Anyan unterbrochen, der in der Tür lehnte und sich geräuschvoll räusperte. Er wollte wohl, dass wir uns wieder auf unsere Arbeit besannen, aber unsere anzüglichen Bemerkungen schienen ihm auch irgendwie unangenehm zu sein.

Plötzlich verstand ich auch warum. Es erklärte, warum der Barghest immer so nett zu mir war, warum er so viel für mich getan hatte.

Er kannte mich schon mein ganzes Leben lang, hatte mich aufwachsen sehen. Wahrscheinlich hatte ihn meine Mutter schon mit mir zusammengebracht, als ich noch ein Baby war. Vermutlich hatte ich ihn als Kind an den Ohren gezogen und mit seinem Schwanz gespielt. Natürlich nur, wenn er ein Hund war. Kein Wunder, dass er peinlich berührt war. Für ihn war ich noch immer das kleine Mädchen von damals. Ich wusste nicht, wie alt er war, aber sicher älter als Ryu, der wiederum zweihundertsiebzig Menschenjahre alt war. Ich hatte keine Ahnung, wie die Übernatürlichen ihr Alter berechneten, aber Ryu war gerade alt genug, um ernst genommen zu werden. Als Mensch wäre er vielleicht so um die dreißig. Mit Anyan war das ganz anders. Ich hatte den Eindruck, er war nicht wesentlich älter als Ryu, aber Anyan hatte wohl einfach das kleine bisschen länger gelebt und das in Zeiten, die einen Tick interessanter waren, was ihm einfach mehr Erfahrung verliehen hatte.

Ganz zu schweigen davon, dass er in Hundejahren vermutlich eine Million und zwei war.

Aber ich war nun mal kein kleines Mädchen mehr und das schon, seit ich Jasons kaltes Gesicht in meinen Händen gehalten und versucht hatte, ihn wieder zurück ins Leben zu küssen. Anyan und die anderen Übernatürlichen mussten langsam begreifen, dass ich vielleicht jung nach ihren Maßstäben war, aber eben kein Kind mehr.

Nun musste ich nur noch einen Weg finden, es ihnen zu beweisen. Schon allein, um sie davon überzeugen zu können, dass Jarl eine ernste Bedrohung war, etwas, das niemand außer Anyan zu glauben schien.

Ich horchte auf, als Camille erklärte, welche Bedeutung sie unseren Entdeckungen beimaß.

»Entweder ist das alles nur ein Zufall, was ich jedoch bezweifle, oder Jimmu hat all die Halblinge getötet, um an Forschungsobjekte für Labors zu kommen.« Ryu nickte, er wollte eindeutig mehr hören.

»Aber warum?«, fragte sie. »Und wo sind diese Labors, und wer hat sie betrieben?«, fuhr sie fort.

Julian antwortete, noch bevor Ryu oder ich etwas sagen konnten.

»Die Frage nach dem ›Warum‹ ist ziemlich leicht zu beantworten, Mutter. Die Menschen führen alle möglichen Untersuchungen an Gewebe oder Organen durch. Aber dabei handelt es sich meist um Gewebe oder Organe, die lebenswichtig sind, also…«

»Ah«, Camille nickte, »natürlich.«

Ryu nickte ebenfalls. »Und was deine anderen Fragen betrifft, da tappen wir völlig im Dunkeln. Julian sollte versuchen, so schnell wie möglich Daten zu ermitteln. Aber irgendetwas sagt mir, dass wir auf dieselbe Mantelorganisation stoßen werden, die auch Cons Labor betrieben hat.«

»Im Grunde bedeutet das ja dann, dass es eine Verbindung zwischen denjenigen, die Conleths Labor übernommen haben, und diesen anderen Labors gibt – wenn sie denn existieren«, knurrte Caleb mit seiner Bassstimme von der anderen Seite des Tisches.

Ryu nickte. Mir fiel auf, dass noch niemand den Namen »Jarl« erwähnt hatte.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte Anyan aus dem Halbschatten des Türrahmens heraus: »Die wirkliche Frage ist doch, wie viel Jarl über die Aktivitäten seiner Nagas wusste.«

»Genau«, sagte ich, was Ryu zusammenzucken ließ.

»Wir können nicht davon ausgehen, dass Jarl darin verwickelt ist«, beharrte Ryu auf seinem Standpunkt. »Wir müssen ihn im Auge behalten, ja, aber es gibt keine Hinweise darauf, dass er der geheime Geldgeber ist.«

Alle am Tisch wechselten Blicke. Ich wusste, dass alle Übernatürlichen Jarl lieber nicht darin verstrickt sehen wollten. Es würde die ganze Sache zu groß, zu unheilvoll machen. Aber ich konnte auch den Verdacht in ihren Augen sehen. Ihr Vertrauen in den Stellvertreter ihres Königs war nicht viel größer als meines.

»Dass Phädra und ihre Leute hier sind, kommt mir … seltsam vor«, sagte Julian, während er nervös seine Brillengläser polierte.

»Aber die Alfar hat Jane gestern Abend das Leben gerettet«, gab Daoud zu bedenken.

»Weder Jarl noch seine Günstlinge haben etwas für Jane übrig«, mischte Anyan sich ein und ließ damit das Geheimnis anklingen, das er und ich teilten: nämlich, dass Jarl mich attackiert hatte und mich für den Tod seiner Ziehkinder verantwortlich machte. Ich sah zu dem Barghest hinüber, aber über seinen Augen lag ein Schatten. Wollte er mir damit zu verstehen geben, dass wir Ryu erzählen sollten, was passiert war?

»Im Moment müssen wir Phädra vertrauen«, sagte Ryu. »Conleth zu schnappen, muss unsere erste Priorität sein. Und Daoud hat Recht: Sie hat Jane gerettet.«

Ich hatte Phädras Blick gesehen, der verraten hatte, wie überrascht sie gewesen war, mich unter dem Baum zu sehen. Ich war nicht so recht davon überzeugt, dass sie mich gerettet hatte. Vielmehr glaubte ich, sie hatte den Baum einfach nur aus einem Reflex heraus aufgefangen.

»Wir wären dumm, wenn wir der Alfar vertrauten«, sagte Anyan und trat ins Licht. »Oder auch nur einer ihrer Anregungen. Mir ist übrigens zu Ohren gekommen, was sie vorgeschlagen hat, Ryu, und die Antwort ist Nein.«

Ryu straffte die Schultern. Ich hatte keine Ahnung, was gerade vor sich ging, aber ich hatte ganz klar den Eindruck, dass alle plötzlich geflissentlich meinem Blick auswichen.

»Ich wollte dieses Thema erst anschneiden, nachdem ich mit Jane unter vier Augen gesprochen habe«, erwiderte Ryu mit gepresster, wütender Stimme an Anyan gewandt.

»Weil du weißt, sie hätte sich einverstanden erklärt, bevor sie jemand zur Vernunft bringen konnte. Aber ich werde ihr Leben auf keinen Fall in Phädras Hände legen.«

Die beiden Männer standen sich gegenüber, und die Energie, die von ihren Schilden ausging, war so intensiv, dass sie schon fast Funken schlug. Die ganze Situation erinnerte an die berühmte Western-Schießerei am O. K. Corral.

»Kommt schon, ihr beiden«, sagte ich und stand auf, um mich zwischen den Barghest und den Baobhan Sith zu stellen. »Offenbar geht es hier um mich, also spuckt es aus. Was hat Phädra vorgeschlagen, und warum wollt ihr nicht, dass ich davon erfahre?«

Anyan sah Ryu mit hochgezogenen Augenbrauen an, der sich daraufhin mit einem Seufzer an mich wandte. »Phädra hat angeregt, dass wir dich benutzen, um Conleth zu fassen, Jane. Dass wir uns seine Obsession für dich zunutze machen und dich als Köder einsetzen.«

»Wow«, erwiderte ich, und Anyan fing an zu knurren. Und zwar richtig an zu knurren. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er das auch in seiner menschlichen Form konnte.

»Okay«, sagte ich und wandte mich dem Barghest zu, »das ist echt eine verzwickte Angelegenheit.«

»Es kommt überhaupt nicht infrage, Jane«, sagte Anyan. »Das können wir nicht erlauben. Du weißt, wir können Phädra nicht vertrauen…«

Ryu fiel Anyan ins Wort.

»Da gibt es nichts zu erlauben, Anyan. Jane wird es machen wollen. Ich kenne sie. Viel besser als du.«

»Natürlich wird sie es machen wollen. Das ist nicht der Punkt.« Anyan war jetzt richtig wütend; er knurrte wieder. Langsam wurde ich es müde, dass man von mir nur in der dritten Person sprach. »Der Punkt ist, dass sie dabei getötet werden könnte. Sie ist stark, aber sie hat noch keinerlei Offensivtraining bekommen. Und trotzdem drängst du sie ständig in Situationen, in denen sie sich nicht allein schützen kann.«

»Sie muss es lernen, Anyan. Du würdest sie wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens in Rockabill festhalten wollen und mit Zwergen spielen lassen.«

»Ich würde sie nie irgendwo ›festhalten‹. Sie soll ihr Leben leben. Trainieren. Lernen. Eines Tages wird sie stärker sein als wir alle. Aber sie wird nicht lange genug leben, um das zu erreichen, wenn du nicht endlich damit aufhörst, deine bescheuerten Spielchen zu spielen.«

»Verdammt, Anyan!«, schrie ich. Ich hatte die Nase voll von ihrer Fehde. Das Problem war, dass es hier zwei unterschiedliche Botschaften gab. Mit mir sprach Anyan über unser Geheimnis bezüglich Jarl, während Ryu glaubte, es ginge hier nur um Phädra und Conleth. Das führte zu nichts, und ich hatte es endgültig satt, dass um mich gestritten wurde statt mit mir. »Ryu, Schluss jetzt! Sofort. Das führt zu nichts.«

Ich sah von einem der Männer zum anderen und schüttelte den Kopf. Jetzt würde es ziemlich unangenehm werden.

Aber die Wahrheit kommt sowieso heraus, erinnerte mich mein Gehirn, also bat ich die anderen, uns drei allein zu lassen.

Alle hasteten eilfertig aus dem Büro und zur Wohnungstür. Anyan, Ryu und ich folgten ihnen in den Eingangsbereich. Sobald ich die Wohnungstür hinter den anderen geschlossen hatte, fing Anyan sofort an zu argumentieren.

»Jane, ich weiß, dass du helfen willst, aber das ist zu gefährlich. « Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gesagt, der Barghest bettelte.

»Ich weiß, du willst keinen von uns in Gefahr bringen, aber hier geht es nicht nur um mich«, erwiderte ich und achtete darauf, dass meine Stimme ruhig und gefasst klang. »Ich weiß auch, dass ich, was meine Erfahrung und mein Können betrifft, das schwächste Glied bin. Aber ich bin auch die beste Chance, die wir haben. Also will ich die Idee, mich als Köder für Conleth zu benutzen, nicht von vornherein verwerfen. Denn solange er da draußen ist und mordet, sind wir für die Toten verantwortlich.«

»Das verstehe ich, Jane. Ich weiß.« Der Barghest konnte seine Frustration kaum verbergen, und seine lange Nase zuckte wie verrückt. »Aber überleg mal, was du da sagst. Du verlangst von mir, dass ich mich zurücklehne, während du in eine Falle läufst, die Phädra aufgestellt hat. Vergiss nicht, für wen sie arbeitet!«

Anyan und ich starrten einander schweigend an, bis Ryu sich schließlich geräuschvoll räusperte.

»Ich verstehe wirklich nicht, warum du so gegen diese Sache bist, Anyan«, sagte er.

Ich sah erst meinen Freund an und dann den Barghest. Er nickte. Wir mussten Ryu erzählen, was vor Monaten wirklich geschehen war.

»Ryu, wir müssen dir etwas sagen, aber du darfst nicht gleich einen Wutanfall bekommen.«

Ryu blinzelte mich überrascht an. Er dachte, er würde alle meine Geheimnisse kennen, und das stimmte auch. Bis auf dieses eine.

Er würde total durchdrehen.

»Was um Himmels willen müsst ihr mir sagen?«

Ich sah Anyan an. Er zuckte mit seinen massigen Schultern und ließ mich damit wissen, dass er bereit war, sich zu opfern. Aber dieses Päckchen musste ich definitiv selbst tragen.

»Als wir letzten November am Hof der Alfar waren, ist etwas passiert. Und ich habe dir nichts davon erzählt, denn wenn ich das getan hätte, dann wärst du total durchgedreht und wahrscheinlich getötet worden.«

Ryus Augen verengten sich, aber er wartete darauf, dass ich weiterredete. Ich holte tief Luft.

»Erinnerst du dich noch, als Jimmu diesen Mann tötete, den Nyx als Abendessen mitgebracht hatte, und dann auch mich umbringen wollte, aber du dich auf Jimmu gestürzt hast?« Ich konnte dem, was ich soeben von mir gegeben hatte, selbst kaum folgen, aber Ryu nickte.

»Na ja, ich rannte diesen Gang entlang.«

»Und?«

»Und Jarl lauerte mir auf. Er hat versucht, mich umzubringen! Er sagte all diese Sachen, von wegen ich sei an allem schuld und dass ich Jimmu auf dem Gewissen hätte. Er würgte mich. Und dann hat Anyan ihn gerade noch wegzerren können.«

Ryu ballte die Fäuste und starrte mich an, als hätte er mich gerade beim Vögeln mit einer ganzen Fußballmannschaft erwischt und morgen würden die Fotos davon in der Klatschpresse erscheinen.

»Es ging mir ziemlich schlecht, und Anyan brachte mich zum Pool, um mich zu heilen, und da hast du uns dann gefunden. «

»Und das hast du mir nicht gesagt?«

»Ich konnte nicht, Ryu.« Jetzt war es an mir zu betteln. Er musste es einfach verstehen. »Du bist ein Ermittler; du jagst die Bösen. Ich wusste, du legst dich dann mit Jarl an. Und was bin ich schon für sie? Sie hätten mir niemals geglaubt.«

»Sie hätten Anyan Barghest geglaubt«, sagte Ryu bitter.

»Nicht in diesem Fall«, widersprach Anyan sanft. »Du weißt, die Sache wäre zu groß gewesen.«

Ryu saß still da, während ich nervös herumzappelte.

»Du hast es mit Jarl aufgenommen?«, sagte er schließlich, aber nicht zu mir.

Anyan zuckte mit den Schultern. »Er hat nicht mit mir gerechnet. Und er war abgelenkt. Er wollte Jane tot sehen, kein Zweifel. Das ist auch der Grund, warum ich euren Köderplan für so eine schlechte Idee halte. Phädra ist Jarls Vertreterin, jetzt wo Jimmu tot ist. Du weißt, wie sehr sie die Nagas hasste und dass sie alles tat, um Jarls Wohlwollen zu gewinnen. Selbst wenn sie nicht die Order hat, Rache zu üben, was ich jedoch vermute, dann muss sie in Janes Tod ja geradezu ihren Freifahrtschein zu Jarls Gunst sehen. Also, selbst wenn Jarl sie nicht direkt beauftragt hat, den Versuch zu unternehmen, Jane zu töten, dann ist sie in Phädras Nähe auf keinen Fall sicher.«

Ryu schwieg noch immer. Er starrte mich wieder an. Ich errötete und wand mich unter seinem vorwurfsvollen Blick.

»Du hast Recht, Anyan«, sagte er schließlich mit schwerer Stimme. »Wir sollten Phädras Falle nicht riskieren, außer als letztes Mittel.

Meine Güte, dachte ich. Warum bleibt er nur so ruhig? Ich wollte, dass Ryu wütend wurde, mit mir stritt und nicht klang wie …

Als hätte ich ihm gerade ein Messer ins Herz gerammt, fuhr es mir durch den Kopf.

»Babe«, sagte ich, »ich bin bereit, es zu tun. Das bin ich wirklich. Wir können Phädra ja im Auge behalten. Sicherstellen, dass sie kein falsches Spiel…«

»Ich weiß, Jane«, sagte Ryu, ohne mir in die Augen zu sehen. »Ich weiß, du würdest es machen. Aber nur als letztes Mittel. Und inzwischen halten wir dich besser von Phädra fern…«

»Und sie braucht mehr Training. Hast du überhaupt mit ihr geübt, seit sie hier ist?« Bei diesen Worten von Anyan zuckte ich zusammen. Ich hatte kein bisschen trainiert, und Ryu und ich hatten schon darüber gesprochen, dass ich langsam in Rückstand geriet.

»Nein«, sagte Ryu mit zusammengebissenen Zähnen. »Wir haben nicht trainiert.«

»Gut, das wird sich ab sofort ändern. Morgen werde ich anfangen, mit ihr zu arbeiten. Sie muss lernen, ihre Schilde zu mehr als nur zu Verteidigungszwecken einzusetzen. Sie muss …«

Sie muss sich bei ihrem Freund entschuldigen, wurde mir bewusst.

»Anyan, das reicht jetzt erst mal«, unterbrach ich ihn und warf dem Barghest einen flehentlichen Blick zu. Er nickte und wandte sich zum Gehen.

»Ich, äh, lass euch beide dann mal allein. Aber morgen wird trainiert, Jane.« Ich salutierte zackig, aber er hatte sich bereits abgewandt.

»Das habe ich gesehen«, knurrte er. Also zeigte ich ihm den Mittelfinger.

»Das auch«, sagte er, als ich die Tür hinter ihm schloss.

Mit der Hand noch immer an der Klinke stand ich unentschlossen da und versuchte den Mut aufzubringen, mich zu Ryu umzudrehen.

Aber er war schneller.

Sanft legte er seine Hände auf meine Schultern und drehte mich zu sich um.

»Warum hast du es mir nicht gesagt?«

»Aus den Gründen, die ich dir genannt habe, Ryu. Ich wusste, du würdest sonst irgendetwas unternehmen. Aber ich wusste auch, dass weder ich noch du etwas hätten tun können.«

»Ich bin’s doch, Jane. Wie konntest du mich nur anlügen?«

Ich schlang meine Arme um seine schlanken Hüften und drückte mich an ihn. Ich umarmte ihn fest und presste meine Wange an seine Brust.

»So habe ich es nicht gesehen. Ehrlich. Als es passierte, hielt Anyan es so für das Beste. Und ich verstand warum. Damals kannte ich dich auch noch nicht so gut, aber ich wusste, dass du die Sache nicht auf sich beruhen lassen würdest. Alles, woran ich damals denken konnte, war dieser Mann, den die Nagas umgebracht hatten, nur um den Verdacht von sich selbst abzulenken. Sie haben ihn umgebracht und seinen Körper zerstückelt und in einen Sack gestopft, als wäre er ein Bündel alter Kleider, das für den Flohmarkt bestimmt ist.« Ryu fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, und ich schmiegte mich noch einmal fest an seine Brust, bevor ich den Kopf hob, um ihm in die Augen zu sehen.

»Es tut mir leid, Ryu. Ich wollte dir nichts verheimlichen. Ich wollte nur nicht, dass du in einer Kiste endest«, war meine lahme Entschuldigung.

Er blickte durchdringend zu mir herunter. Schließlich seufzte er und beugte den Kopf, um mich zu küssen.

»Keiner endet hier in einer Kiste«, sagte er, bevor sich unsere Lippen trafen.

»Aber damit meinst du doch nicht alle Kisten, oder?«, sagte ich verschmitzt, nachdem wir einen von Ryus patentierten, heißen »Ohmeingott, warum dreht sich alles in meinem Kopf, und wann haben sich meine Haare zu Spiralen aufgedreht?«-Küssen ausgetauscht hatten.

»Weil die Kiste noch immer eine Option ist «, murmelte ich an seine Lippen, als er mich hinauf ins Bett trug.

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Die Energie des Flusses strömte durch mich hindurch, während ich mich konzentrierte. Die Stricke um meine Handgelenke saßen gerade fest genug, dass ich meine Hände nicht hindurchzwängen konnte, aber nicht so eng, dass es wehtat. Ich prüfte den Knoten mit meinen Kräften, aber er ließ sich nicht lösen. Also änderte ich meine Taktik und stellte mir meine Kraft eher wie eine Stricknadel als einen Finger vor. Schließlich gelang es mir, sie durch den Knoten zu stecken, und spürte, wie meine Fesseln sich lockerten. Und als ich dann auf mentale und magische Weise den Umfang der Nadel immer weiter vergrößerte, war ich plötzlich frei.

»Ausgezeichnet, Jane«, grollte der Barghest und beugte sich hinunter, um das Stück des Seils aufzuheben, das sich auf dem kalten Boden hinter mir schlängelte.

»Gleich nochmal«, sagte er, nur diesmal fesselte er meine Fußgelenke.

Mir war nicht bewusst gewesen, dass wir in unserer Freundschaft ein Stadium erreicht hatten, in dem es angemessen war, dass Anyan mich fesselte, aber anscheinend erforderten verzweifelte Situationen ein bisschen Bondage. Diese Übung war der erste Schritt, mich dazu zu bringen zu verstehen, wie ich meine Kräfte physisch einsetzen konnte, und es war ein wirklich nützlicher Trick, für den Fall, dass ich einmal gefangen genommen würde.

