24 Für immer
An dem Tag, an welchem Dr. Antonio in Deutschland eintreffen sollte, fuhr sie zu dem besagten Ort. Kurz nach ihrer Ankunft in dem großen Meditationszentrum, fand sie sich in einer Schlange mit anderen Menschen wieder, die langsam durch einen großen Meditationsraum in einen kleineren gingen, in welchem der Heiler mit ein paar anderen ausgezählten Personen saß. Die Räumlichkeiten waren zwar nicht so schön eingerichtet, wie jene in Guarinhia, aber sie erfüllten ihren Zweck.
Nadia wusste, dass die Liebe der Ewigkeit der Anfang, der Weg und das Ziel war.
Als sie vor den Heiler trat, nickte dieser, wohlwissend, wer vor ihm stand. Er bat sie darum, sich neben ihm niederzusetzen, ihre Augen zu schließen und sich zu konzentrieren.
Sobald sie ihre Augen geschlossen hatte, fühlte Nadia, wie sie von einer gewaltigen Kraft in den Stuhl gedrückt wurde. Ihr Körper war reglos. Einen Moment lang versuchte sie, ihre rechte Hand zu bewegen, um sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu wischen, doch dies war unmöglich: Ihre Hand war unbeweglich. Keine Minute später befand sie sich in einer Tiefentrance. Als sie nach der Sitzung wieder zu sich kam, fühlte sie sich sowohl erschöpft, als auch übermäßig wach - hellwach.
Am darauffolgenden Tag ging sie erneut zum Heiler. Dieses Mal bat er sie jedoch nicht darum, im gleichen Raum mit ihm zu bleiben. Sie sollte sich in den großen Raum setzen, in welchem etliche Personen meditierten. Also nahm sie dort Platz.
Nadia war enttäuscht. Sie war sich sicher gewesen über ihre Bestimmung, mit Dr. Antonio und den Geistern des Himmels eng zusammenarbeiten zu sollen.
Als sie zu dieser Veranstaltung in Deutschland losgefahren war, hatte sie sich so sehr ein Zeichen von ihm und den Geistern gewünscht, welches ihre Annahme bestätigen würde – irgendein Zeichen. Sie erhielt jedoch keines. Während sie nun in diesem Meditationssaal saß und sich ohnehin nicht aufs Meditieren konzentrieren konnte, fasste sie einen Entschluss: Sie würde aufhören, daran zu glauben, dass der Weg mit Dr. Antonio und den Geistern ihre Berufung war. Sie wandte sich in Gedanken an die Geister:
„Ich bin nur für euch hierher gekommen; ich bin 450 km gefahren. Und ihr ignoriert mich einfach. Nicht ein Zeichen von euch, dass ich zu euch gehöre. Nichts!“
Diese Gedanken brachten sie zum Weinen, doch sie hielt ihre Augen noch geschlossen.
„Ich dachte, ich gehöre zu euch. Ich habe es so stark gefühlt. Ganz ehrlich, wenn jetzt nicht noch irgendetwas passiert, seht ihr mich nie wieder. Und ich werde versuchen, das alles zu vergessen.“
Ihre Trauer war grenzenlos. Da sie die Nase gestrichen voll hatte, beschloss sie, die Veranstaltung ohne langes Zögern zu verlassen.
Sie öffnete ihre Augen, stand auf und wollte auf demselben Weg, auf dem sie in den Raum hineingekommen war, wieder hinausgehen. Da wurde sie von Bea, einer Helferin Dr. Antonios, aufgehalten.
Bea: „Wo möchtest du hin?“
Nadia: „Ich verlasse die Meditation.“ Sie wollte so schnell wie möglich da raus und jetzt wurde dieser Plan von Bea durchkreuzt.
Bea: „Du kannst nicht auf diesem Weg nach draußen gehen. Das stört den Energiefluss. Bitte stell‘ dich hier in die Schlange und geh‘ an Dr. Antonio vorbei“, sagte sie und wies Nadia in die Reihe der Menschen, die anstanden, um vor den Heiler zu treten.
Nadia wunderte sich. Sie wollte das Event doch einfach nur so schnell wie möglich verlassen. Und nun das, sie sollte ein zweites Mal in ein und derselben Sitzung zum Heiler gehen. Das war unüblich.
Als sie zwei Minuten später im Raum Dr. Antonios angelangt war, spürte sie, wie eine enorm starke Energie durch ihren Körper floss.
Als sie dann zwei Meter vor ihm stand, lächelte er sie mit großen, blauen, tränenunterlaufenen und verständnisvollen Augen an. Mit den folgenden