Es war auch ziemlich schwierig, und ich hatte Unmengen von Energie verschwendet, allein um die Grundlagen zu lernen. Also war ich zwischendurch auch noch zu einem Bad gekommen, und die Erfahrung, im Charles River herumzuplanschen, war toll gewesen. Okay, auch ein bisschen eklig, weil es ein Fluss in der Stadt war, aber das Wasser hatte seine eigene, ganz charakteristische Kraft, die sich ganz anders anfühlte als die aus dem Meer. Ein wohliger Schauder überkam mich, als ich daran dachte, wie der Fluss zu mir gesprochen hatte, von der Erde, den Menschen, den Booten, den Ruderblättern und seinem mäandernden Weg …

»Zu fest?«, fragte Anyan und fuhr mit seinem Finger zwischen den Strick und meine Fußgelenke, um ihn ein wenig zu lockern. Wieder überkam mich ein wohliger Schauder, aber ich sagte mir, dass es noch immer der Fluss war, dessen Echo durch meinen Körper hallte und mir von all den Orten erzählte, die er schon besucht hatte.

»Nein, ist okay.«

Der Barghest lächelte mich an, fast entschuldigend. »Gut. Und keine Hände.«

Ich nickte und ging in mich, um meine Kraft zu finden und den Knoten an meinen Fesseln zu bearbeiten. Diesmal war es ein anderer Knoten, stellte ich fest. In Rockabill hatte ich mich im Segeln versucht und wusste daher, dass es viele verschiedene Knoten gab. Dieser hier war ein ziemlich raffinierter, und es würde mir nicht so leicht gelingen, mich hindurchzuquetschen, wie bei den anderen. Ich öffnete die Augen und warf Anyan einen missbilligenden Blick zu. Er zuckte kaum merklich mit den Schultern, als wolle er mir sagen, dass ich mich schon mal daran gewöhnen könne. Ich fühlte mich schrecklich und machte mich seufzend wieder an die Arbeit.

Es war schwierig, denn meine Beine kamen mir weiter entfernt vor als meine Hände. Das zusammen mit einem Knoten, den ich eher aufziehen als nur daran herumstochern musste, führte dazu, dass ich ziemlich lange am Boden hockte, bevor ich mich schließlich befreien konnte.

Anyan nahm erneut den Strick und wollte mich wieder fesseln, aber ich hielt ihn zurück.

»Mein Hintern ist schon ganz gefroren. Oder eingeschlafen. Das nächste Mal, wenn du mich in deine Sadomaso-Fantasien mit reinziehen willst, kannst du dann wenigstens einen Stuhl mitbringen?«

Er sah mich vorwurfsvoll an, zog dann aber seine Lederjacke aus und legte sie auf den Boden.

»Danke«, sagte ich und setzte mich auf die Jacke. Das machte die Sache ein bisschen besser.

»Okay, diesmal werde ich dich richtig fesseln. Wie ein Schwein.«

»Wie ein Schwein?«

»Na, weil Schweine eben so gefesselt werden. Ich sag ja nicht, dass du ein Schwein bist.«

»Können wir nicht einfach sagen, dass ich verschnürt werde? Müssen wir gleich fesselnde Schweine spielen?«

»Die Schweine sind es ja nicht, die fesseln. Ich fessle – du wirst gefesselt.«

»Weil ich das Schwein bin.«

»In dieser Übung, ja. Da bist du das Schwein.«

Murrend legte ich mich auf die Seite. Ich hatte meinen vorherigen Enthusiasmus darüber verloren, mit Anyan zu trainieren. Ich kam mir eher vor wie bei einem Workshop mit der Domina Nell. Ich streckte meine Arme und Beine vor mir aus und fühlte mich dabei weniger wie ein Schwein, sondern eher wie der letzte Arsch.

»Arme und Beine nach hinten, bitte.«

»Schweine werden nicht mit den Beinen hinter dem Rücken gefesselt«, wies ich ihn zurecht und drehte mich so, dass ich die Arme hinter den Rücken nehmen konnte, und winkelte meine Beine so an, dass sie in die Nähe meiner Hände kamen. »Sie würden sich ihre kleinen Schweineknochen brechen, wenn du das machen würdest.«

»Na ja, so mache ich das eben, wenn ich Menschen fessle«, sagte Anyan und fing an mich zu verschnüren.

»Fesselst du oft Leute?«

»Du wärst überrascht.«

Einen Augenblick dachte ich schon, wir würden flirten, aber dann fiel mir wieder ein, dass er mich gerade am eisigen Ufer des Boston University Beach fesselte. Und in solchen Situationen war Humor in Form von heiteren Neckereien nun mal bitter nötig.

»Du hast Glück, dass ich so beweglich bin, du Köter«, murrte ich leise, während er den Strick enger zog. Diesmal tat es ein bisschen weh.

»Das habe ich gehört. Und jetzt mach dich los.«

»Oh, gleich so autoritär.«

»Ja. Mach dich los.«

Ich brauchte nicht lang, um diese Knoten zu lösen. Nachdem ich einmal den Dreh raushatte, war ich ziemlich geschickt darin, mich aus den Fesseln herauszuwinden. Aber wie immer, wenn ich etwas Neues lernte, verschleuderte ich meine Kräfte, also musste ich, als wir das Training schließlich beendeten, noch einmal schwimmen gehen. Anyan hockte sich mit dem Rücken zu mir an den Rand des Flusses und legte eine Aura um uns, die sich gewaschen hatte, während ich mich meiner Kleider entledigte und noch einmal ins Wasser tauchte. Der Fluss und ich, wir konnten beide das nahe Meer spüren und sehnten uns danach, zu ihm zu kommen. Einen Moment lang ließ ich mich mit dem Strom treiben, spürte alles, was er spürte, und konnte mich nur gerade so davon abhalten, wie verrückt in Richtung Meer davonzupaddeln. Als ich schließlich wieder auftauchte, zugegebenermaßen etwas ölig und müffelnd, fühlte ich mich glücklicher als seit Tagen.

Eher zögerlich trocknete ich mich mit einem von Ryus teuren Handtüchern ab, denn ich war mir sicher, dass das Flusswasser nicht gerade vorteilhaft für edle Tücher war. Ich schlüpfte wieder in meine Klamotten und ging zu Anyan zurück.

»Alles klar. Und was jetzt?«

Wir hatten schon eine Weile an meinen Schilden gearbeitet, und Anyan hatte mir ein paar richtig gute Tipps gegeben, wie ich sie noch verstärken und trotzdem meine Kräfte schonen konnte. Irgendwann würde ich meine Verteidigungskräfte so weit entwickelt haben, dass ich reale Dinge damit aufhalten oder bewegen konnte, so wie die anderen das mit den brennenden Bäumen getan hatten. Aber so weit war ich noch nicht.

Der Barghest war ein guter Lehrer. Anyan arbeitete wie Nell geduldig daran, meine Fähigkeiten zu verbessern. Aber er nahm sich außerdem die Zeit, mir zu zeigen, wo ich etwas falsch machte oder wie ich etwas schneller oder effizienter tun konnte. Als klargeworden war, dass ich den Trick mit den Schilden nicht schaffen würde, hatte er zu meiner Verwunderung den Strick herausgeholt. Aber es leuchtete mir ein, sobald ich verstanden hatte, was er mir damit beibringen wollte. Es half mir dabei, zu verstehen, auf welche Art übernatürliche Kräfte sich manifestieren können, und falls ich einmal gefangen genommen würde, ließe sich das, was Anyan mir beibrachte, bei so gut wie allen Fesseln anwenden. Man musste die Kräfte bloß leicht erhöhen, um sich aus Handschellen zu befreien, oder richtig viel Energie aufwenden, falls es sich um magische Fesseln handelte. Aber im Grunde war es immer derselbe Trick, sofern der Zauber nicht viel mächtiger war als man selbst. Aber die Kunst dabei war, dass man sich nicht selbst die Knochen brach, wenn er zu stark war.

»Jetzt versuchen wir etwas ganz anderes«, knurrte der Barghest. Er legte mir die Hände auf die Schultern und bedeutete mir, mich direkt ihm gegenüber hinzusetzen.

»Hast du schon mal einen Selbstverteidigungskurs gemacht? «, fragte er mich.

»Ich? Nein. Ich bin eher von der ›Kehrtmachen und Abhauen‹-Fraktion.«

Anyan schnaubte verächtlich. »Ich habe dich verfolgt. Tut mir leid, Jane, aber du könntest nicht mal ein Faultier abhängen.«

Ich kräuselte die Nase. »Hör mal, Freundchen, nur weil du rennen kannst wie ein Höllenhund, heißt das noch lange nicht, dass du dir hier ein Urteil über die Lauffähigkeiten anderer erlauben kannst.«

»Wenn wir wieder in Rockabill sind, wirst du mit dem Joggen anfangen. Du bist scheißlangsam, egal in welcher Form dein Verfolger ist. Wahrscheinlich wäre deine Mutter sogar in ihrer Seehundform schneller als du.«

»Das mit dem Joggen kannst du vergessen! Es gibt nichts auf dieser Welt, was mich dazu bringen könnte, mit Joggen anzufangen. Und natürlich bin ich schneller als ein Seehund, verdammt nochmal. Und wo wir schon von meiner Mutter sprechen, ich kann ja wohl nichts dafür, dass ich ihre Figur geerbt habe. Ich bin eben auf Komfort ausgerichtet und nicht auf Geschwindigkeit.«

Anyan lachte. »Okay, gut. Aber jetzt sind nun mal Zeiten angebrochen, die nach Geschwindigkeit verlangen. Also werden wir an ein paar Grundlagen der Selbstverteidigung arbeiten.«

»Im Ernst? Was bringt das denn schon, wenn ich versuche, jemandem wie Jarl in sein Klimbim zu treten? Er würde mir einfach eins mit seinem Mojo überbraten, und schon läge ich am Boden und könnte mich auszählen lassen. «

»Warum würdest du Jarl auch in seinen Krimskrams treten?«

Ich seufzte. »Nicht Krimskrams – ›Klimbim‹! Ein Wort, das definitiv zu schade für nur eine Bedeutung ist. Man sollte es öfter verwenden, ja, so oft wie möglich. Und jetzt sag mir nicht, du kapierst nicht, was ich meine, wenn ich sage, dass ich ›Jarl in sein Klimbim trete‹.«

Anyan taxierte mich nachdenklich. »Okay, ich lasse dein ›Klimbim‹ gelten. Wenn du dafür mein ›verdaustig‹ gelten lässt.«

»›Verdaustig‹ wie in dem Gedicht Der Zipferlake

»Genau. Gut geraten.«

»Darin bin ich gut.«

»›Verdaustig‹ ist nämlich mein Lieblingswort, und ich komme mir gleichzeitig ironisch und weniger metrosexuell vor, wenn ich ›verdaustig‹ statt ›fabelhaft‹ sage.«

»Sagst du ›fabelhaft‹ denn so oft?«

»Auch da wärst du überrascht. Ich bin schließlich Künstler, schon vergessen? In der Kunstwelt gibt es jede Menge Anlässe, ›fabelhaft‹ zu sagen.«

Ich seufzte, wieder einmal erstaunt darüber, wie wenig ich über Anyan wusste. Ich kannte ihn als Hund und machte mir auch langsam ein Bild von ihm als Kämpfer, aber er war eben auch dieser nette Typ, der in Rockabill lebte und als Künstler arbeitete. Er hatte ein richtiges »menschliches« Leben, von dem ich keine Ahnung hatte.

Zum Glück ignorierte Anyan mein Seufzen. Ich musste wirklich damit aufhören, gut aussehende Barghests anzuseufzen.

»Du wärst außerdem verblüfft, wie oft ein Überraschungsangriff bei unsereins funktioniert. Besonders bei denjenigen, die so mächtig sind wie die Alfar.«

»Wirklich?«

»Ja, deshalb konnte ich Jarl auch so leicht besiegen, als er dich würgte. Wenn ich eine Magiekugel auf ihn geworfen hätte, dann hätte er automatisch seine Schilde hochgefahren. Aber mit einem körperlichen Angriff hat er nicht gerechnet, und so hatte ich ihn geschädigt, noch bevor er überhaupt reagieren konnte. Er war verletzt, hatte Schmerzen und konnte so sein Gleichgewicht nicht mehr zurückerlangen. Also konnte ich ihn ohne Probleme an die Wand schleudern. Übrigens eine sehr effektive Methode, aber in deinem Fall vielleicht nicht ganz so geeignet… Wie dem auch sei, besonders die Alfar – aber das gilt eigentlich für alle Wesen, die sehr mächtig und kontrolliert sind – können nicht gut damit umgehen, wenn man sie aus dem Gleichgewicht bringt. Schmerz kann sie wirklich verunsichern. Sie sind es gewohnt, sich hinter ihren Schilden zu verschanzen und von dort aus Angriffe durchzuführen, die es nie jemandem erlauben, ihnen zu nahe zu kommen. Aber wenn du es schaffst, ihnen wehzutun, ihnen zum Beispiel die Nase brichst oder sie beißt, dann kannst du sie richtig aus der Fassung bringen. Wenn das erst passiert ist, dann ist es schwer für sie, ihre Gelassenheit wiederzufinden, weil sie es einfach nicht gewohnt sind, dass irgendetwas zu ihnen durchdringt.«

»Hm«, sagte ich, »das klingt einleuchtend. Aber ich bin leider keine solche Expertin darin, Nasen zu brechen oder jemanden zu beißen wie ein Barghest. Ihr habt einfach größere Zähne.«

»Damit ich dich besser fressen kann, Kleine.«

Zu meinem eigenen Entsetzen spürte ich, wie meine Wangen heiß wurden und mit ziemlicher Sicherheit knallrot anliefen. Eine peinliche Pause von vielleicht einer halben Sekunde entstand, bis Anyan sich räusperte.

»Okay, was ich dir jetzt zeige, ist so was wie die Standardtechnik, wenn es darum geht, eine Umklammerung am Handgelenk zu lösen. Aber du kannst genauso gut noch ein Knie dazunehmen und es dem Kerl gegen die Stirn stoßen. Oder in… sein Klimbim.«

Dann wollte er, dass ich seine Handgelenke packte, und er zeigte mir den Trick. Die ganze Situation war ziemlich absurd, denn er überragte mich haushoch. Aber es war eigentlich ein ziemlich cooler Trick, was ich ihm gegenüber allerdings nie zugegeben hätte. Weil ich so beweglich war wie ein Halblings-Knickstrohhalm, bereitete mir dieser Handgelenkstrick keine Mühe, da ich meine fast doppelt verbiegen konnte. Natürlich brachte das bei Anyan nicht viel, weil er dafür mit seinen Händen meine Handgelenke praktisch zweimal umfassen konnte. Barghests hatten als Hunde extragroße Pfoten, und es bestand eine direkte Korrelation zu den Händen und Füßen in ihrer Menschenform.

Ich erlaubte es meinem Gehirn nicht, Mutmaßungen über weitere gängige Klisches über »große Hände« anzustellen.

Als wir fertig waren, war ich körperlich müde, aber magisch total aufgedreht. Mein kurzes Bad im Fluss war genau das richtige Rezept gewesen, aber das Schwimmen hatte mich auch wirklich hungrig gemacht. Auf dem Weg zurück zur Commonwealth Avenue, wo wir die Trambahn zurück zu Ryus Wohnung nehmen wollten, hielten wir an einem kleinen Imbissstand, der wie ein alter Eisenbahnwagen aussah, um etwas zu essen. Mein Magen knurrte bereits so laut, dass Anyan ihn sogar über den Straßenlärm hinweg hören konnte.

Ich nahm ein Falafel Dürüm und er das vegetarische Chili. Während wir aßen, beäugten wir gierig den Imbiss des anderen und tauschten schließlich wortlos, als wir beide jeweils genau die Hälfte gegessen hatten. Nachdem wir unseren Snack verputzt hatten, sahen wir uns an, blickten dann wieder zum Imbisswagen hinüber und kauften noch ein Linsenwrap, das wir uns geschwisterlich teilten. Es war köstlich und ein Fehler, zumindest was mich betraf, denn ich platzte beinahe aus den Nähten. Besonders als die Linsen und der Reis in meinem Magen aufzuquellen begannen.

Ich streckte mich stöhnend auf der Bank aus, während Ryu unseren Müll wegbrachte.

Als er zurückkam, lachte er mich aus. Er hob meine Füße, damit er sich setzen konnte, und legte sie sich auf den Schoß. Ich war überrascht von der plötzlichen Nähe; normalerweise berührten wir uns bloß, wenn er in seiner Hundeform war. Außer wenn er mich gerade trug. Oder meine zahlreichen Verletzungen heilte. Oder wenn er mir beibrachte, wie man jemandem das Knie an die Stirn rammte … Wie auch immer, wir berührten uns eigentlich nie, außer wenn seltsame Umstände es unbedingt erforderlich machten. Also brachte mich dieser beiläufige körperliche Kontakt etwas aus dem Konzept. Und wenn ich aus dem Konzept geriet, dann wandte ich immer dieselbe wohlerprobte Gegenmethode an: Ich fing an zu brabbeln wie ein Idiot.

»Warum kann ich nie rechtzeitig zu essen aufhören? Wenn ich nicht so süchtig nach Schwimmen wäre, würde ich bestimmt vierhundert Kilo wiegen. Ich wäre eine von den Leuten, für die Jerry Springer extra eine Wand niederreißen lassen müsste, damit er mich ins Studio bekommt. Sie müssten meine Schlafzimmerwand herausbrechen und mich auf eine riesige Pritsche laden und dann auf einen Laster packen. Und all das nur, damit Jerry immer und immer wieder darauf hinweisen könnte, dass ich unglaublich fett bin …«

Anyan hörte sich meinen Wortschwall mit einem Lächeln an. Er sah so entspannt aus, dass auch ich mich wieder entspannte. Was ziemlich dämlich von uns war, denn das wäre der perfekte Moment für Conleth, uns anzugreifen. Aber ich konnte gleichzeitig Anyans Kraft spüren, die uns stark und beständig umfing. Er mochte zwar wie ein faulenzender, wenn auch etwas zu groß geratener Biker-Student aussehen, aber er war noch immer im Dienst. Also schloss ich beruhigt meine Augen und saugte die zarten Strahlen der Februarsonne auf, die auf unsere Bank fielen. Und ich bemühte mich wirklich sehr, nicht Knoblauch in die kalte Winterluft zu rülpsen.

So verharrten wir für etwa zehn Minuten, bis Anyan anfing, an den Schuhbändern meiner alten, abgelatschten Chucks herumzunesteln.

»Jane?«

»Hmm?«, nuschelte ich schläftig.

»Kann ich dich was fragen? Wenn es dir zu persönlich ist, sag mir einfach, dass ich die Klappe…«

Doch noch bevor Anyan den Satz zu Ende sprechen konnte, fühlte ich dieses seltsame Prickeln in der Luft, das schon beim letzten Mal die Urmagie des Wichtels angekündigt hatte. Meine Muskeln spannten sich an, aber bevor ich mich aufsetzen konnte, vernahm ich einen puffenden Laut, und etwas landete schwer auf meinem Bauch.

»Uff«, stöhnte ich, als der Wichtel mich mit seinen sechs pechschwarzen Augen von oben herab beäugte. Er winkte mir mit allen seinen rechten Händen zu. Als er bemerkte, dass ich leicht grün im Gesicht wurde, wechselte er den Platz, so dass er nicht mehr Gefahr lief, einen Schwall meines Hippie-Essens abzubekommen.

»Oh, hallo«, sagte ich zu der kleinen Kreatur, die mit freundlicher Stimme zurückzwitscherte. Dann ließ sie alle ihre sechs glänzenden Knopfaugen über meinen Körper schweifen, und mindestens drei davon blieben an meinen Brüsten hängen.

Dann wandte er sich an Anyan und sagte etwas zu ihm, das die Nasenspitze des Barghests heftig zucken ließ.

Als er in der seltsamen Sprache antwortete, schwang ein Lachen in seiner sonst eher schroffen Stimme mit.

»Was hat er gesagt?«, fragte ich und blickte den Wichtel giftig an. In seinem pelzigen Gesicht machte sich ein alarmierend großes, blendend weißes Hollywoodgrinsen breit.

Doch bevor Anyan sich für den wuscheligen kleinen Perversling entschuldigen konnte, hatte der schon eine weitere Akte hervorgezaubert; diesmal eine noch dickere als beim letzten Mal.

Dann zwinkerte er mir mit allen seinen drei linken Augen zu, zwitscherte noch etwas, das die Nase des Barghest wieder zum Zucken brachte und puffte dahin zurück, wo auch immer er hergekommen war.

»Okay, erstens, was ist mit diesem Kerl los, und zweitens, können wir das auch, das mit dem… Verpuffen?«

Anyan lachte. »Nein, das ist wahre Urmagie, die Fähigkeit zu apparieren. Zwerge können es auch, aber nur in ihrem eigenen Territorium. Deshalb sind sie auch so stark; die starke Verbindung mit ihrem Land verschafft ihnen Zugang zur Urmagie. Aber keiner von uns anderen ist dazu in der Lage. Und was Terk betrifft, er… er mag dich, das ist alles. Er findet dich ziemlich süß für eine … haarlose Riesin.«

»Ich glaube es nicht, dass du mich gerade eine ›haarlose Riesin‹ genannt hast«, beschwerte ich mich und richtete mich auf die Ellenbogen auf. Ich wollte meine Beine von seinem Schoß ziehen, worauf er mich in die Wade zwickte.

»Ich habe dich ja nicht so genannt, sondern Terk. Für mich bist du nie ein Riese und nur haarlos, wenn ich ein Hund bin, aber das ist alles relativ.«

Ich sah Anyan stirnrunzelnd an. »Also denkst du so wie ein Hund, wenn du deine Hundeform angenommen hast? Oder bist du immer… du selbst?«

Er lächelte mich an und streckte mir dann die Hand entgegen, um mir aufzuhelfen.

»Immer ich selbst, Jane. Ich bin immer ich.«

Verlegen dachte ich an die vielen Male, als ich ihm seinen Hundebauch gekrault und die ein- oder zweimal, als ich mich an seinem Hundehals ausgeweint hatte. Sein stahlgrauer Blick traf mich, und ich warf verunsichert den Kopf zurück.

»Wo wir schon davon reden, warum verbringst du eigentlich überhaupt so viel Zeit als Hund? Jetzt hast du schon die ganze Zeit deine Menschenform, dabei dachte ich eigentlich, du würdest fast immer als Hund herumlaufen.«

Anyans Gesicht verfinsterte sich, und ich fürchtete schon, etwas Falsches gesagt zu haben. Ich wollte ihm gerade sagen, er solle es einfach vergessen, als er schließlich antwortete.

»So ist es einfacher, Jane«, sagte er hintergründig. Bevor ich ihn fragen konnte, was er damit meinte, stand er auf. »Wir sollten besser mal los. Wir müssen nachsehen, was in dieser Akte steht, und die anderen warten sicher schon. Ryu macht sich bestimmt bereits Sorgen um dich.«

Ich nickte, obwohl mir seine kryptische Antwort noch immer Rätsel aufgab. Er hatte Recht.

Ryu wartete sicher schon.

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Wo zum Teufel wart ihr?«, wollte Ryu wissen, sobald Anyan und ich eingetroffen waren.

»Beim Trainieren«, sagte ich. »Wir sind doch bloß ein paar Minuten zu spät…«

»Julian hat einen Hinweis auf ein Ferienhaus gefunden, für das Edie unter ihrem Mädchennamen als Besitzerin geführt wird, und als ich vorhin versucht habe, dich zu erreichen, bist du nicht ans Telefon gegangen. Ich musste Daoud und Caleb mit Phädras Leuten losschicken. Sie sind gerade weg, aber warum hast du dein Handy ausgemacht, verdammt nochmal?«

»Ryu, ich habe es nicht abgeschaltet«, sagte ich, während ich mein Handy aus der Gesäßtasche fischte und feststellen musste, dass es tatsächlich aus war.

»Wie zum Teufel…?«, murmelte ich. Auch Anyan zog nun sein Mobiltelefon heraus und fluchte.

»Verdammt, Terk!«, schimpfte er.

»Wer zur Hölle ist Terk?«, fragte Ryu, während ich mein Telefon wieder anschaltete.

Tatsächlich hatte ich einen Anruf auf der Mailbox genau zu der Zeit, als der Wichtel auf meinem Bauch gelandet war.

»Der Wichtel«, brummte Anyan und wedelte mit dem Ordner, während er mit der anderen Hand sein Telefon wieder anschaltete. »Er ist hiermit appariert.«

»Warum sollte er eure Telefone abstellen?«

Anyans Blick verriet sein Unbehagen. »Terk … mag Jane. Er findet sie süß.«

Für einen haarlosen Riesen, dachte ich noch immer leicht angesäuert.

»Warum stellt er dann eure beiden Handys ab?« Ryus Stimme wurde immer ungeduldiger.

»Vielleicht wollte er nicht unterbrochen werden, während er sich mit uns unterhielt«, antwortete Anyan, aber man sah ihm sein Unbehagen deutlich an. Da wurde es mir schlagartig klar.

Terk hatte Anyan und mir ein bisschen Zeit allein verschaffen wollen. Ich erinnerte mich an die unverständlichen Worte des Wichtels und Anyans Reaktion darauf. Anyan schien erschrocken über die Kuppelversuche des Wichtels gewesen zu sein, was mich irritierenderweise ärgerte.

»Aha«, war Ryus einzige Antwort. Er schien nicht gerade überzeugt.

»Leute«, meldete ich mich zu Wort, »vergessen wir nicht den Ordner.«

Anyan hatte die Unterlagen schon durchgeblättert, um sicherzugehen, dass nichts so Dringendes dabei war, dass man unmittelbar darauf reagieren musste, aber wir mussten Ryu den Inhalt noch zeigen.

Die beiden Männer nickten, und Anyan ging schnell alles noch einmal zusammen mit Ryu durch.

Im Wesentlichen berichtete Capitola darin von einem weiteren Todesfall, der mit unseren Ermittlungen in Verbindung gebracht werden konnte. Der Tote war ein Mann aus Chicago, aber er war in einem Hotelzimmer in New York umgebracht worden. Auch er war verbrannt, aber nicht so schlimm wie die anderen. Das Opfer hatte Leibwächter, die den Rauch gerochen und die Flammen hatten löschen können, bevor die Leiche völlig verkohlt war.

Nachdem das New York Police Department die Autopsie abgeschlossen hatte, war der Tote der Chicagoer Polizei übergeben worden, und dort hatte man die Leiche aufbewahrt, weil ihr Tod nicht als Unfall abgetan werden konnte. Also hatten Anyans Kontakte in der Grenzregion eine ihrer Heilerinnen in die Leichenhalle eingeschleust, die dann eine magische Autopsie vornahm. Die Kräfte, die die übernatürlichen Heiler dafür aufwenden konnten, einen Körper zu heilen, eigneten sich offenbar genauso für Untersuchungen aller Art. Die Heilerin fand schwere Traumata an der Leiche.

Das Opfer war brutal gefoltert worden.

Interessanterweise erfolgte der Übergriff auf den Mann unmittelbar bevor Conleth mich in Rockabill heimsuchte. Vermutlich sogar als Con sich noch in Boston aufhielt und sich seine Besessenheit für mich aufbaute, als er meine E-Mails las. Zugegeben, New York City war näher bei Boston als Chicago, aber trotzdem …

»Okay, ich habe eine Idee«, sagte ich. »Ich denke, Con entdeckte die Notiz etwa zu der Zeit, als er meine E-Mails las. Deshalb packte er alles in einen Stapel, denn das ist doch typisch – man verwendet das Kuvert seiner jüngsten Stromrechnung als Lesezeichen, so auf die Art eben. Nehmen wir einmal an, dieser Mann in New York ist aus einem ganz bestimmten Grund gefoltert worden. Was wäre am einleuchtendsten?«

»Mehr Namen«, sagte Anyan und nickte zustimmend. »Daran hatte ich auch schon gedacht.«

»Rein technisch können wir aber nicht ausschließen, dass Conleth den Mann getötet hat«, gab Ryu zu bedenken, und er hatte Recht. Bei seinen Fortbewegungsmöglichkeiten konnte es Conleth womöglich gelingen, in kürzester Zeit von New York nach Boston und von Boston nach Rockabill zu gelangen.

»Na ja, genaugenommen können wir Conleth vielleicht doch ausschließen«, warf Anyan ein. »Falls Conleth über ganz Boston hinweg bis nach New York oder Chicago geschossen ist, dann muss es Menschen geben, die das gesehen haben. Sie hätten zwar nicht gewusst, was sie da beobachten, aber sie hätten es in jedem Fall gemeldet.«

»Die berüchtigte undichte Gasleitung«, sagte ich zustimmend. »Oder ein Komet. Eine Sternschnuppe… irgendwas. «

»Das ist gut. Wir lassen Julian die Archive der Zeitungen und Nachrichtenagenturen durchgehen nach Berichten über unerklärliche … na, Feuererscheinungen eben.«

Ich lachte. »Das kann auch ich übernehmen, wenn wir zurück sind. Ich bin zwar nicht so gut wie Julian, aber ich kann googeln.«

»Capitola meint außerdem, dass sie gerade noch einen weiteren Hinweis verfolgen, also warten wir ab, was sie herausfinden. « Anyan zeigte mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Und in der Zwischenzeit sollten wir uns vielleicht mit den anderen kurzschließen, oder?«

Wir waren gerade aus der Wohnungstür, als Ryus Handy klingelte.

»Ja?«, meldete er sich, während er die Wohnung mit seinem Schlüssel und seiner Magie abschloss.

Während er dem Anrufer lauschte, verfinsterte sich sein Gesicht.

»Gute Arbeit. Wir treffen uns in zehn Minuten im Bunker. Danke.«

Ryu machte eine abwehrende Geste, und bevor wir irgendwelche Fragen stellen konnten, fing er auch schon an, eine Nummer in sein Handy zu tippen. Er wartete kurz, fluchte und wählte dann eine andere Nummer. Als sich auch da niemand meldete, fluchte er wieder. Sein Gesichtsausdruck war so angespannt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Sein nächster Anruf wurde sofort entgegengenommen.

»Julian, wo bist du? Ich brauche dich, fahr sofort zu der Adresse, die ich dir gleich texten werde. In Vermont. Falls dir Phädras Escalade unterwegs auffallen sollte, mach sie auf dich aufmerksam. Caleb und Daoud haben ihre Handys aus. Scheint heute im Trend zu sein«, fügte er mit einem scharfen Seitenblick zu mir hinzu. »Ja, wir versuchen gleich hinterherzukommen. Falls ihr vor uns bei der Adresse seid, wartet auf uns oder auf Phädra. Hast du mich verstanden? Ich will nicht, dass euch etwas passiert. Wartet auf Verstärkung!« Ryu klappte sein Handy zu und wandte sich wieder an Anyan und mich, die wir schon ungeduldig warteten.

»Das war Stefan. Silvers Leiche wurde gefunden. Sie haben ihn im Bunker. Daouds und Calebs Handys sind aus, also sind Camille und Julian jetzt auf dem Weg zu Edie. Ich finde es wirklich merkwürdig, dass die Telefone von vier meiner Leute außer Betrieb sind, wo sie sonst nie ihre Handys ausschalten. Bist du sicher, dass du diesem Terk trauen kannst und den Leuten, für die er arbeitet?«

Anyan schnaubte verächtlich. »Ich kenne Capitola schon mein ganzes Leben lang. Sie ist wie eine Nichte für mich. Also spar dir solche Anschuldigungen, wenn du überhaupt keine Ahnung hast, wovon du redest.«

Ich verspürte einen Anflug der Erleichterung, als ich Anyan sagen hörte, Capitola sei wie eine Nichte für ihn, aber gleichzeitig bestätigte es meine Vermutung darüber, was er in mir sah. Ich war vermutlich nichts als ein weiteres kleines Mädchen, für das er sich verantwortlich fühlte, und das würde ich auch immer bleiben.

Ich versuchte, mir meine Gefühle nicht anmerken zu lassen, während Anyan und Ryu stritten. Ryu beschuldigte Anyan, Geheimnisse vorzuenthalten; Anyan warf Ryu vor, er dramatisiere. Und ich fragte mich langsam, ob ich in ein schwarz-weiß-gestreiftes Hemd investieren sollte, wo ich schon so viel Zeit damit verbrachte, den Schiedsrichter zu spielen.

»Jungs«, unterbrach ich sie leicht genervt, »wir haben heute noch ein paar Sehenswürdigkeiten zu besichtigen.«

Die beiden sahen mich irritiert an, bevor sie begriffen, dass ich nur einen lahmen, kleinen Witz gerissen hatte. Aber sie hatten wenigstens den Anstand, ein wenig kleinlaut dreinzuschauen, bevor wir uns auf den Weg zu diesem mysteriösen Bunker machten.


Der kein richtiger Bunker war, nur ein großer Kellerraum, der von Stefans Leuten als Lager, Labor und Autopsiesaal benutzt wurde.

In dem Bereich, den sie für Obduktionen verwendeten, lag ein zugedeckter Körper auf dem Tisch. Eine große, magere Gestalt beugte sich darüber. Der Kobold trug einen OP-Kittel aus einem grünen Material, das den Gelbstich seiner Schuppen hervorhob.

Ryu räusperte sich, als wir den Laborbereich betraten.

»Ah, Ermittler!«, rief der Kobold und wandte sich zu uns um, nur um uns mit seiner Stirnlampe zu blenden.

Wir hielten uns alle schützend die Hände vor die Augen, während er noch am Halteriemen der Lampe herumnestelte.

»Tschuldigung… ich vergesse einfach immer dieses verdammte Ding… So, jetzt«, sagte er, als das grelle Licht schließlich erlosch, so dass wir in der plötzlichen Dunkelheit blinzeln mussten.

Als sich unsere Augen daran gewöhnt hatten, gingen wir auf den Körper am Obduktionstisch zu. Ryu legte mir beruhigend die Hand an die Taille.

»Wo hat man ihn gefunden?«, erkundigte sich Anyan.

»In einem ziemlich abgelegenen Winkel des Bundesstaats. Er wäre bestimmt monatelang nicht gefunden worden, wenn dort nicht letztes Wochenende eine Geländeübung der US-Sondereinheiten stattgefunden hätte. Die Leiche wurde entdeckt, als sie Dummy-Leichen rund um ein gestelltes Terrorcamp platzierten.« Der Kobold spähte auf uns herunter, und ich hielt meine Augen starr auf sein Gesicht gerichtet, damit ich die Spritzer von Körperflüssigkeiten, mit denen seine Schuppen übersät waren, nicht sehen musste. »Ein Truppenmitglied ist ein Nahual und einer von Stefans Bettgenossen. Er erkannte Silver, weil er ihn dort drüben kleben gesehen hat…« Der Kobold zeigte zu einer Art Zeitleiste, an die Fotos gepinnt waren, ähnlich wie die, die wir in Ryus Büro angelegt hatten und die alle von Conleths bekannten und vermuteten Opfern in chronologischer Reihenfolge ihres Todes oder ihres Verschwindens zeigte. »Er schaffte die Leiche zur Seite, noch bevor die menschliche Polizei vor Ort war, und brachte sie direkt zu uns.«

»Und Sie sind sicher, dass es sich um Silver handelt?«, fragte Ryu.

»Oh, ja«, erwiderte der Kobold und führte uns näher an die zugedeckte Gestalt heran. »Es handelt sich definitiv um Ihren Mann«, sagte er und zog das Tuch von Silvers Gesicht.

Mir stockte der Atem, und mein Magen hob sich, als ich den toten Mann erblickte. Ryus Arme legten sich fester um meine Taille, und ich vergrub mein Gesicht an seinem Arm.

Es war nicht das erste Mal, dass ich mit dem Tod konfrontiert wurde, aber nicht mit dieser Art von Tod. Einem Tod, der von jemandem inszeniert worden war, der sein Opfer leiden sehen und es schreien hören wollte.

Silvers Gesicht war völlig zerstört. Ein Auge fehlte ganz, und das andere war zugeschwollen in einem von Hämatomen und Brandwunden deformierten Gesicht.

Denn, ja, es gab Anzeichen von Feuereinwirkung an Silvers Leiche. Aber nicht Conleths völlig verzehrendes, von unkontrollierter Wut geleitetes Feuer. Dies hier war durchdacht, gezielt eingesetzt, um das Höchstmaß an Schmerz hervorzurufen.

Anyan reichte dem Kobold den Ordner, den Capitola für ihn zusammengestellt hatte.

»Es ist auch ein Obduktionsbericht enthalten. Ein Mord, der womöglich mit diesem hier in Verbindung steht. Sehen Sie irgendwelche Übereinstimmungen?«

Der Koboldobduzent studierte den Bericht und nickte hin und wieder mit dem Kopf.

»Ja, die beiden Opfer weisen Anzeichen beinahe übereinstimmender Blessuren auf, innere Verletzungen miteingeschlossen. Manche davon sexueller Natur…«, fügte der Kobold hinzu und mied meinen Blick.

»Meine Güte«, murmelte ich, und meine Augen füllten sich mit Tränen um den alten Mann, der es, obwohl er Conleth gefangen gehalten hatte, nicht verdient hatte, auf diese Weise zu sterben.

Ryu drückte mir einen Kuss auf den Scheitel, während Anyan zu der Leiche auf dem Tisch trat und das zerstörte Gesicht wieder bedeckte.

»Danke«, sagte Ryu zu dem Kobold und drehte mich zum Ausgang. »Lassen Sie uns wissen, wenn Sie noch mehr herausfinden.«

»Warten Sie, Ermittler, das Beste habe ich Ihnen noch gar nicht gezeigt. Kommen Sie, kommen Sie«, sagte der Kobold, platzierte sich auf Höhe von Silvers Füßen und winkte uns an den Obduktionstisch zurück.

Ich klammerte mich an Ryus Hand, als wir uns wieder um den Tisch herum versammelten. Ich war mir nicht sicher, ob ich sehen wollte, was der Kobold als »das Beste« bezeichnete. Aber ich hatte nun mal darauf bestanden, an der Ermittlung teilzunehmen, und ich hatte nicht vor, zu kneifen, sobald es unangenehm wurde. Also befahl ich meinem Magen, nicht zu revoltieren, und starrte vor mich auf die weiße Abdeckung, die der Kobold zur Seite schob, um etwas zu enthüllen, das mir die Kehle zuschnürte. Ich spürte, wie Ryus Hand sich verkrampfte, und hörte ihn fluchen. Ich sah kurz zu Anyan auf, der auch hinunter auf die Beine starrte, bevor mein Blick zu dem Kobold wanderte.

»Das sieht aus wie…«, sagte Anyan zögerlich.

»Krallenspuren«, beendete der Kobold den Satz für ihn. »So wurde Silver an den Fundort gebracht. An den Beinen in den Krallen von irgendetwas. Etwas wie…«

»Etwas wie eine Harpyie«, fiel ihm Anyan ins Wort.

Ich ließ Anyans Worte wirken und sah, dass Ryu dieselben Schlussfolgerungen zog.

Plötzlich fauchte er und raufte sich das Haar. »Selbst wenn es Kaya oder Kaori waren«, sagte er dann, »bedeutet das noch immer nicht, dass sie sich gegen uns gerichtet haben.«

Anyan nickte. »Stimmt. Sie könnten Silver gefoltert haben, um mehr Informationen aus ihm herauszubekommen. Vielleicht dachten sie, er enthält ihnen etwas Wichtiges vor. Weder sie noch Phädra würden sich scheuen, einem Menschen zu schaden.«

»Aber wo sind unsere restlichen Leute denn jetzt überhaupt? «, fragte ich. Beide Männer sahen mich grimmig an. Ryu ließ meine Hand los und rief nach Stefan, damit dieser umgehend versuchte, Julian an die Strippe zu bekommen.

Nachdem er Camille und Julian schließlich eine Reihe von Befehlen durchgegeben hatte, machten wir uns auf die Suche nach Phädra.

Wir mussten sie finden. Und zwar schnell.

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Als wir schießlich an Edies Ferienhaus, das sich etwa zweieinhalb Stunden entfernt in Brattleboro, Vermont, befand, ankamen, lag der Ort gespenstisch still da.

Wir parkten an der Ecke am Ende der langen Zufahrtsstraße. Wir waren mit Calebs Geländewagen unterwegs, weil dieser ja mit Phädra zusammen war, und Camille und Julian Ryus BMW genommen hatten. Den ganzen Weg bis nach Vermont saß ich auf dem Rücksitz, starrte zu den Rissen in der Deckenpolsterung, die Calebs Hörner hinterlassen hatten, und betete, dass die anderen in Sicherheit waren.

Als wir aus dem Auto stiegen, kamen uns Camille und Julian schon entgegen.

»Wir sind vor circa zwanzig Minuten angekommen«, teilte Camille uns mit, ihre ansonsten ruhige Stimme angespannt. »Keine Spur von Phädra, weder hier noch auf der Strecke. Wir haben das Haus schon mal von außen ausgekundschaftet. Es scheint leer zu sein. Aber die Tür ist aufgebrochen worden.«

»Verdammt, ich hatte euch doch gesagt, dass ihr beide nichts unternehmen sollt!«, schimpfte Ryu gereizt aus Sorge um seine Mitarbeiter.

»Ich weiß, und wir sind ja auch nicht hineingegangen«, sagte Julian, woraufhin ihm seine Mutter beschwichtigend die Hand auf die Schulter legte.

»Also gut, wir schwärmen jetzt erst mal aus. Camille, Julian, ihr kommt mit mir. Jane…«, Ryu verstummte, während er sich eine Aufgabe für mich überlegte. Vermutlich etwas, bei dem ich aus der Schusslinie war.

»Jane kommt mit mir«, sagte Anyan. »Wir übernehmen das Grundstück, ihr das Haus.«

Ryu musterte Anyan eindringlich. »Pass auf sie auf, Anyan Barghest«, befahl er ihm dann, bevor Energie um ihn herum aufflackerte, die sich mit den Schilden von Camille und Julian verband. Sie pirschten sich ans Haus heran, dessen Eingangstür tatsächlich schief in den Angeln hing. Ich betete, dass Edie und Felicia nicht tot hinter dieser kaputten Tür lagen.

»Schilde hoch, Jane. Denk dran, was wir gestern geübt haben«, sagte Anyan, und seine tiefe Stimme wirkte so beruhigend auf mich wie die Hand, die er mir auf die Schulter legte. Ich tat, was er mir sagte, und fühlte mich paradoxerweise sicher hier draußen mit ihm, obwohl ich wusste, dass die Kacke jeden Augenblick zu dampfen anfangen konnte.

Während die anderen das Haus betraten, gingen Anyan und ich zu der Garage hinüber, die sich rechts davon befand. Ich spürte, wie sich seine Kraft um uns legte wie ein schützender Umhang, während er das Garagentor mit Hilfe seiner Schildenergie öffnete. Der Barghest war sehr gut darin, seine Kräfte physikalisch zu manifestieren; er konnte sie fast wie ein zweites Paar Hände benutzen.

Wir fluchten beide, als das Tor schließlich offen war und in der Garage tatsächlich ein Auto stand, mit einem Kennzeichen aus Massachusetts und einem Parkausweis für Cambridge.

Nachdem wir uns in der ansonsten leeren Garage umgesehen hatten, begaben wir uns zur Rückseite des Hauses.

Ich konnte Ryu und die anderen durch verschiedene Fenster sehen. Niemand griff sie an, und sie schienen auch nichts Besonderes entdeckt zu haben. Es gab weder Rufe oder Schreie noch Tumult, es herrschte Stille, während sie sich von Fenster zu Fenster bewegten.

Anyan und ich schlichen durch den hinteren Garten. Er schnupperte, und seine große Nase zuckte.

»Scheint alles sauber zu sein«, grummelte er, während wir an der Linie entlanggingen, wo der gemähte Rasen in hohes Gras überging, von dem das restliche Grundstück überwuchert wurde.

Ich nickte zustimmend und spähte zu den Bäumen hinüber, die in einiger Entfernung im Dickicht aufragten. Ich hätte schwören können, dass ich etwas gesehen hatte …

»Da!«, zischte ich und zeigte darauf. »Anyan, da ist das Gras niedergetrampelt.«

Dort war tatsächlich ein Trampelpfad, der durchs Gestrüpp verlief. Er schien sich zwischen den Bäumen hindurchzuschlängeln.

Der Barghest ging voran. Er benutzte sowohl magische Sonden als auch seine magische Witterung, um den Weg entlang des schmalen Pfads für uns auszukundschaften.

»Wasser«, murmelte er, er hatte bereits etwas wahrgenommen, was ich noch nicht sehen konnte. Für mich ergab es erst einen Sinn, als wir um eine Ecke bogen und vor uns plötzlich eine gemähte Lichtung lag, auf der sich ein kleiner Teich befand. Es war ganz offenbar ein Schwimmteich, denn er hatte einen kleinen hölzernen Steg, auf dem Poolnudeln und Schwimmflügel verstreut lagen. Es war ein hübsches Plätzchen, und es wurde glücklicherweise auch nicht durch die Leichen der beiden Frauen verschandelt.

Allerdings war weit und breit auch keine Spur von unseren Freunden zu sehen.

Wir seufzten, und ich ging zu dem Steg hinüber. Mir wurde immer bewusster, dass ich wirklich überhaupt nicht mutig war. Ich war das Mädchen, das im Kino immer ganz hinten saß, sich die Augen zuhielt und die Horrorfilmheldin beschwor: Nicht die Tür aufmachen! Mach bloß nicht die Tür auf! Warum würdest du so etwas Dummes tun. Ohmeingott, jetzt macht sie die Tür auf…

Und hier war ich nun und schlich mich vorsichtig auf den Holzsteg und wartete nur darauf, dass mich jeden Augenblick etwas aus dem Wasser ansprang, und dachte dabei die ganze Zeit: Warum gehe ich nur auf diesen Steg? Warum mache ich so etwas Dummes? Wer würde schon auf den Steg laufen?!

Aber es passierte nichts; ich war sicher. Natürlich nicht zuletzt, weil Anyan mich die ganze Zeit über im Auge behielt und mit zuckender Nase seine Kräfte in meinen Schild leitete.

Vermutlich konnte er meine Angst riechen. So viel zu meinem meisterlichen Auftritt als Actionheldin.

Schließlich hatte ich mich bis ans Ende des Stegs vorgepirscht und lugte vorsichtig über die Kante ins Wasser. Auch da war nichts: keine Leichen, kein Conleth, kein gar nichts. Nur ein auf Abwege geratener, halb aufgeblasener Schwimmflügel.

»Gut machst du das, Jane«, brummte Anyan plötzlich direkt hinter mir und ließ mich vor Schreck zusammenzucken. Ich fasste mir mit der Hand an mein wild pochendes Herz, dann drehte ich mich um und sah, dass er angestrengt ein Lachen unterdrückte.

»Mach so was nicht!«, zischte ich ihn an. »Ich hätte beinahe eine Herzattacke bekommen!«

Der Barghest konnte nicht länger an sich halten und gluckste los. »Tut mir leid, ich kann nichts dagegen tun. Bin es einfach gewohnt, leise zu gehen.«

»Okay, Mister Oberschleicher, wir pirschen uns nicht an Jane ran. Sonst macht sich Jane noch vor Schreck in die Hosen.«

»Warum redest du denn in der dritten Person von dir? Das ist ja komisch.«

»Selber komisch.«

Wir hielten inne, und dann grinsten wir uns an, amüsiert über unseren kleinen Wortwechsel. Ich mochte es, wie sich kleine Fältchen um seine Augen bildeten, wenn er lachte.

»Der Trampelpfad geht noch weiter«, sagte Anyan und riss mich damit aus meinen Tagträumen.

»Hm?«

»Da geht der Trampelpfad weiter«, wiederholte er und machte eine Kopfbewegung zum anderen Ufer des kleinen Teichs.

»Mist«, sagte ich, während ich mir einen Weg zurück auf festen Boden bahnte. Doch bevor ich dort anlangte, hielt Anyan mich am Arm fest.

»Jane, ich wollte dir nur sagen, dass ich es ernst meine. Du machst das wirklich toll. Ich weiß, dass du Angst hast, aber du kämpfst dagegen an. Mehr könnte keiner von uns tun.«

Ich lief rot an und zog den Kopf ein. »Danke, Anyan«, erwiderte ich, als wir um den Teich herumgingen. Aber ich hatte wenig Zeit, mich in seiner Gunst zu sonnen, denn sobald wir uns dem anderen Ufer näherten, wurde der Barghest nervös.

»Hinter mich, Jane«, raunte er. Sein Schild, der mich schon vorher umhüllt hatte, wurde, als wir den Pfad weiter verfolgten, zu einer fast physisch spürbaren Last auf meinen Schultern. Wir kamen zu einer weiteren kleinen Spur, die von unserem Pfad abzweigte. Anyan drehte sich zur Seite und spähte in die Richtung, in die sie führte, seine Nase zuckte wie wild. Schließlich ging er weiter, und ich folgte ihm praktisch auf den Fersen, wobei ich mich darauf konzentrierte, auch meine eigenen Schutzmechanismen aufrechtzuhalten, um seine zu ergänzen. Als er plötzlich abrupt stehen blieb, war ich so nah hinter ihm, dass ich mit einem »Uff« gegen ihn prallte. Er griff hinter sich und hielt mich fest. Meine Nase drückte gegen seine Lederjacke, meine Brüste gegen seinen Rücken. Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass ein ziemlich knackiger Hintern in dieser abgewetzten Jeans steckte. Netter Knackarsch, dachte ich und verspürte den starken – und völlig unangebrachten – Drang, ihm einen Klaps zu versetzen. Dann fiel mir wieder ein, dass ich vor Monaten in dasselbe Hinterteil gebissen hatte, und meine Wangen liefen rot an.

Wir gingen weiter, wobei Anyans Hand noch immer an meiner Taille war und mich weiter an ihn drückte. Meine Wangen fingen an, noch heißer zu glühen, und ich konnte nicht glauben, dass ich unter den gegebenen Umständen so reagierte. Ich wusste nicht, was Anyan gewittert hatte, was los war, aber es war sicher nichts Gutes. Und doch konnte ich an nichts anderes denken als an das Gefühl von Anyans Körper an meinem.

»Was ist los?«, flüsterte ich und versuchte, meine Energie wieder zu fokussieren, wie er es mir beigebracht hatte.

»Blut«, flüsterte er zurück, und meine Libido verpuffte genauso schnell wie sie erwacht war.

»Scheiße«, bemerkte ich. »Das auch«, murmelte er, abgelenkt von allen Gerüchen, die der Wind ihm zutrug.

Wir blieben wieder stehen. Ich lugte hinter seinem breiten Rücken hervor und sah, dass wir vor einem kleinen Häuschen standen. Es sah aus wie ein zu groß geratenes Kinderspielhaus oder ein kleines Künstleratelier. Oder der Rückzugsort eines Schriftstellers, kam es mir in den Sinn, und mein Herz rutschte mir bis in die Stiefel.

»Bleib hier, Jane«, murmelte Anyan, aber ich blieb ihm dennoch dicht auf den Fersen. Was auch immer uns darin erwartete, ich würde ihn nicht allein lassen.

Die Tür des kleinen Ateliers war abgeschlossen, aber Anyan gab sich nicht lange mit Zaubertricks ab. Er hob einfach seinen Fuß, der in einem großen Stiefel steckte, und trat die Tür ein. Sie flog mit Schwung auf und krachte gegen die Wand.

Zwei Leichen lagen ausgestreckt in ihrem Blut, das noch ganz frisch aussah. Anyan fluchte und versuchte mich hinter sich zu schieben, bevor ich zu viel sehen konnte. Aber es war zu spät. Ich schrie auf: ein kurzer, spitzer Ausbruch, der meine ganze Lungenkapazität in Anspruch nahm. Ich schlug mir die Hand vor den Mund, eine Sekunde, bevor Anyan ihn mir zuhielt.

Er drehte mich herum und zog mich an sich, um mich vom Anblick von Edies und Felicias toten Körpern abzuschirmen. Denn sie waren definitiv tot. Und den Mengen von Blut am Boden, an den Wänden und der Decke und dem entsetzten Ausdruck auf ihren zerstörten Gesichtern zufolge, waren sie keinen leichten Tod gestorben.

»Sch«, machte er, aber nicht, um mich zu beruhigen. Es war ein scharfes Zischen, das bedeutete, ich solle ruhig sein.

Er zog mich durch die Tür hinaus auf die Veranda des kleinen Häuschens. Vor Energie pulsierend, hielten mich seine Schilde hinter seinem Rücken, während er witterte und dann die Hand hob, in der er plötzlich eine wirbelnde, grüne Magiekugel hielt.

Er fuhr herum, gerade in dem Moment, als Fugwat aus der Deckung hinter den Bäumen zu unserer Linken hervorbrach und auf uns zurannte. Da wir uns noch nicht über seine Absichten im Klaren waren, warteten wir ab, bis er aus vollem Lauf eine Magiekugel direkt auf uns schleuderte. Für ein so unförmiges Wesen war der Spriggan überraschend schnell, aber mit Anyans Treffsicherheit und Kraft konnte er trotzdem nicht mithalten. Der Barghest jagte Fugwat eine vernichtende Energiewelle direkt vor die Brust, und obwohl der Aufprall weitgehend von seinen Schilden absorbiert wurde, war sie noch immer stark genug, den Spriggan zu Boden zu schleudern.

Plötzlich ertönte ein Schrei zu unserer Rechten, und Graeme stürmte auf uns zu, sein schönes Gesicht wutverzerrt. Anyan hielt den sich sträubenden Spriggan noch immer mit seinen Kräften in Schach, und ich wusste, dass der Barghest mir nur zu Hilfe kommen konnte, wenn er Fugwat losließ. Also konzentrierte ich mich und wandte all meine Kräfte dafür auf, meinen Schild nicht nur zur Magiebarriere, sondern zu einer regelrechten Wand zu machen.

Und mit einem dumpfen Schlag prallte der Elb von meinem Schild ab, als sei er ein riesiger Gummiball. Er landete in unwürdiger Pose auf dem Rücken und funkelte mich giftig an. Doch bevor er aufstehen konnte, kam Ryu uns zu Hilfe, der meinen Schrei gehört haben musste. Graeme krabbelte rückwärts wie eine Krabbe zu seinem Kumpan hinüber, als die drei Baobhan Siths mit gefährlich knisternden Magiekugeln in den erhobenen Händen herbeieilten. Graeme wusste, dass er geschlagen war und sackte in sich zusammen.

Anyan konzentrierte seine Kräfte noch immer darauf, den Spriggan in Schach zu halten, also umspannte ich uns beide mit meinem Schutzschild. Er lächelte mich an und überließ es mir, uns zu schützen, während er weiter den kleinen Riesen zu Boden drückte.

Ein Teil von mir dachte, er sei verrückt, aber der andere freute sich über das Vertrauen, das er zu mir hatte.

Ryu ging zu dem Häuschen und steckte den Kopf hinein. Seine Hand ballte sich zu einer Faust, und als er sich wieder zu den Tätern umdrehte, konnte man ihm ansehen, dass er seine Wut nur mit Mühe unterdrückte.

»Was habt ihr getan, verdammt?«, fragte er die beiden Gefangenen mit vor Wut eiskalter Stimme.

Die beiden Männer starrten ihn rebellisch an und schwiegen.

»Für wen arbeitet ihr? Phädra? Jarl? Oder auf eigene Rechnung?«

Weder Graeme noch Fugwat antworteten. Ryu nickte Anyan zu, und ich spürte, wie sich der Schild des Barghest immer enger um Fugwat legte. Der Spriggan hielt eine Weile stand, dann ächzte er. Doch bevor er klein beigab, mischte Graeme sich ein.

»Foltert uns, so viel ihr wollt. Ihr bekommt doch nichts aus uns heraus. Wir dienen einer Sache, die wichtiger ist als unser Leben.«

In der Stimme des Elben schwang eine eiserne Entschlossenheit mit, die auf Fugwat abzufärben schien. Der Spriggan presste sein fleischiges Gesicht in die Erde, als wolle er sich selbst ersticken.

»Also gut«, sagte Ryu mit einem Seitenblick auf mich. Ich fragte mich, was er getan hätte, wenn ich nicht dabei gewesen wäre. »Vielleicht können Orin und Morrigan ja eure Zungen lösen.«

Ryus Rücken straffte sich, und seine Stimme bekam einen forschen, autoritären Klang. »Graeme Elb und Fugwat Spriggan«, sagte er. »Hiermit beschuldige ich euch, die Geheimhaltung unserer Art gefährdet und gegen unseren Kodex zur Regelung des Verhältnisses zwischen Menschen und Alfar verstoßen zu haben. Ich entziehe euch mit sofortiger Wirkung alle Rechte, inklusive das Recht auf einen fairen Kampf. Mit diesen Worten stelle ich euch der Gnade unseres Königs und unserer Königin anheim. Ihr Urteil soll…«

»Nicht so hastig, Ermittler…«, erschallte eine Stimme über unseren Köpfen.

Phädra.

Eine Harpyie setzte die Alfar auf dem Dach des Atelierhäuschens ab. Sie blickte mit völlig gelassenem Gesicht auf uns herab, während Kaya, oder Kaori, wieder davonflatterte. Sie legte wohl großen Wert darauf, uns zu zeigen, dass eine Alfar keine Verstärkung nötig hatte.

»Wir haben deine Leute, Phädra. Und wir wissen, was sie getan haben«, rief Ryu. Er war dabei, die Kontrolle über sich zu verlieren.

»Du hast nichts gegen sie in der Hand«, erwiderte die winzige Frau, »abgesehen von ein paar toten Menschen und ein paar blutleeren Theorien. Außerdem scheinst du vergessen zu haben, dass ich auch deine Leute habe.« Hinter uns tauchten die beiden Harpyien auf und setzten unsere Freunde auf der Lichtung ab. Caleb und Daoud sahen böse zugerichtet aus und waren verletzt, aber sie lebten.

»Du behinderst offizielle Ermittlungen des Hofes, Phädra, und deine Günstlinge haben Verbrechen begangen, die zu ihrer Hinrichtung führen werden«, knurrte Anyan, ohne den Spriggan loszulassen.

»Ich behindere Ermittlungen? Wie denn? Und meine Leute haben keine Verbrechen begangen«, säuselte Phädra. »Ihr habt sie ohne jeden Grund angegriffen. Sie haben lediglich den Tod dieser beiden armen Frauen untersucht, genau wie ihr…«

Ich sah zu Graeme und Fugwat hinüber, die über und über mit Blut besudelt waren, das jedoch nicht ihr eigenes war. Meinte sie das ernst? Die beiden mussten die Frauen getötet haben. Sie mussten einfach …

»Du lügst, Alfar!«, brüllte Ryu, und die ihn umgebenden Schilde färbten sich gespenstisch blau. Mein Freund hatte ein paar echt verrückte Sachen drauf.

»Genug«, fauchte Phädra, als wir ein Keuchen hinter uns hörten. Die Harpyien hielten Daoud und Caleb ihre messerscharfen Hakenkrallen an die Kehle, und die Harpyie, die Daoud in ihren Klauen hatte, hatte ihre Krallen schon tief in den Hals des Dschinns gebohrt.

»Das nennt man wohl eine klassische Pattsituation. Wir haben eure Männer, ihr habt unsere. Ihr glaubt an eine Version der Geschichte… aber ich denke, der Hof wird eine andere glauben. Also schlage ich euch ein Geschäft vor. Das Leben eurer Männer gegen einen Wettlauf. Wer schneller im Verbund ist, kann dort seine Version der Geschichte erzählen. Und dann lassen wir unseren König und unsere Königin entscheiden, was weiter geschehen soll.« Phädras Lächeln war eiskalt, berechnend und siegessicher. Sie wusste, auf welche Seite Jarl sich schlagen würde und dass Orin und Morrigan sich seiner Einschätzung anschließen würden, zumindest offiziell.

»Niemals«, knurrte Ryu, aber sein Protest wurde von Daouds Röcheln erstickt, dem die Harpyie weiter die Kehle aufschlitzte. Ich hatte gesehen, wie Wally, einem Onkel von Daoud, der abgeschlagene Arm wieder nachgewachsen war, und Daoud machte es ähnlich mit seinem zerschnittenen Fleisch. Aber jedes Mal, wenn er sich gerade regeneriert hatte, riss die Harpyie die Wunde wieder auf. Überall war Blut, und Daouds Gesicht war bereits ungesund bleich, während die Harpyie ihm wieder und wieder die Kehle aufschlitzte.

»Du hast die Wahl, Ermittler. Irgendwann wird dein Mann verbluten, und nicht einmal ein Dschinn kann sich wieder regenerieren, wenn er erst einmal tot ist. Also, kommen wir ins Geschäft?«

Ryus Schultern waren vor Wut so angespannt, dass er zitterte. Er blickte zu Anyan hinüber, der nach kurzem Zögern nickte.

»Gut«, bellte Ryu schrill vor Feindseligkeit. »Lass meine Männer gehen. Und wir sehen uns am Hof…«

Bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, schlitzte Kaya (oder Kaori) Daoud noch einmal den Hals auf. Zu unserem Entsetzen tat ihre Schwester Kaori (oder Kaya) dasselbe mit Caleb. Der Satyr fasste sich an die Kehle, hielt so die Wunde zu und begann, sich selbst zu heilen, doch der Dschinn sackte zu Boden wie ein Stein.

Mit einem Schrei stürzte Anyan zu Caleb und ließ dabei den Spriggan los. Fugwat, sein brutales Gesicht wutverzerrt, sah aus, als wolle er ihm folgen. Also fuhr ich hinter dem Rücken des Barghest einen weiteren meiner elastischen Schilde hoch und spürte, wie meine Kraft von der ungewohnten Anstrengung aufgezehrt wurde. Aber mein Schild hielt stand, und der Spriggan prallte davon ab, wurde von dem Elben gepackt und zu den Harpyien geschleppt. Phädras Gefolge machte sich aus dem Staub und ließ uns mit den Verwundeten zurück, die es zu versorgen galt.

Anyan war schon dabei, Caleb zu heilen, während Ryu sich um Daoud kümmerte. Wir anderen versuchten uns zu beruhigen. Wenn Camille, Julian oder ich der Alfar gefolgt wären, würde sie Kleinholz aus uns machen. Also sahen wir zu, wie Anyan Caleb zu Ende heilte und die beiden sich dann sofort zusammen um Daoud kümmerten. Wir wiederum ließen unsere Kraft in den Satyr strömen, damit sein erschöpfter Körper weiter heilende Energie in die klaffenden Wunden am Hals seines Freundes leiten konnte.

Nach einer gewissen Zeit, die sich anfühlte wie ein paar Stunden, genauso gut aber bloß zwanzig Minuten gewesen sein konnten, blickte Caleb auf.

»Er wird es schaffen. Aber er braucht so schnell wie möglich eine Bluttransfusion.«

Der Satyr erhob sich leicht schwankend, bevor Julian zu ihm lief und den großen Kerl mit Elementarkräften versorgte, bis er wieder in der Lage war, sich die Energie selbst aus der Erde zu ziehen.

Anyan half Daoud auf, stützte ihn mit dem Arm, während Ryu Befehle erteilte.

»Julian, schließ Edies Auto kurz und fahr Daoud und Caleb zum nächsten Heiler hier in der Gegend. Camille, du und Anyan, ihr nehmt den Geländewagen. Jane, zu mir. Phädra kann noch nicht allzu weit gekommen sein…«

Ich hatte noch nie eine Verfolgungsjagd erlebt, aber ich hechelte neben den anderen her, als wir zurück zu unseren Wagen rannten, und schnallte mich so schnell wie möglich an, nachdem Ryu mich praktisch in sein Auto geworfen hatte.

Dann rasten wir los, heizten die staubige Straße entlang, weg von dem Ort, wo Edie und Felicia in ihrem eigenen Blut lagen. Bei dem Gedanken kniff ich die Augen zusammen. Ich wusste, dass ich mich irgendwann mit dem Tod der beiden Frauen auseinandersetzen musste, aber all die Trauer und die Schuldgefühle darüber mussten jetzt warten.

Ich holte tief Luft, während Ryu Anyan durchs Telefon anbrüllte. Die beiden versuchten, sich auf die beste Vorgehensweise zu einigen. Anyan meinte, wir sollten uns an Phädras Fersen heften. Ryu war der Meinung, wir sollten ihr auf jeden Fall bei Hofe zuvorkommen. Und selbst wenn der eine ein Vampir war und der andere ein Gestaltwandler, sie waren beide Männer. Also beharrte jeder von ihnen darauf, dass er Recht hatte, und natürlich konnte keiner von beiden kurz anhalten, um nach dem Weg zu fragen.

Witzig, bei Verfolgungsjagden im Film scheinen alle immer genau zu wissen, wo sie hinmüssen. Nie landet jemand in einer Sackgasse oder stößt mit einem Zug zusammen oder …

Ich hing meinen absurden Gedanken nach, als plötzlich wie aufs Stichwort der Angriff erfolgte.

Gerade noch hatte Ryu sich gestritten und ich über die Irrealität von Actionfilmen nachgedacht, und im nächsten Moment waren plötzlich überall Flammen, und das Auto wirbelte herum wie ein Kreisel. Ryu fluchte und versuchte die Kontrolle über den BMW zurückzuerlangen, als eine weitere Druckwelle aus Hitze und Energie uns erfasste. Plötzlich stand alles auf dem Kopf, bis mir klarwurde, dass es unser Auto war, das auf dem Kopf stand. Der Wagen überschlug sich einmal, zweimal und landete dann mit der Fahrerseite auf der Straße. Ich sah alles nur noch verschwommen, nicht zuletzt wegen des Blutes, das mir aus einem Schnitt an meiner Stirn in die Augen lief. Ich schüttelte meinen benebelten Kopf, um ihn freizubekommen und rief Ryus Namen.

Er lag reglos in den Scherben des zerbrochenen Fensters. Sein ganzer Körper hing verdreht im Gurt, und seine Augen waren geschlossen. Ich versuchte nach ihm zu greifen, aber meine Arme hatten sich im erschlafften Airbag verheddert.

Endlich schaffte ich es, mich loszumachen, und berührte ihn an der Schulter, just in dem Augenblick, als er die Augen aufschlug. Erleichterung machte sich in mir breit, aber sie währte nicht lang. Der Blick meines Freundes war noch getrübt, als er plötzlich die Augen aufriss und meinen Namen rief. Da hörte ich ein lautes Geräusch hinter mir. Eine Hand packte mich an der Schulter, und ich verspürte einen stechenden Schmerz im Nacken. Mein Mund erschlaffte, und meine Glieder wurden taub. Ich spürte, wie ich hochgezogen wurde, direkt in die Arme unseres Angreifers.

Conleths irre blaue Augen starrten mich an. Mein Blick verschwamm wieder, meine Muskeln erschlafften, so dass ich an seine Brust sank. Mit der einen Hand streichelte er meine Wange, während er mich mit der anderen an sich drückte. Dann wurde alles um mich herum dunkel. Ich hörte nur noch, dass er meinen Namen immer und immer wieder murmelte wie ein Mantra, während mich die Dunkelheit verschluckte.

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Der Nebel, der mein Hirn umwölkte, verzog sich nur langsam und hinterließ stattdessen einen dumpfen Schmerz. Ich versuchte den Kopf zu heben, aber er reagierte nicht. Ich versuchte es erneut, diesmal mit mehr Kraft, und mein Kopf fiel nach hinten wie ein Ei an einem Faden.

Ich wusste zwei Dinge. Erstens, ich hatte eine Scheißangst. Ich hatte Angst, dass Con Ryu getötet hatte, Angst, weil ich mich in Cons Klauen befand und noch mehr Angst, weil ich genau wusste, was er von mir wollte. Es hatte damit zu tun, Superbabys zu zeugen. Und es hatte nichts mit Klamotten zu tun. Die ich momentan, abgesehen von meiner Jacke, da war ich mir ziemlich sicher, den Göttern sei Dank, noch anhatte, denn während ich bewusstlos war, konnte er ja alles Mögliche mit mir angestellt haben.

Glaub bloß nicht, dass du merken würdest, falls er dich vergewaltigt hat, schließlich kannst du nicht mal deine Beine spüren, war der wenig hilfreiche Kommentar meines Gehirns, das ich umgehend verfluchte, weil es zu allem Überfluss mich jetzt auch noch verrückt machen musste, weil ich meine Beine nicht mehr spüren konnte.

Aber abgesehen von der Vielzahl an schrecklichen Ängsten wusste ich auch eine gute Sache. Ich befand mich in der Nähe von Wasser. Und nicht nur irgendeines Wassers, nein, es war der Ozean … mein Ozean. Ich spürte, wie der Atlantik mich lockte. Er schäumte, wütend über meine Notlage, forderte mich zurück. Entweder das, oder eine Sturmfront zog auf.

Ich hielt die Augen geschlossen, täuschte weiter Bewusstlosigkeit vor und versuchte mein Bestes, etwas zu hören, das mir verriet, wo Con sich gerade befand oder wo ich war. Langsam schliefen mir Arme und Beine ein, ein Gefühl von tausend winzigen Nadelstichen, das wirklich wehtat, mir aber auch die Information lieferte, dass ich anscheinend saß, und dass ich an den Händen – aber nicht an den Füßen – gefesselt war.

Ein Hoch auf den Barghest, dachte ich.

Ich konnte nichts hören, also machte ich die Lider einen Spaltweit auf. Niemand stand über mir, und ich hatte endlich wieder die Kontrolle über meinen Hals, also hob ich vorsichtig den Kopf.

»Da bist du ja, Jane«, gurrte Conleth zärtlich irgendwo zu meiner Linken.

Scheiße, dachte ich und erschauderte beim Klang seiner Stimme.

Der Ifrit-Halbling saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden. Sein Feuer schien völlig erloschen, und er sah aus wie jeder x-beliebige große, dünne Mittelklassetyp auf der Straße. Einen Moment lang wusste ich nicht, was er gerade machte. Dann bemerkte ich, dass sein Finger in einer Steckdose steckte. Ich verspürte einen starken Sog, der von ihm ausging, als ob seine Kräfte nach etwas riefen, und plötzlich sah ich Elektrizität seinen Arm hochfließen.

Conleths Gesicht entspannte sich vor Behagen, und mir wurde klar, dass er sich gerade auflud.

Ich habe mich ja schon immer gefragt, wo Ifrits ihre Kräfte herbekommen, dachte ich. Trotz der Umstände faszinierte es mich, wie Conleth sich die benötigte Energie holte. Aber ich musste auch herausfinden, wo zur Hölle ich mich befand, also hörte ich auf, Con anzustarren und sah mich um. Es war ein großer, leerer Raum, der so etwas wie ein Büro sein konnte. Er kam mir bekannt vor, wenn auch auf gruselige Art, und einen Augenblick später wurde mir auch klar, warum.

Hier ist es genauso schmuddelig wie in seinem Scheißschlupfloch, bemerkte ich. Ich sah einen abgenutzten Tisch, der vermutlich zu dem Stuhl gehörte, auf dem ich gefesselt saß. In einer Ecke befand sich eine verdreckte Matratze, und überall lagen Junkfood-Verpackungen herum. Con muss hier schon leben, seit wir sein Versteck in Southie gefunden haben …

Nach ein paar weiteren Minuten an der Steckdose stand Conleth auf und strich sich die fleckige Jeans glatt, bevor er auf mich zukam.

»Tut mir leid, dass ich dich betäuben musste, Jane, aber ich hatte keine Zeit für große Erklärungen. Also fand ich, so sei es am einfachsten.« Aus Conleths Stimme klang unendliches Bedauern, und mir wurde klar, dass er dachte, ich wäre freiwillig mit ihm gekommen, wenn er nur die Gelegenheit gehabt hätte, mit mir zu sprechen. Was bedeutete, dass er mich noch immer auf seiner Seite wähnte.

Ich räusperte mich, versuchte meine Stimme zurückzugewinnen. Meine Zunge fühlte sich trocken und holzig an.

»Willst du etwas trinken?«, fragte Con, und ich nickte. Er ging und kam kurz darauf mit einer Flasche Wasser zurück.

»Ich weiß, ich weiß«, murmelte er beruhigend, als er den Deckel von der Flasche drehte und sie mir an die Lippen setzte. Gierig trank ich fast einen halben Liter. »Das Medikament, das ich dir gegeben habe, macht dich so durstig. Es lässt einen zwar schlafen, aber ich habe es immer gehasst, weil es einen so durstig macht.«

Seine Worte trafen mich wie ein Faustschlag. Ich verabscheute diese Kreatur, aber ihn so beiläufig über die Tatsache reden zu hören, dass man ihm sein ganzes Leben geraubt hatte, erfüllte mich auch mit Mitleid. Ich schloss die Augen, um meine Tränen zurückzuhalten, als Con sich wieder vor mich hinhockte.

Er fing an, mir sanft die Beine zu massieren, aber er hätte mich auch genauso mit den Händen verbrennen können. Als das Gefühl langsam in meine Glieder zurückkehrte, fühlte es sich so an, als tanzten winzige Messer über meine Haut.

Ich wimmerte, und die Tränen bahnten sich ihren Weg meine Wangen hinunter.

»Ich weiß, das tut weh. Tut mir leid«, sagte Con betroffen.

Ich biss die Zähne zusammen angesichts des Schmerzes und nickte tapfer.

»Nicht deine Schuld«, gelang es mir zu krächzen.

Er lächelte glückselig. »Nein, das ist bloß das Medikament. Aber es lässt bald nach.«

Rede weiter mit ihm. Lenk ihn ab, dachte ich, während seine massierenden Hände langsam zu meinen Knien hochwanderten.

»Wie…«, nuschelte ich und kämpfte mit meiner noch immer völlig ausgetrockneten Kehle, »wie kommt es, dass du all diese Dinge weißt?«

»Was denn?«

»Medikamente. Computer.«

Conleth lachte, aber es lag keine echte Fröhlichkeit in seinem Ton. »Was hätte ich denn sonst zu tun gehabt, mein ganzes Leben lang gefangen in diesem Labor? Als ich noch klein war, haben sie mich wenigstens draußen spielen lassen, aber zuletzt durfte ich noch nicht einmal mehr meine Zelle verlassen. Außer für die Untersuchungen.«

Seine Stimme klang bitter, und ich verspürte wieder eine Welle des Mitleids für ihn, obwohl es mir kalt den Rücken hinunterlief, da seine Hände sich langsam an meinen Knien vorbei zu meinen Schenkeln vorarbeiteten.

»Du bist intelligent«, sagte ich in einem erneuten Versuch, ihn abzulenken.

»Na ja, für mich hieß es eben, entweder etwas zu lernen oder durchzudrehen.«

Seine Strategie scheint leider nicht ganz aufgegangen zu sein, dachte ich in einem Anflug von Ironie und zwang mich, weiter in seine irren blauen Augen zu blicken.

»Kann ich noch Wasser haben?«, fragte ich. Ich hatte tatsächlich noch immer Durst, aber außerdem befummelte er mittlerweile die Innenseiten meiner Oberschenkel.

»Natürlich«, raunte er, und seine Stimme klang plötzlich noch inbrünstiger.

Nicht gut, dachte ich, während mein noch immer ziemlich benebeltes Gehirn fieberhaft nach weiteren Wegen suchte, ihn abzulenken.

Er ließ mich noch einmal ausgiebig trinken und warf dann die nun leere Flasche weg. Er stand vor mir und ließ seine Augen über meinen Körper wandern. Dieser Anblick war furchteinflößender, als wenn er mir mit der Faust gedroht hätte.

»Kannst du meine Arme losbinden?«, riskierte ich zu fragen. »Sie tun schon ziemlich weh.«

»Nein, tut mir leid. Ich weiß, das muss nur sein, weil du mich noch nicht so gut kennst, aber bis wir uns angefreundet haben, kann ich dich leider nicht losbinden.«

Ich beobachtete, wie seine Kraft unberechenbar pulsierte. Hin und wieder loderte sein Feuer auf, und ich konnte nicht glauben, wie viel Energie ihm zur Verfügung stand, obwohl er so wenig Kontrolle darüber hatte. Er ging wieder vor mir in die Hocke und streckte die Hand nach mir aus.

»Wie war das?«, fragte ich etwas zu laut. Con hielt inne, und sein Blick sprang wieder auf mein Gesicht zurück.

»Wie war was?«

»So aufzuwachsen wie du.«

Conleth setzte sich zurück auf die Fersen und starrte mich scharf an. Ganz offensichtlich gefiel ihm meine Frage nicht, aber ich ließ nicht locker.

»Du musst nicht darüber sprechen, wenn du nicht willst. Aber ich würde es gern wissen. Wenn wir Freunde werden wollen, dann sollten wir über so etwas reden können…«

Er schüttelte den Kopf, ließ sich zurück auf den Hintern sinken und setzte sich im Schneidersitz hin. Er wirkte so jung, wie er da vor mir saß, so verletzlich. Ich fragte mich, welcher Schalter sich bei ihm umlegte, wenn er mordete.

»Okay, okay. Du hast Recht.«

Ich wartete darauf, dass er zu erzählen anfing, froh darüber, dass er sein Gefummel unterbrochen hatte, aber voller Angst darüber, was ich nun zu hören bekäme.

»Es war gar nicht so schlimm, wirklich. Zumindest eine ganze Weile.«

Ich neigte den Kopf und zeigte dem Ifrit mein bestes »Zuhör«-Gesicht.

»Ich meine, ich kannte es ja nicht anders. Ich bin zwar nicht im Labor geboren worden, aber das machte kaum einen Unterschied. Ich war noch sehr klein, als ich dorthin kam.« Er legte eine Pause ein und starrte gedankenverloren auf seine Füße.

»Wie bist du überhaupt dort gelandet? Im Labor?« Ich gab ihm Stichworte, obwohl ich die Fakten im Grunde schon kannte.

Con fing an zu zittern und nervös seine Hände zu kneten. »Das ist ziemlich dumm gelaufen…«, sagte er.

»Schon okay, Con«, erwiderte ich. »Was ist passiert?«

»Ich war doch noch ein Baby. Wahrscheinlich erst ein paar Monate alt. Meine Mutter war ein Mensch. Die Schlampe hat mich einfach vor einem Kloster abgelegt. Ich weiß, dass eine der Nonnen um Mitternacht herum bei der Polizei anrief und ihnen mitteilte, dass ein Kind vor ihrer Tür ausgesetzt worden war. Sie meinte, sie sei aufgewacht, weil sie schlecht geträumt habe. Aber bei der Polizei waren sie gerade zu beschäftigt und konnten nicht sofort kommen. Und die Nonne meinte, sie würde sich gern um mich kümmern. Dann hörte der Polizist Weinen im Hintergrund, und plötzlich fing die Nonne zu schreien an. Irgendetwas musste mich aus der Fassung gebracht haben, also setzte ich das Kloster in Brand. Alle darin kamen um.«

»Mein Gott!«, hauchte ich.

»Ich denke, ich wurde als Mörder geboren«, sagte er. Scham schwang in seiner Stimme mit, zusammen mit erbittertem Stolz. Conleth war wirklich total durchgeknallt.

»Wie kommt es, dass du dich noch daran erinnern kannst, was passiert ist? Und was die Nonnen gesagt haben?«

Con schüttelte den Kopf. »Nein, mir wurde einmal von jemandem der aufgezeichnete Notruf vorgespielt. Von jemandem … der später kam.«

»Später?«

»Ja, als das Labor … sich veränderte.«

»Oh«, sagte ich. Und dann saßen wir eine Weile schweigend da. Er dachte vermutlich daran, was ihm unter der neuen Laborleitung angetan worden war, aber ich fragte mich, wie viel er wohl über die Machtstrukturen dahinter wusste. Und wie ich ihn dazu bringen konnte, mir zu verraten, was ich wissen wollte.

»Vorher war es ganz okay«, sagte er schließlich.

»Im Labor?«

»Ja, wie schon gesagt, ich kannte es ja nicht anders. Und sie haben mich ganz okay behandelt. Ich meine, manche der Tests taten schon weh oder machten mir Angst, aber die Schwestern waren nett, und den Ärzten, vor allem Dr. Silver, schien ich nicht völlig gleichgültig zu sein.«

»Bestimmt warst du ihnen nicht gleichgültig, Con. Schließlich haben sie dich aufwachsen sehen.«

Er schnaubte verächtlich, aber anders als mein Schnauben bestand seines aus Feuer. »Wie auch immer, ich dachte, sie würden sich um mich sorgen, weil ich es nun mal nicht anders kannte. Aber keiner tat es wirklich. Ich war doch nichts weiter als ein Versuchskaninchen für sie, ein Experiment. Sie hielten mich nur bei Laune, weil sie dann ihre Tests besser an mir durchführen konnten. Und weil ich sie, obwohl ich das damals noch nicht wusste, alle in die Luft hätte jagen können.«

Ich nickte, und er malte sich vermutlich aus, wie das »Indie-Luft-Jagen« ausgesehen hätte.

»Und was passierte dann, als das Labor sich veränderte? «

Er schwieg eine Weile, um sich zu sammeln. Ich wartete und vertrieb mir die Zeit damit, meine Stirn zu runzeln und zuzusehen, wie das getrocknete Blut auf meine Jeans rieselte.

»Es ging ganz schleichend, passierte erst im Laufe der Zeit«, erzählte er schließlich zögernd. »Erst kamen andere Krankenschwestern. Dann andere Ärzte. Und am Ende war nichts mehr, wie es vorher gewesen war. Sogar Silver wurde gefeuert. Erst dann wurde mir so richtig klar, wie viel Glück ich vorher hatte.«

»Was haben sie mit dir gemacht?«, fragte ich sanft.

Er blickte auf und sah mir in die Augen. Sein Blick war gequält. Wenn er vorher schon verletzlich gewirkt hatte, dann sah er jetzt völlig am Boden zerstört aus.

»Frag besser, was sie nicht mit mir gemacht haben. Einiges war wie die Untersuchungen, die auch schon vorher an mir vorgenommen worden waren, aber anderes wurde, glaube ich, nur gemacht, um mich zu quälen. Da war dieser eine Arzt… er war der erste, der kein Mensch war. Nicht der letzte, aber der erste. Durch ihn begriff ich, dass ich nicht allein war. Er nannte sich ›der Heiler‹ und sonst nichts. Ich weiß nicht, was er war, und für die Menschen sah er wohl ganz normal aus. Aber er wandte bloß seine Aura an, denn er war alles andere als normal. Er sah ein bisschen aus wie … eine Echse.«

Vielleicht ein Kobold?, dachte ich und fragte Conleth nach mehr Details.

»Wie schon gesagt, er hatte etwas Reptilienhaftes. Seine Nase war irgendwie flach und schlangenartig, und er hatte fast am ganzen Körper schuppige Haut. Nur sein Gesicht bestand aus Menschenhaut, und auch seine Augen sahen menschlich aus. Seine Hände waren auch die eines Menschen, allerdings hatte er regelrechte Krallen…« Conleth verstummte und wischte sich die Handflächen an seiner Jeans ab, als versuche er, sich von schlechten Erinnerungen zu reinigen. Er wirkte jetzt völlig in sich gekehrt und sprach genauso zu sich wie mit mir. Unterdessen versuchte ich, mir darüber klarzuwerden, was dieser Heiler genau gewesen sein könnte. Wen hatte ich schon getroffen, der aussah wie eine Echse?

Vielleicht ein Nahual, der versuchte, ihm Angst zu machen? Und dann stieß mein Hirn auf das Offensichtliche. Oder ein Koboldhalbling…

»Er war noch schlimmer als die Frau mit ihrem Lieblingspsycho. «

»Verstehe«, sagte ich besänftigend, denn Con wurde langsam wieder unruhig. Und seine Unruhe nahm die Form von winzigen Feuerbällen an, die aus ihm herausgeschleudert wurden und unkontrolliert durch den Raum stoben. Ich zog rasch ein bisschen Wasser aus der Luft, um einen Funken zu löschen, der auf meiner Jeans gelandet war. Ich nahm an, dass er die Leute, von denen er sprach, bei seiner Flucht getötet hatte, also sagte ich: »Du hast sie erledigt, als du entkommen konntest, oder?«

Con sah mich finster an. »Nein. Die Frau war an diesem Tag nicht da und der Heiler auch nicht. Anfangs war er oft da, aber später wurde er wohl befördert.« Cons Stimme wurde so kalt wie seine Augen. »Er hat seine Arbeit wirklich gut erledigt«, sagte er verächtlich. »Er stand auf Schmerz. Er hat Sachen gemacht…« Conleth verstummte erneut, und ich wusste, dieses Schweigen würde er so leicht nicht brechen.

»Du hast Schlimmes durchgemacht«, sagte ich, um ihm aus der Klemme zu helfen, indem ich ihn wissen ließ, dass er gar nicht mehr zu sagen brauchte.

Aber so nahm Con es nicht auf. Er sah mich scharf an, und seine Elementarkraft loderte in einer hellen, heißen Stichflamme auf.

»Was zum Teufel weißt du denn schon, Jane?«

Ich blinzelte, irritiert von seiner plötzlichen Wut. Schließlich waren mein Entführer und ich bis hierhin recht gut miteinander ausgekommen.

»Dein Leben war doch nichts weiter als ein Spaziergang. Was weißt du denn bitte schon von Schmerz? Von Demütigungen? « Conleth erhob sich und kam bedrohlich auf mich zu.

»Con, ich wollte nicht…«

»Nein, Jane, verdammt! Okay, dein Freund ist gestorben, und deine liebevolle Mutter ließ dich in der Obhut deines liebevollen Vaters zurück. Okay, du warst sogar eine Zeit lang in einem richtigen Krankenhaus, wo deine Familie und deine Freunde die ganze Zeit ein sorgsames Auge auf dich hatten… Was zur Hölle weißt du bitte schon von Leid?« Conleth Stimme wurde immer lauter und die Hitze, die er pulsierend verströmte, immer stärker.

»Du hast Recht«, sagte ich beschwichtigend. »Es tut mir leid…«

»All der Scheiß, den sie mir am Ende angetan haben, Jane…« Seine Stimme brach, und seine Flammen erloschen und enthüllten Schultern, die im Schmerz der Erinnerung erschlafft waren. Aber sein schwacher Moment währte nicht lang, sein Feuer loderte wieder auf, und er machte noch einen Schritt auf mich zu.

»Ich dachte, wir könnten Freunde sein, Jane, aber wahrscheinlich kannst du mich einfach nicht verstehen. Vielleicht bist du ja doch genauso wie alle anderen. Was weißt du denn schon, verdammt?«, rief er erneut und streckte seine flammende Hand nach mir aus.

Ich wich zurück und fuhr reflexartig einen starken Schild hoch. Gleichzeitig zog ich Wasser aus der meeresgeladenen Luft, mit dem ich sein Feuer löschte, als seine Hand durch meine hastig errichtete Barriere drang. Ich wollte ihn nicht noch wütender machen, indem ich mich nicht von ihm anfassen ließ, aber ich war auch nicht gerade scharf auf gegrillte Wangen.

»Du hast ja Recht. Entschuldige!«, schrie ich und ließ den Tränen, die ich so lange unterdrückt hatte, freien Lauf. »Es tut mir leid, dass ich es nicht verstehen kann. Ich hatte Glück. Aber ich will es versuchen, Conleth. Ich will dich kennenlernen!«

Seine Hand packte mich am Kinn, als er mir argwöhnisch in die Augen schaute, um herauszufinden, ob ich etwa log. Was ich im Übrigen tat – und zwar dass sich die Balken bogen.

Eben hatte ich mich noch gefragt, ob es mir nicht gelänge, ihn zu knacken, ihn dazu zu bringen, sich die Hilfe zu suchen, die er benötigte. Damit ihm vielleicht etwas Gerechtigkeit widerführe. Aber jetzt wurde mir klar, dass das eine totale Milchmädchenrechnung gewesen war. Ja, er war ein Opfer, aber er war eben auch eine tickende Zeitbombe, mit der ich allein unmöglich fertigwurde. Ich sollte schleunigst mit meinen Winkelzügen aufhören und mich hüten, weiter die Psychologin zu spielen.

Dennoch machte ich weiter und ließ meine sowieso schon großen, schwarzen Augen einfach noch mehr nach Babyrobbe aussehen. Ihm schien zu gefallen, was er sah, denn er nickte schließlich, rückte ein Stück von mir ab und versuchte wieder, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen. Zumindest das bisschen, das er davon hatte.

»Es tut mir leid, Con. Wirklich leid! Du hast vollkommen Recht. Ich kenne dich einfach noch nicht so gut, aber gib mir eine Chance.«

»Es sollte dir auch leidtun.«

»Das tut es, Con. Ganz ehrlich. Es tut mir so leid.«

»Was mir passiert ist…« Er verstummte, sein Feuer erlosch wieder und ließ nichts als Traurigkeit zurück.

»Was mit dir passiert ist, ist ungeheuerlich, Conleth. Was du erdulden musstest, ist mehr als grauenhaft.«

Con senkte den Kopf und ließ sich kraftlos zu meinen Füßen nieder. Er legte seine Wange auf mein Knie. Sein Rücken zuckte, und nach einem Moment der Verblüffung merkte ich, dass er weinte: »Ich hatte gehofft, dass du es verstehen würdest«, schniefte er. »Als ich deine E-Mails las, dachte ich, du könntest mich vielleicht verstehen. Mich wirklich kennenlernen.«

Ich gab tröstende Geräusche von mir, während ich die ganze Zeit über versuchte, mit den Rändern meines noch immer errichteten Schildes die Knoten meiner Handgelenksfesseln zu lösen. Con mochte ja vielleicht ein Computerfreak sein, aber er hatte keine Ahnung vom Segeln. Ich war mir ziemlich sicher, dass er mich mit nichts weiter als einer Doppelschleife gefesselt hatte.

»Weißt du, was ich am absurdesten daran finde, Jane? Das Wort ›Halbling‹. Ich konnte es nicht glauben, als mir diese Frau sagte, dass man uns ›Halblinge‹ nennt.« Conleth schnaubte, nachdem er seine Tränen wieder unter Kontrolle hatte. »Als seien wir nur die ›Hälfte‹ von irgendwas.« Er rieb seine Wange an der Außenseite meiner Jeans, und ich konnte seine Hitze durch den Stoff hindurch spüren. Ich stocherte fester an dem Knoten herum und versuchte gleichzeitig, meinen Schild stabil zu halten, ungeachtet der Tatsache, dass Con nun vor mir kniete und ziemlich unverhohlen meine Beine betatschte.

»Erzähl mir mehr davon«, improvisierte ich. »Ich habe es so satt, mich die ganze Zeit nur mit diesen Reinblütigen abgeben zu müssen. Oder mit Menschen.«

Glücklicherweise hörte Con auf, mir auf den Schritt zu glotzen, und strahlte mich an.

»Ich wusste es! Ich wusste, du meinst all das Zeug nicht ernst, das du diesem Ermittler geschrieben hast. Ich wusste, du schreibst ihm das nur, damit er nicht merkt, wie sehr du ihn eigentlich hasst.«

»Ähm, ja, natürlich. Alles nur Lügen«, pflichtete ich ihm bei und nestelte immer krampfhafter an meinen Fesseln herum. Ich musste Anyan darauf hinweisen, dass Doppelschleifen eine erstaunlich effektive Fesselmethode waren.

»Das ist toll, Jane. Toll. Ich bin so froh, dass du das sagst.«

Con strahlte mich weiter an, und ich strahlte zurück, während ich heimlich meine Taktik änderte und mir in Erinnerung rief, was ich tat, wenn ich die Schnürsenkel meiner geliebten grünen Chucks aufband. Ich fing also an, mit meinem Kraftschild an den Fesseln zu zupfen statt zu stochern und suchte nach dem richtigen Winkel.

»Ein paarmal dachte ich, du würdest ihn wirklich lieben«, gestand er und beugte sich näher zu mir. Indem ich mir meine Kraft wie eine Gebäckzange vorstellte, bekam ich den Strick endlich richtig zu fassen und zog fest daran. Meine Fesseln lösten sich und rutschten herunter, wobei mein Schild die Energie, die ich dafür aufwandte, absorbierte und tarnte. Ich verschränkte die Hände hinter dem Rücken, um meine neu gewonnene Freiheit nicht zu verraten.

»Aber ich wusste, du konntest nicht auf so einen Lackaffen wie ihn stehen. Ich meine, ihr beide habt nichts gemeinsam…«

Ich ließ Con weiter auf mich einreden und bewegte meine Handgelenke, damit das Gefühl zurück in meine Arme kam. Ich hatte eine Idee, aber ich wusste nicht, ob sie funktionieren würde. Und falls doch, würde ich vermutlich fast meine gesamte gespeicherte Energie verbrauchen.

Aber mir gingen langsam die Optionen aus. Das wurde mir unmissverständlich klar, als Cons Gesicht sich langsam meinem näherte. Er küsste mich, und seine Lippen waren überraschend nass und kalt. Er stöhnte vor Verzückung, und ich konnte mir kaum verkneifen, dem übermächtigen Drang nachzugeben, vor ihm zurückzuzucken. Als er dann auch noch anfing, meinen Busen zu begrabschen, wusste ich, dass alle anderen Optionen sich gerade in Luft aufgelöst hatten. Ich musste etwas tun.

Ich riss mich zusammen und fing an, ihn zurückzuküssen und zwar heftig. Er musste mir abnehmen, dass ich ihn wollte, und ich musste ihn ablenken, um mir einen Vorteil zu verschaffen. Ich stand auf, aber er war so abgelenkt von meinem Mund, dass er nur stöhnte, als er es spürte, und bevor er seine Augen öffnen konnte, fuhr ich ihm mit der Zunge über die Lippen, was ihn regelrecht zum Wimmern brachte. Gleichzeitig verpasste ich ihm einen Schlag mit all meiner Faust- und meiner Elementarkraft.

Ich schlug zu wie ein totales Mädchen, weshalb der Hieb nicht besonders beeindruckend war. Was aber durchaus beeindruckend war, war die Entladung von Energie, die ich durch meine Arme leitete und aus meinen Fingerknöcheln herausströmen ließ. Der Effekt war ganz erstaunlich.

War es wirklich eine weitsichtige Strategie, all meine magische Kraft auf einmal zu verblasen? Vermutlich nicht. Aber als ich kraftlos auf den Stuhl zurücksank, flog der Ifrit-Halbling noch immer durch die Luft. Allein das war es absolut wert. Genauso wie das Geräusch, als er gegen die Wand prallte. Und das Gefühl, das mich überkam, als mir klarwurde, dass er nicht wieder aufstand.

Unbezahlbar.

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Meine Beine fühlten sich noch immer wie Gummi an, und mein Verlangen nach dem Meer war überwältigend. Ich fühlte mich wie eine ausgequetschte Zahnpastatube. Oder besser: Ich fühlte mich wie eine ausgequetschte Zahnpastatube, die versuchte, auf Spaghettibeinen zu laufen.

Ich war durch eine Reihe von kleineren Räumen in eine Lagerhalle gewankt, die voll mit riesigen Schiffscontainern war, alle verrostet und leer. Sie standen kreuz und quer herum, manche übereinandergestapelt, und machten aus der Halle ein wahres Labyrinth. Ich konnte den Ozean direkt unter mir spüren. Mein träges Hirn setzte all die Hinweise zusammen und kam zu dem Schluss, dass ich mich in einer Art Werft befinden musste.

Das Meer so nah zu wissen und es doch nicht erreichen zu können, war die reinste Folter. Wenn die Fenster nicht drei Meter über dem Boden gewesen wären, wäre ich einfach durch eines hindurchgekrochen und hätte mich schwimmend in Sicherheit gebracht. Und wenn ich nicht so ausgelaugt gewesen wäre, hätte ich versucht, einfach ein Loch in den Boden zu jagen. Aber leider bestand meine einzige verbleibende Option darin, meine ziemlich wackeligen, kleinen Füße zu benutzen.

Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand oder wohin ich ging. Ich konnte nur hoffen, dass ich überhaupt vorwärtskam, dass ich nicht in irgendeine Falle tappte, dass Con mir nicht folgte. Aber nichts davon wusste ich mit Garantie, und so blieb mir nichts anderes übrig, als meine tauben Beine zu bewegen, was jedoch gegen alle meine Instinkte war. Mein ganzes Wesen drängte mich, irgendein Loch zu finden und mich darin zu verkriechen, hauptsächlich, weil mir die ganze Szenerie erschreckend bekannt vorkam. Von zahllosen Romanen und Filmen war mir eingepaukt worden, was passierte, wenn wehrlose Frauen allein durch dunkle, unheimliche Orte irrten. Nichts davon war besonders verlockend. Gleichzeitig boten die Container Feinden unzählige Versteckmöglichkeiten: Hände könnten jeden Moment aus dunklen Ecken auftauchen, um mich zu packen, oder unter Containern hervorkommen, um mich zu Boden zu reißen. Diesem typischen Szenario wollte ich jedoch auf keinen Fall folgen, sondern stattdessen lieber irgendein Plätzchen außerhalb der Schusslinie finden, mich zusammenrollen und auf die Abspannmusik warten.

Und ich muss mir wirklich dringend mal das Näschen pudern, warf meine Blase auch noch sehr zu meinem Ärger ein. Ich war so abgelenkt von meinem Bedürfnis zu pinkeln, dass ich einfach um einen der Container herumging, ohne vorher um die Ecke gespäht zu haben.

Mein Vorankommen wurde jedoch von einer mir gut bekannten Wand von einem Mann behindert.

»Wir müssen wirklich aufhören, immer wieder so ineinander zu rennen«, krächzte ich mit meiner Nase in Anyans Lederjacke. Als mich der vertraute Geruch von Zitronenwachs und Kardamom umfing, gaben meine Knie nach, und ich sank zu Boden. Der Barghest fing mich auf und fluchte leise, als er mich wieder auf die Füße stellte. Die Berührung durch seine starken Hände löste in mir ein mächtiges, wenn auch völlig unangebrachtes Verlangen aus, mich in seine Arme zu werfen. Ich wusste, er würde mich in Sicherheit tragen, und das war es, was ich gerade wollte: in Sicherheit sein. Mehr als ich in meinem Leben je etwas gewollt hatte. Ich war ganz und gar nicht dafür gemacht, eine Actionheldin zu sein.

Es gelang mir, den Drang, mich ihm an den Hals zu werfen, unter Kontrolle zu halten, aber ich lehnte mich mit einem Seufzer der Erleichterung an seine kräftige Brust. Anyan versteifte sich, offensichtlich überrascht, entspannte sich dann jedoch wieder und umarmte mich so fest, dass meine Rippen knackten. Seine Energie folgte seinen Armen, bis ich ganz von Anyans Kraft umhüllt war.

»Bei allen Göttern, Jane, bist du okay? Ich wäre vor Angst um dich beinahe umgekommen.«

Anyans Stimme war rau, aber seine Hände strichen mir sanft über die Arme zur Taille hinunter und dann über den Rücken wieder hoch. Ich wusste, er untersuchte mich bloß auf Verletzungen, aber ich reagierte auf seine Berührung wie ein erschrockenes Pferd. Mein schwerfälliger Atem ging wieder leichter, und mein noch immer wie wild klopfendes Herz beruhigte sich mit jedem Schlag.

»Ich bin fast dreihundertfünfzig Jahre alt, Jane. Ich habe zwei Kriege überstanden. Aber du wirst noch mein Untergang sein. Hat dir Conleth wehgetan?«

»Nein«, murmelte ich an seiner Schulter, bevor ich den Kopf hob, um ihm in die Augen zu blicken. »Aber ich glaube, ich habe ihm wehgetan.«

Daraufhin musste Anyan lächeln, und seine Kraft pulsierte um uns herum, rieb sich an mir wie eine anschmiegsame Katze.

»Was hast du gemacht? Du bist ja völlig ausgelaugt.«

»Ich habe ihm so richtig in den Arsch getreten, Anyan.« Meine Knie gaben wieder nach, und Anyan fluchte.

»Das nächste Mal reicht aber die halbe Kraft«, ermahnte er mich besorgt und hielt mich auf den Beinen.

»Ich weiß nicht, wie man nur die Hälfte einsetzt«, jammerte ich und versuchte, meine Arme und Beine dazu zu bringen, nicht mehr zu zittern. »Mir blieb nur das oder ein kleines Schäferstündchen mit ihm einzulegen. Ich habe mich für den Arschtritt entschieden.«

Mein Triumph war nur von kurzer Dauer, denn nun versagten meine Beine vollends ihren Dienst. Anyans Gesichtsausdruck, der von besorgt zu entsetzt gewechselt hatte, als ich »Schäferstündchen« und »Conleth« im selben Satz gesagt hatte, drückte erneut ernste Sorge um mich aus, während er mich so lange stützte, bis ich mich wieder ein wenig erholt hatte.

»Wenigstens bin ich davongekommen«, erinnerte ich ihn. Ich wollte ja schließlich nicht sein Untergang sein.

»Das bist du, Jane. Braves Mädchen«, sagte er, und der Anflug eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht.

Ich blickte mit gerunzelter Stirn konsterniert zu ihm auf. Ich war drauf und dran, ihn darauf hinzuweisen, dass ich, obwohl ich für ihn und seinesgeichen vielleicht noch ein Embryo sein mochte, nach menschlichen Standards alles andere war als ein »Mädchen«. Aber ich hob streitlustig mein Kinn genau in dem Moment, als er sich herunterbeugte, um meine Beine auf Verletzungen abzutasten. Plötzlich befanden wir uns Nase an Nase, und angesichts dieser verzwickten Lage wurden seine grauen Augen genauso weit wie meine.

Ich räusperte mich und ging etwas auf Abstand.

»Ist Ryu okay?«

»Ja«, sagte Anyan und ging nun ganz in die Knie, um weiter den Doktor zu spielen. Als er sich überzeugt hatte, dass ich nicht verletzt war, richtete er sich auf und überragte mich wieder um Längen. »Aber es wird ihm noch viel besser gehen, wenn er weiß, dass du wieder in Sicherheit bist. Also lass uns die anderen suchen.«

Er nahm mich bei der Hand und zog mich weg. Ich folgte ihm, wobei ich versuchte, mich auf meinen wackeligen Beinen zu halten. Wir liefen und liefen, wandten uns hierhin und dorthin, zwischen den verschiedenen Containern hindurch. Anyans Nase witterte die ganze Zeit zuckend den Weg. Aber da war noch eine drängende Frage, die ich nicht länger zurückhalten konnte.

»Äh, Anyan?«

»Ja?«

»Gibt es hier irgendwo ein Klo?«

Der Barghest blieb stehen. »Was?«

»Gibt es hier ein Klo? Ich muss wirklich dringend pinkeln. «

»Du willst mich wohl verarschen?«, sagte Anyan, der herumgefahren war und mich anstarrte, als sei ich völlig verrückt geworden.

»Nein, will ich nicht. Ich muss wirklich pinkeln. Ich habe fast einen ganzen Liter Wasser getrunken, und wenn ich im Stress bin, muss ich immer aufs Klo. Entführt zu werden ist ziemlich stressig. Wirklich Stress pur.«

Anyan schüttelte den Kopf. »Jane, da fällt mir echt nichts mehr ein. Ich rette dich vor einem psychopathischen Serienmörder, der offenbar wild entschlossen ist, dich zu schwängern, und du denkst nur daran, wo du mal für kleine Mädchen kannst?«

»Ich muss wirklich dringend…«

Der Barghest schloss die Augen und murmelte irgendetwas vor sich hin. Ich glaube, er zählte bis zehn.

»Okay, hier gibt es kein Klo! Geh einfach in einen der Container oder dahinter. Such’s dir aus.«

»Äh, darin bin ich wirklich nicht gut.«

»Im Pinkeln?«

»Irgendwo hinzupinkeln. Normalerweise ziehe ich es vor, das allein zu erledigen. Das ist … peinlich.«

»Pinkel oder pinkel nicht, aber entscheide dich! Bevor ich hier noch ausflippe.«

»Okay, meine Güte. Musst du vielleicht nie aufs Klo? Lehrt man euch etwa auch noch die absolute Blasenkontrolle in der Gehorsamkeitsschule?«, motzte ich pampig, kroch hinter einen der Container und knöpfte meine Hose auf.

»Jane, ich bin nahe dran, dich wieder Conleth zu übergeben. «

»Mir doch egal«, murmelte ich und ging in die Hocke.

»Das habe ich gehört.«

»He, nicht lauschen, du Perversling!«

Ein ersticktes Ächzen war die einzige Antwort. Ich verdrehte die Augen ob seiner Theatralik und erledigte mein Geschäft hinter dem Container, dann stand ich auf und zog mir die Hose wieder hoch. »Ich habe nur Witze gemacht, Anyan«, sagte ich, als ich aus meinem Versteck heraustrat …

… und meinen Retter im Würgegriff von Phädras Spriggan zappeln sah.

»Oh, Fuck«, rief ich, und die Angst ließ meinen Adrenalinpegel sprunghaft steigen.

»Ja, Fuck«, hauchte mir plötzlich eine samtige Stimme ins Ohr. »›Fuck‹ ist genau das Wort, das ich gesucht habe.«

»Graeme!«, stieß ich hervor und kniff die Augen zusammen, um meine Panik im Zaum zu halten, die drohte, mich zitternd in die Knie zu zwingen.

Hände packten mich von hinten an den Schultern und zogen mich, trotz meiner verzweifelten Gegenwehr, an die Brust des Elben.

»Kleine Jane«, sagte er und presste mich mit einem Arm eisern an sich, während er mir mit der anderen Hand über die Hüfte strich. »Ich wusste, ich würde etwas Zeit mit dir allein finden.«

Graemes Finger fanden ihren Weg zwischen meine Beine, und ich erstarrte. Mein Herz klopfte panisch. Anyan indessen erging es nicht viel besser. Der große Mann wurde von dem knotigen, grauen Riesen, der ihn am Hals gepackt hatte, wie eine Stoffpuppe geschüttelt. Fugwat grinste wie ein kleines Kind mit einem neuen Spielzeug. Wie ein Kind, das sich darauf freute, gleich das Haustier des Nachbarn zu quälen. Ich versuchte, meine Kräfte zu mobilisieren, aber angesichts meiner Panik und meiner fast vollständig aufgebrauchten Ressourcen, tat sich einfach überhaupt nichts.

»Lass das lieber, kleine Jane«, sagte Graeme und griff nach einer meiner Brüste, um sie so fest zu drücken, dass es wehtat. Ich fauchte vor Schmerz, als er mir brutal in den Nippel kniff und ihn zwirbelte. Als mein Fauchen in Wimmern überging, hörte er endlich auf, drehte mich zu sich herum und starrte mir ins Gesicht.

Ich versuchte, unerschrocken auszusehen, aber beim Anblick seiner seelenlosen Augen machte ich mir fast in die Hosen vor Angst. Ich versuchte wieder, mich zu befreien, und suchte verzweifelt nach meinen aufgebrauchten Elementarkräften. Graemes Reaktion darauf folgte prompt und unerbittlich.

Seine Faust landete an meinem linken Wangenknochen, ließ meinen Kopf zurückschnellen und nahm mir jede Chance darauf, in die Offensive zu gehen. Graeme schlug definitiv nicht zu wie ein Mädchen, und der Schmerz war scheußlich. Ich stöhnte, als er erneut zuschlug, und dann noch ein drittes Mal, diesmal voll auf mein rechtes Auge. Graeme hielt einen Moment inne, um sein Werk lächelnd zu betrachten und das Blut aus der Platzwunde an meiner Augenbraue über mein Gesicht laufen zu sehen. Er küsste mich grob und grub dabei seine Zähne in meine Unterlippe. Ich stieß einen Schmerzensschrei aus, und salzige Tränen liefen mir brennend über die wunden Wangen.

»Ich werde es genießen, dich zu brechen, kleine Jane«, raunte der Elb ungestüm. Ich spürte seine Lust, seine Raserei und sein Verlangen, mir Schmerz zuzufügen. Und all das war gebündelt in dem großen, kranken Paket namens Graeme.

»Ich stehe auf deine Augen«, sagte er und saugte an meiner blutigen Lippe. »Richtige Robbenaugen. Da bekomme ich gleich Lust, ein bisschen auf dich einzuknüppeln.«

Ich hörte etwas hinter mir krachen und hoffte inständig, Anyan habe sich aus den Klauen des Spriggan befreit. Aber bevor ich nach hinten schielen konnte, bohrte Graeme mir seine Zähne in den Hals. Ich schrie auf, als der stechende Schmerz mich durchfuhr.

»Dachte ich mir doch, dass dir meine Liebesbisse gefallen«, schmunzelte der Elb hämisch, nachdem seine Zähne von mir abgelassen hatten. »Du treibst es schließlich mit einem Sith«, erklärte er und schleuderte mich mit aller Kraft gegen die harte Wand eines Stahlcontainers. Mir blieb der Atem weg, als ich mit voller Wucht gegen die Containerwand prallte. Ich sank zu Boden und schnappte mühsam nach Luft. Irgendetwas schmerzte tief in meiner Brust.

Mein linkes Auge war zugeschwollen, aber mit dem rechten konnte ich noch sehen. Graeme schnallte seinen Ed-Hardy-Nietengürtel ab und kam damit auf mich zu. Ich rollte mich zusammen und hielt schützend die Hände vors Gesicht. Der erste Schlag traf mich an den Unterarmen, und die Nieten bohrten sich in meine Haut. Der zweite zielte auf meine Oberschenkel und fügte mir sogar durch den dicken Denimstoff meiner Jeans einen Bluterguss zu. Winselnd vor Schmerz, wartete ich darauf, dass er ein drittes Mal zuschlug.

Aber dazu kam es nicht. Gerade als Graeme seinen Arm erneut gegen mich erheben und zuschlagen wollte, wurde eine mächtige Breitseite aus Wut und Feuer auf ihn abgegeben.

Diesmal war es Graeme, der mit voller Wucht gegen einen Container knallte. Bevor er sich aufrappeln konnte, war Conleth schon bei ihm, packte ihn an der Kehle und hielt ihn hoch, so dass er nur mehr mit den Zehenspitzen den Boden berührte. Dann rastete Con völlig aus und machte sich daran, das Gesicht des Elben zu schmelzen, anders lässt es sich kaum beschreiben.

»Ich habe dir doch gesagt, dass wir uns noch einmal wiedersehen werden, du verdammter Mistkerl«, brüllte Conleth triumphierend, und seine Flammen loderten noch heller. Graemes Schreie hallten durch die Lagerhalle und prallten gespenstisch von den Metallwänden der Container ab.

Da torkelte auch der Spriggan in mein Blickfeld, an dessen Rücken sich ein sehr wütender Barghest festkrallte wie eine in Leder gekleidete Klette. Anyan drosch mit seinen Fäusten und seinen Kräften auf Fugwats Kopf ein, doch im Gegensatz zu mir schien er dadurch keine Kraft zu verlieren. Er war schier unermüdlich, was gut war, denn der Spriggan hatte anscheinend eine unglaublich harte Birne. Aber schließlich gab auch Fugwats Schädel nach. Er sank auf seine knotigen, grauen Knie, bevor er mit dem Gesicht voraus nach vorn kippte.

Anyans Blick wanderte von Conleth, der noch immer dabei war, Graeme fertigzumachen, zu mir, die ich bäuchlings vor der Containerwand lag, und stürzte sofort zu mir. Aber bevor er mich erreichen konnte, schleuderte Con Graeme direkt auf den Barghest. Anyan wurde von dem Elben umgerissen, dessen schauerliches Gewinsel davon zeugte, dass er noch am Leben war, wenn auch ziemlich verkohlt. Con war sofort bei mir und versuchte mich hochzuziehen. Doch bei seiner Berührung schrie ich auf, da ich nicht nur gerade grün und blau geprügelt worden war, sondern er außerdem sein Feuer nicht unter Kontrolle hatte und mir meine striemigen Unterarme verbrannte.

»Oh, Jane, was hat er mit dir gemacht?«, zischte er mit weit aufgerissenen Augen, während er sein Feuer nach innen zog.

Ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Jetzt nachdem mich mein Entführer gerettet hatte, war ich endgültig an einem Punkt angekommen, an dem ich jedes Gespür dafür verloren hatte, wer gut und wer böse war. Ich glaube, es war mir mittlerweile auch egal. Ich wollte einfach nur, dass die Schmerzen – all diese Schmerzen – aufhörten. Welche Verletzung auch immer den dumpfen Schmerz in mir ausgelöst hatte, machte es mir auch schwer zu atmen, also klang mein Schluchzen eher wie tränenersticktes Japsen.

Der Ifrit-Halbling hob mich hoch und drückte mich an seine Brust. Er wandte sich mit mir zum Gehen, hielt jedoch inne, als Anyans scharfer Schrei ertönte.

»Conleth, halt!«, befahl der Barghest. »Bleib stehen und schau sie dir an! Sie ist schwer verletzt. Was kannst du da für sie tun?«

Mein eines funktionierendes Auge erkannte Conleths Gesicht, das auf mich herunterschaute. Ich fuhr mit der Zunge über meine geschwollene, zerbissene Lippe und wimmerte herzzerreißend.

»Bitte, Conleth«, flehte ich mit belegter, fremdartiger Stimme.

Conleth stand da und betrachtete mich eindringlich. Also drückte ich richtig auf die Tränendrüse, fing noch heftiger an zu schluchzen und ließ puren Schmerz aus meinen geschwollenen, blutunterlaufenen Augen sprechen.

»Ich kann sie heilen, Conleth, und bald wird ein noch besserer Heiler hier sein. Ich wittere ihn schon; er ist ganz in der Nähe. Er wird sie wieder ganz in Ordnung bringen, und ich schwöre bei den Göttern, dass ich dafür sorgen werde, dass dir nichts passiert und du nicht gefangen genommen wirst. Du hast Jane gerettet, und ich schulde dir etwas. Ich garantiere für deine Sicherheit, und sie bekommt die Hilfe, die sie braucht.«

Conleth reagierte nicht, aber seine Arme drückten mich noch fester an sich.

»Bitte«, sagte der Barghest flehentlich. »Ich bitte dich inständig.«

Con sah mich noch einmal lang und eindringlich an und wandte sich dann zu Anyan um.

»Du heilst sie und lässt mich gehen?«

»Versprochen.«

»Wieso sollte ich dir vertrauen?«

»Das kannst du nicht, Conleth. Du kennst mich nicht. Aber sieh dir Jane an. Sie muss versorgt werden; soviel ist sicher.«

Conleths hellblaue Augen blickten in mein gesundes, und er nickte abrupt.

»Gut. Ich lasse sie runter, und du übernimmst sie. Aber wenn du fertig bist, gibst du sie mir zurück!«

»Natürlich«, log der Barghest aalglatt. »Gib mir nur Gelegenheit, mich um sie zu kümmern.«

Con pirschte ein paar Schritte vorwärts, bevor er mich auf dem kalten, feuchten Boden der Lagerhalle absetzte. Dann huschte er wieder zurück und ließ sein Feuer aufflammen. Anyan gab dem Ifrit gerade genug Zeit, um in seine Ecke zurückzukehren, bevor er auch schon an meiner Seite war. »Meine Güte, Jane«, flüsterte er und zog mich an sich. »Caleb, hierher!«

Während wir das Getrappel der Satyrhufe näher kommen hörten, fing Anyan schon selbst an, mich zu heilen. Er schien nicht recht zu wissen, wo er anfangen sollte, und ich spürte seine rechte Hand auf mir, während seine heilende Wärme von meinem Auge über die Wange zu meinem Mund und Hals, meinen Unterarmen und wieder zurück zu meinem Auge wanderte. Ich biss die Zähne zusammen, um gegen den Schmerz meiner Verletzungen und die Schmerzen, die die Heilung mit sich brachte, anzukämpfen, und konzentrierte mich auf Anyans andere Hand. Sie umschlang meine Hüfte und zog mich fest an sich. Ich umfasste sie mit meiner eigenen Hand, denn ich brauchte seine tröstende Stärke, und er reagierte darauf, indem sich sein Griff von meiner Hüfte löste und seine große Hand stattdessen meine umschloss. Er zitterte.

»Es tut mir so leid, Jane«, flüsterte er, während seine heilenden Finger immer wieder über meine Wange strichen.

Ich schüttelte den Kopf. »Mein Fehler. Das nächste Mal ziehe ich besser Windeln an«, krächzte ich zwischen geschwollenen Lippen hervor. »Keine Pinkelpausen mehr. Versprochen. «

»Es wird kein ›nächstes Mal‹ geben«, erwiderte der Barghest grimmig. »Nie wieder. Du wirst Rockabill nicht mehr verlassen, bis ich wieder grünes Licht gebe.«

Womöglich hätte ich dagegen protestiert, wenn ich nicht angefangen hätte, Blut zu husten.

»Caleb!«, rief Anyan erneut und kümmerte sich nun verstärkt um meinen Oberkörper und die Seiten. »Jetzt beeil dich schon, verdammt nochmal.«

Gerade als meine Benommenheit überhandzunehmen drohte, spürte ich, wie sich ein zweites Paar Hände auf mich legte und Calebs starke Heilmagie durch meinen Körper strömte. Obwohl ich mir nicht sicher war, wie lange Conleth mich betäubt hatte, wusste ich doch, dass es Caleb eine ganze Weile gekostet haben musste, um wieder voll einsatzfähig zu sein, und die anderen, um mich überhaupt aufzuspüren.

Plötzlich war da auch Ryus Stimme, dann die von Julian und Camille. Alle riefen durcheinander, aber ich konnte den Grund dafür nicht erkennen, hauptsächlich weil Caleb es aufgegeben hatte, mich Schritt für Schritt zu heilen, und mich stattdessen mit seinem zotteligen Körper umfing und Welle um Welle seiner Heilmagie in mich pumpte.

Als Caleb sich schließlich von mir löste, begriff ich, warum so ein Tumult herrschte. Anyan stand zwischen einem lodernden Conleth und einer Wand von stinksauren Baobhan Siths. Camille, Julian und Ryu waren alle drauf und dran, sich auf den Ifrit zu stürzen, aber Anyan hielt sie zurück. Unterdessen schien Conleth sich nicht entscheiden zu können, ob er den Barghest irritiert anstarren oder Ryu hasserfüllt anfunkeln sollte.

Caleb war noch nicht fertig mit meiner Heilung, und seine Kräfte flogen noch immer zischend um meinen Körper, während ich Anyan beobachtete, der mit den anderen verhandelte. Ich hörte etwas davon, dass Con Jane gerettet habe. Der Barghest deutete auf die reglosen Häufchen, die Graeme und Fugwat nun waren. Als Julian zu dem Spriggan trat und ihn mit der Spitze seiner Vans anstieß, bemerkte er, dass ich wach war. Also kam er zu mir herüber, um mir einen Energiekick zu verpassen.

Als ich dort in Calebs heilenden Armen lag, während Julian anfing, mich aufzuladen, gab ich mich einen Augenblick dem Glauben hin, dass alles gut werden würde. Ich stellte mir vor, dass Conleth die Hilfe bekäme, die er brauchte, und malte mir aus, dass Graeme und Fugwat sich für die Morde an Edie und Felicia verantworten müssten. Vielleicht würden sie sogar Phädra verraten, und die wiederum würde sich dann gegen Jarl wenden. Das Gute würde siegen, und wir würden alle gemeinsam wohlbehalten in den Sonnenuntergang reiten.

Was vermutlich auch der Grund war, warum Phädra genau diesen Moment auswählte, um mit Kaya und Kaori im Schlepptau aufzutauchen.

Manchmal fühlte ich mich wirklich wie das personifizierte Murphy’sche Gesetz.

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Zuerst erschienen die Harpyien, deren Schwingen die Luft um uns herum aufwirbelten. Eine von ihnen kreischte, als sie Graeme am Boden liegen sah, stürzte an seine Seite, beugte sich über ihn und murmelte Koseworte. Kaya oder Kaori fing an zu weinen, als sie sein Gesicht sah, bevor wir spürten, dass sie all ihre Kräfte darauf verwandte, ihn zu heilen. Die andere Harpyie, Kaori oder Kaya, stupste den Spriggan mit ihrem graubraunen Flügel an, bevor sie ihre Heilenergie in den Fugwat fließen ließ.

Wir waren von den Harpyien so abgelenkt, insbesondere von der Tatsache, dass Graeme, der sadistische Vergewaltiger, eine Freundin hatte, dass wir Phädras Erscheinen zunächst gar nicht bemerkten. Mit Ausnahme von Conleth.

»Du!«, hörten wir ihn schreien und drehten uns erst zu ihm und dann in die Richtung, in die er zeigte.

Die kleine Alfar, in ihrer üblichen Ledermontur und mit Messern bewaffnet, trat aus dem Schatten.

»Ja, ich«, sagte sie trocken. Plötzlich erinnerte ich mich an etwas, das Con geflüstert hatte. »Die Frau und ihr Lieblingspsych o«, hatte er gesagt. Ich blickte von Phädra zu Graeme. »Ich habe dir ja gesagt, dass wir uns wiedersehen …«

Plötzlich ergab Cons Gerede Sinn.

Jetzt war mir alles klar.

Als wir die Krallenspuren an Dr. Silvers Beinen gesehen hatten, hatten wir schon befürchtet, dass Kaya und Kaori etwas mit seinem Tod zu tun haben könnten, aber ihr Motiv war uns unklar gewesen. Oder das Motiv ihrer Herrin, Phädra, oder deren Herrn, Jarl. Aber jetzt wusste ich es.

»Sie hat die ganze Zeit dahintergesteckt«, flüsterte ich. Diesen Verdacht hatte ich ja schon seit einer Weile gehegt, aber jetzt war alles kristallklar, zumindest für mich. Jarl war der geheime Geldgeber; Phädra hätte nicht die Ressourcen dazu gehabt. Als Con entkam, löschten sie und ihr Team alle aus, die von Jarls Verstrickung in diese Laboratorien gewusst haben könnten. Und sie verbrannten die Leichen, damit es so aussah, als stecke Conleth dahinter.

Sie hatte auch die ganze Zeit über gewusst, wo Conleth sich befand. Schließlich muss sie es gewesen sein, die ihm die Nachricht über Felicia geschickt hatte. Donovan musste Felicia gewarnt haben, genauso wie sie dann Silver und ihren Freund. Donovan musste Felicia auch geraten haben, unterzutauchen. Und Phädra benutzte Con, wie sie ihn die ganze Zeit über benutzt hatte: um ihre eigenen Verbrechen zu verschleiern.

Was bedeutete, dass Phädra zu jeder Zeit die Morde des Ifrits hätte stoppen können, es aber nicht getan hatte. Sie brauchte ihn da draußen als mordenden Sündenbock. Felicia unterdessen sollte die Verbindung darstellen, die Conleth mit den Morden in Chicago in Zusammenhang brachte, obwohl er gar nichts damit zu tun hatte …

Dann fasste mein hektisch arbeitendes Gehirn einen weiteren flüchtigen Gedanken.

Wenn Phädra Conleths Schlupfloch in Southie kannte, wusste sie dann auch von diesem Ort hier?

Denn es war eine Sache, wenn sie Anyan und Ryu gefolgt war, als sie Conleths und meine Fährte hierher verfolgten. Und eine völlig andere, wenn Phädra die ganze Zeit über von dieser Lagerhalle gewusst hatte.

Das könnte eine Falle sein, wurde mir schlagartig klar, und das Blut gefror mir in den Adern.

Doch meine alarmierenden Gedanken wurden jäh unterbrochen, als die anderen auf Phädras Auftauchen reagierten. Caleb legte die Arme beschützend fester um mich und zog mich in den Hintergrund. Julian, Camille und Ryu verteilten sich und behielten die Alfar argwöhnisch im Auge. Anyan trat vor, und seine Kraft entlud sich in einer schonungslosen Druckwelle.

Ich war so damit beschäftigt, Conleths Reaktion auf Phädra zu beobachten, dass ich gar nicht gemerkt hatte, dass Ryu sich an meine Seite gestellt hatte.

»Jane, bist du okay?«, flüsterte er und nahm mich dem Satyr ab. Ich spürte, dass Caleb seine Kräfte für den Angriff sammelte.

»Bist du denn okay? Ich habe mir solche Sorgen gemacht …«

»Bei mir ist alles in Ordnung«, murmelte er, beugte sich zu mir und übersäte mein Gesicht mit Küssen. »Was hat Conleth mit dir gemacht?«

»Nicht Conleth. Graeme.«

»Oh Gott, was hat er getan?«

»Mich geschlagen. Conleth hat mich gerettet.«

Ryu setzte an, um etwas anderes zu sagen, aber ich bedeutete ihm zu schweigen. »Hör zu, Con kennt Phädra.«

»Das ist unmöglich…«, sagte Ryu, als Conleth losschrie: »Phädra, du Miststück!«

Ich zog triumphierend meine wieder geheilte Augenbraue hoch und sah Ryu an.

»Was zum…?« Ryu verstummte, als wir alle herumfuhren und das Spektakel betrachteten.

Phädra und der Ifrit-Halbling umkreisten sich. Cons Feuerkräfte loderten in brutalen Wellen auf, die die meisten Wesen schon außer Gefecht gesetzt hätten. Aber vom Schild der Alfar prallten sie einfach ab, ohne Spuren zu hinterlassen.

»Du hast mich angelogen, du Miststück! Du hast gesagt, ›meine Leute‹ würden kommen und mich holen. Du hast mir von deiner Welt erzählt. Du hast mir Hoffnung gemacht, und dann hast du mich in diesem Labor verrotten lassen, mit diesem Monster hier!«

Die kleine Alfar machte große Augen. »Ich habe dir nichts versprochen, Halbling. Ich habe dir bloß die Wahrheit über deine Abstammung verraten. Wenn du das falsch interpretiert hast, dann ist das nicht mein Fehler.«

Conleths Kräfte flackerten noch heftiger auf, sein Feuer brannte nun so heiß, dass sich die Flammen blau färbten.

»Du gottverdammtes Miststück, hör auf zu lügen! Du hast mir Hoffnung gemacht!«, schrie er und feuerte eine Flammenkugel auf Phädra ab. Sie prallte vom Schild der Alfar ab, flog nach links und riss Graemes Harpyienfreundin beinahe das Ohr ab, die den fiesen Elben noch immer in ihrem Schoß wiegte und ihm süße Worte in sein zerstörtes Gesicht säuselte. Sie blickte überrascht auf und wandte sich dann wieder ihrem geliebten Perversling zu. Und ich hatte gedacht, Linda Allen hätte ein Problem. Phädra schlug mit einer Welle ihrer Alfar-Kräfte zurück, die Conleths Schilde mit voller Wucht trafen. Er taumelte unter der Kraft des Aufpralls, aber seine Abwehr hielt stand.

So attackierten sie sich eine Weile gegenseitig. Um uns vor dem magischen Schlagabtausch zu schützen, hatten die anderen sich dort versammelt, wo Ryu und ich standen, und ließen ihre Kräfte in Anyans Schild fließen, da er der Stärkste von uns allen war.

»Wir müssen ihm helfen, Anyan«, rief ich, als Conleth in einem besonders heftigen Sperrfeuer von Phädra beinahe in die Knie ging. Entweder konnte mich der Barghest über das ganze Getöse hinweg nicht hören, oder er ignorierte mich. Er war damit beschäftigt, unsere vereinten Kräfte auf seine Schilde zu verteilen, während dröhnende Energiewellen wie Comicgeräusche von Cons und Phädras gegenseitigen Attacken aufeinander ausgingen.

»Ryu, bitte«, rief ich, »er hat mich gerettet! Hilf ihm!«

Ryu starrte mich an, als sei ich verrückt geworden. »Jane, das ist Conleth! Er ist ein Monster.«

»Vielleicht, aber er hatte nie eine Chance! Wir können ihm eine geben. Das wahre Monster ist Phädra…« Mein Flehen wurde von einem Container hinter uns unterbrochen, der direkt auf uns herabzustürzen drohte. Er landete mit einem markerschütternden Krachen genau in dem Moment, in dem Ryu uns aus dem Weg und in Sicherheit gerissen hatte.

Der herabstürzende Container verschaffte Phädra ihre Gelegenheit. Conleth, der kurz von dem Lärm des aufprallenden Stahls abgelenkt wurde, verlor für den Bruchteil einer Sekunde die volle Kontrolle über die Situation. Da sie nicht auf den Kopf gefallen war, hatte sie schon die ganze Zeit auf einen solchen Moment spekuliert. In dem Augenblick, als sein Schild leicht nachgab, traf sie ihn mit der vollen Wucht zweier gleichzeitig ausgeführter Stöße aus purer Alfar-Elementarkraft. Die kombinierten Elemente trafen ihn mitten an der Brust, und er sank auf die Knie. Er starrte auf die qualmenden Überreste seines Oberkörpers und dann zu mir und Ryu hinüber, der mich festhielt. Conleth hob flehend die Hand, und ich versuchte mich loszureißen, aber Ryus Arme legten sich wie ein Schraubstock um meine Taille.

Phädra trat auf den Ifrit-Halbling zu und zog an einem der Messergriffe, die an ihrer Schulter aufblitzten. Plötzlich hatte sie eine Machete in der Hand, deren kalte, tödliche Stahlklinge im schwachen Schein einiger vergessener Magielichter schimmerte. Ich schrie auf und kämpfte gegen Ryus eisernen Griff an. Da stieß auch Anyan einen Schrei aus, aber bevor der Barghest die kleine Alfar stoppen konnte, erhob sie die glänzende Klinge und ließ sie auf Conleths Hals nierdersausen. Ein entsetzlicher Schlag, und schon hielt sie seinen Kopf in ihren Händen. Übelkeit stieg in mir auf, und ich brach in Ryus Armen zusammen.

Die Alfar betrachtete nüchtern ihre Trophäe, bevor sie Cons Kopf einfach neben seinen noch zuckenden Körper fallen ließ.

»Kaya, Kaori, fort«, befahl sie und trat auf uns zu. Die Harpyie, die den Spriggan geheilt hatte, klemmte ihn sich fest unter den Flügel und erhob sich zusammen mit ihrer kostbaren Last unter enormer Kraftanstrengung in die Luft und flog aus der Lagerhalle, indem sie durch ein Oberlicht brach. Die andere Harpyie tat es ihr mit Graeme unterm Flügel gleich. Dann schwebten sie über dem Dach, und wir spürten, wie ihre Kräfte immer stärker wurden.

»Auch wenn es sehr kurzweilig war mit euch, fürchte ich, ist unsere gemeinsame Zeit nun vorüber. Der Junge ist tot, und mit ihm seine Geheimnisse. Nur dass ihr nun auch zum Problem geworden seid. Ihr wisst zu viel, also fürchte ich, müsst ihr eurem Halblingsfreund in die Versenkung folgen.«

Phädras winziger Mund verzog sich zu einem heimtückischen Lächeln, als sie ihre Falle zuschnappen ließ. Indem sie die Elementarkraft der Harpyien, die Luft, als Katalysator verwendete, entfachte sie ihre eigene Imitation von Conleths Feuer. Gleichzeitig fesselte sie uns in ein enges Netz aus Alfar-Kraft, das uns in der Mitte des Raums zusammendrückte und eine Flucht unmöglich machte. Mit jedem Flügelschlag der Harpyien über uns loderten die Flammen höher auf, bis sogar die Metallcontainer Feuer fingen.

Phädra hielt inne, und ich spürte, wie sich ihre Alfar-Kräfte verlagerten, während sie ihr Netz festzurrte. Wir saßen fest, keuchend im Strudel ihrer Energien, während ihr künstliches Inferno immer näher rückte. Dann machte sie sich aus dem Staub, bevor auch sie in ihrer eigenen Falle festsaß.

Alle um mich herum versuchten die Flammen zu tilgen, doch ihre Bemühungen schienen die Alfar-Falle nur noch enger zuschnappen zu lassen. Ich versuchte, niemandem im Weg zu sein, aber meine Augen tränten, und ich hustete wie verrückt.

Doch durch meine zunehmende Panik und das Netz der Alfar hindurch rief mich der Atlantik. Wasser, Wasser überall und kein Tropfen zu trinken, ratterte es wenig hilfreich in meinem Kopf. Meereswasserpartikel hingen in der Luft, Feuchtigkeitströpfchen, die mich wie über ein unsichtbares Perlenband mit dem Wasser direkt unter unseren Füßen verbanden. Der Ozean würde natürlich mit dem Feuer fertigwerden. Ich hatte Phädras Netz bereits mit meinen ernsthaft geschwächten Kräften untersucht, und ich hatte das Gefühl, verstanden zu haben, wie es gestrickt war. Ich wusste, dass ich es zerreißen könnte, wenn ich nur die nötigen Kraftreserven dazu hätte.

Ich starrte auf den Boden und erinnerte mich an Conleth und die Elektrizität aus der Steckdose.

»Bring den Berg zum Propheten«, murmelte ich und schloss meine brennenden Augen. Ich konzentrierte mich und fing an zu ziehen.

Ich hatte bloß ein bisschen Energie übrig von Julians kurzem Versuch, mich aufzuladen, und einen Moment lang dachte ich, es würde nicht reichen. Als ich danach griff und nichts passierte, geriet ich fast in Panik. Aber ich riss mich zusammen und zog noch einmal mit aller Kraft. Diesmal war es genug, um den Kontakt herzustellen. Ich nutzte die Neige meiner Kraft und rief mein Meer an, und zu meiner Überraschung antwortete es mit der Leidenschaft eines lang verloren geglaubten Geliebten.

Keiner der anderen wusste, was ich da tat; sie waren so beschäftigt damit, die Flammen zu bekämpfen. Sie hörten nicht, wie der Ozean innehielt, als würde er tief durchatmen. Sie hörten nicht das saugende Geräusch der zurückgehenden, sich sammelnden Wellen. Aber sie merkten, was dann passierte, als das Wasser rauschend zu allen Seiten der Lagerhalle durch die Fenster drang. Die Wellen brachen über uns herein und löschten Phädras Feuer. Und mit jedem Wassertropfen, der mich berührte, bahnte sich die Kraft des Atlantischen Ozeans ihren Weg in meinen Körper.

Wir waren noch immer in Phädras Netz gefangen, aber das Feuer war durch die Ströme von Wasser gelöscht worden, die durch die dünnen, durchgerosteten Wände der Lagerhalle brachen. Schließlich drang das Meer auch noch durch die Bodendielen, als künstliche Wellen sich direkt unter uns erhoben, um zu mir zu gelangen. Als das Wasser um meine Knöchel floss, fühlte ich mich von der Macht des Meeres belebt und verzehrt zugleich, und ich fing an zu begreifen, welchen Teufelspakt ich eingegangen war.

Denn das Meer nimmt immer genauso viel, wie es gibt, und ich hatte es gerade um einen Wahnsinnsgefallen gebeten.

Mittlerweile stand uns das Wasser bis zu den Knien, und die Kraft des Ozeans floss durch mich hindurch wie Elektrizität, mit solcher Wucht, dass es mich hochhob und ich mit ausgebreiteten Armen wie auf der berühmten Zeichnung von Michelangelo über den Köpfen meiner Freunde trieb. Ryu blinzelte erstaunt zu mir nach oben. Sein nasses Haar klebte an seinem Kopf wie eine dunkle Haube. Doch da wurde mein Körper von einer zunehmend schmerzhaften Woge der Energie erfasst. In diesem Moment wusste ich, wie es sich anfühlen musste, wenn eine Vierzig-Watt-Birne in die Fassung für eine Hundert-Watt-Birne geschraubt wurde. Ich würde dieses Netz zerstören, aber dabei würde mich der Ozean verzehren.

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich, versuchte den Schmerz zu unterdrücken, während ich die Kraft des Atlantiks auf eine bestimmte Verschlingung von Phädras Netz lenkte. Sie fühlte sich komplex und stabil an, aber letztendlich war sie auch nichts anderes als einer von Anyans Übungsknoten. Sie hatte eine Naht an der Verbindungsstelle, und wenn ich diese Naht lösen könnte, würden wir entkommen. Ich wusste zwar nicht, ob ich diese schlaue Idee überleben würde, aber mir war klar, dass meine einzige Chance darin bestand, den Job so schnell wie möglich zu erledigen.

Ich öffnete mich weiter, und der Ozean reagierte darauf, indem er noch mehr von seiner Kraft in mich fließen ließ. Der Zustrom war zu viel für mich, und der Schmerz wurde beinahe unerträglich. Es fühlte sich an, als würde sich die Energie so lange in mir ansammeln, bis ich platzen würde. Unterdessen, als wolle sie ihren Anspruch auf mich noch bekräftigen, hoben sich Ranken von Meerwasser und wanden sich um meine Hand- und Fußgelenke und um meine Taille. Das Wasser liebkoste mich zärtlich wie ein Geliebter, kroch unter mein T-Shirt, um sich zwischen meinen Brüsten hindurch bis zu meinem Hals zu schlängeln. Die Elementarkraft des Ozeans floss durch meine Wasserfesseln, und ich schrie auf, als ich an die Grenze dessen kam, was ich aushalten konnte.

Der Schmerz wurde einfach zu viel und machte es mir unmöglich, mich noch länger zu konzentrieren. Aber dann spürte ich, wie sich etwas Warmes, Festes und eindeutig nicht Wässriges um meine Knöchel legte. Ich blickte an mir hinunter und sah, dass Anyans Hand mich gepackt hatte und der Barghest seine eigenen Elementarkräfte aus Erde und Luft der Energie des Ozeans entgegensetzte. Er erdete mich und saugte die überschüssige Energie ab, die mich sonst zerissen hätte. Der Schmerz ließ nach, so dass sich mein Gehirn wieder auf Phädras Alfar-Netz konzentrieren konnte.

Das ist ja schon einmal ein Anfang, fuhr es mir erleichtert durch den Kopf, und ich stellte mir vor, wie ich die Nahtstelle des Netzes mit einer dünnen Nadel aus Kraft durchdringen würde. Als es mir gelungen war, weitete ich sie und spürte das Meer auf mein Rufen reagieren wie ein braves Schoßhündchen. Wasserenergie strömte durch mich hindurch, das meiste davon lenkte ich in die Nahtstelle des Netzes, und der Rest floss aus mir hinaus, durch den Barghest hindurch und verflüchtigte sich im Holzboden der Halle.

Schließlich war die Nahtstelle weit genug, dass wir uns hindurchzwängen konnten. Camille und Julian gingen zuerst, Ryu und Caleb als Nächste, und dann zog mich Anyan am Fußgelenk hinter sich her. Ich schwebte über dem großen Mann wie ein seltsamer Luftballon in Menschenform, der Wasserschlieren hinter sich herzog, während der Barghest mich in Sicherheit zog. Als wir frei waren, zerrte er mich unter großem Kraftaufwand an den Beinen herunter, bis unsere Gesichter auf einer Höhe waren. Dann wandte er wieder seinen Kraftmantel-Trick an, nur zehnmal stärker als beim letzten Mal. Wir wurden aneinandergedrückt wie siamesische Zwillinge, aber es schnitt mich auch völlig vom Zugriff des Ozeans ab.

Ohne die Kraft des Meeres sank ich in mich zusammen wie eine Stoffpuppe. Mein ganzer Körper schmerzte, und meine magischen »Nerven« – oder mit was auch immer ich die Elementarkraft aufnahm – brannten wie Feuer. Ich stöhnte jämmerlich, und Anyan reichte mich wortlos an Caleb weiter.

»… du warst vorhin doch ziemlich angeschlagen…«, murmelte ich, woraufhin der Satyr, der mich nun trug, grimmig lächelte. Er heilte mich im Gehen, für den Fall, dass Phädra uns irgendwo auflauerte.

»Es gab einen Heiler ganz in der Nähe für Daoud. Danach konnten wir gleich wieder bei der Suche nach dir helfen«, sagte Caleb. »Tapfere Jane«, brummte er noch, beugte sich zu mir hinunter und küsste mich flüchtig auf die Stirn. Es war wie der Kuss eines stolzen Vaters, und ich lief rot an.

Die Wände der Lagerhalle fingen bedrohlich zu knirschen an, und wir beschleunigten unsere Schritte, als das Gebäude regelrecht zu schwanken anfing. Das Meer, als sei es stinksauer darüber, dass es mich nicht als Belohnung erhalten hatte, wogte noch immer gegen die Wände und den Boden unter uns.

Ryu führte die Gruppe an und rief Camille und Julian Befehle zu, die daraufhin alle Arten von magischen Fühlern ausstreckten, um mögliche weitere Fallen aufzuspüren. Doch Phädra schien sich völlig auf ihr Netz verlassen zu haben. Oder sie war zu sehr damit beschäftigt, sich um ihre Verwundeten zu kümmern, denn es lagen keine weiteren Hindernisse zwischen uns und der Freiheit. Gerade als wir das Gebäude verlassen hatten, hörten wir ein schreckliches Grollen hinter uns und rannten schleunigst zu den Autos. Wir scharten uns um sie, wieder sicher auf festem Boden, und sahen zu, wie die gesamte Werft polternd im Meer versank.

Ich blickte mit großen Augen an die Stelle, wo soeben noch die riesige Lagerhalle gestanden hatte. Bis ich bemerkte, dass alle anderen mich ansahen. Alle außer Anyan, der sich auf die Motorhaube von Ryus Wagen gesetzt hatte und aufs Meer hinausblickte.

»Jane, wie hast du das bloß gemacht?«, fragte Ryu stirnrunzelnd.

»Weiß nicht«, erwiderte ich. Ich fühlte mich plötzlich ganz benommen. Ich begann vornüber zu kippen, aber Ryu fing mich auf und drückte mich fest an sich.

»Bring mich nach Hause«, murmelte ich.

»Natürlich«, sagte er und küsste mich. Dann hob er mich hoch und trug mich zum Beifahrersitz seines Wagens. Anyan saß nicht mehr auf der Motorhaube, und ich reckte den Hals, um nach ihm Ausschau zu halten. Aber von dem Barghest fehlte jede Spur.

Ich fühlte mich wie betäubt, leer und wie erschlagen. Ryu stieg ins Auto, und wir fuhren zurück in die Stadt. Über der Skyline brach gerade der Tag an. Als ich »nach Hause« gesagt hatte, hatte ich Rockabill gemeint. Obwohl ich mich im Moment mit jedem Ort zufriedengeben würde, solange er über ein Bett verfügte. Ich war völlig erschöpft, körperlich und mental, und doch fühlte ich mich, als wäre noch irgendetwas offen. Conleth war tot, aber durch seinen Tod war der Gerechtigkeit nicht zum Sieg verholfen worden. Stattdessen waren Phädra und ihre Bande noch immer auf freiem Fuß, trotz all der Grausamkeiten, die sie begangen hatten. Es fühlte sich an, als hätte sich alles geklärt und gleichzeitig gar nichts. Außerdem fühlte ich mich um zwanzig Jahre gealtert, seit ich am Logan Airport aus dem Flieger gestiegen war. Ich rollte mich in meinem Sitz zusammen, sah aus dem Fenster und versuchte, mich auf die Lichter der Stadt zu konzentrieren, die vor meinen müden Augen vorbeizogen. Aber die Erinnerung an Cons blasses Gesicht, als er die Hand hilfesuchend nach mir ausstreckte, überlagerte das geschäftige Treiben von Boston.

Also kniff ich die Augen zu und betete darum, zu vergessen. Doch vergeblich …

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Ryus gähnte, während ich mich an seiner Brust räkelte. Es Ryu gähnte, während ich mich an seiner Brust räkelte. Es war etwa fünf Uhr am folgenden Abend. Nach den Geschehnissen am Hafen war keiner von uns in der Verfassung gewesen, Phädra zu verfolgen. Wir fühlten uns alle wie erschlagen und brauchten dringend physische und magische Erholung.

Trotz meiner Erschöpfung hatte ich nur unruhig geschlafen und gab meine Versuche schließlich ganz auf, nachdem ich schreiend aus einem besonders schrecklichen Traum hochgeschreckt war, in dem Graeme die Hauptrolle spielte. Also verfrachtete ich meinen traumatisierten Hintern in Ryus Badezimmer, wo ich anschließend wohl fast die gesamten Warmwasservorräte der Stadt verbrauchte, bis mein Geliebter aus seiner Vampirstarre erwachte und sich zu mir gesellte. Daraufhin erfuhr ich, dass guter Sex mit jemandem, dem man vertraut, wohl das beste Mittel gegen gruselige Träume von Vergewaltigerelben war. Nicht dass ich hoffte, jemals wieder so ein Heilmitel zu brauchen …

»Du warst echt toll«, sagte Ryu an meinem Hals.

»Danke, aber eigentlich ist es Iris’ Verdienst. Sie ist diejenige, die mir verriet, dass der Trick darin besteht, zwei Finger und den großen Zeh dazu zu nehmen, außer man hat Gummiwürmer zur Hand oder Erdbeerstangen. Dann kann man nämlich gleich…«

»Jane!«, unterbrach Ryu mich lachend. »Ich meinte, dass du das gestern toll gemacht hast.«

Ich schnaubte verächtlich. »Ja, ganz toll.«

»Was?«

»Ryu, erst habe ich mich bei der Flucht vor Conleth völlig verausgabt, was zur Folge hatte, dass ich dann leichte Beute für Graeme war. Und dann hätte ich mich beim Channeling des Ozeans, oder was zur Hölle ich da gemacht habe, noch beinahe selbst erledigt. Ich kann froh sein, dass ich das überhaupt überlebt habe. Ohne Anyan wäre ich schon zehnmal tot.«

»Du warst diejenige, die uns gerettet hat, Jane«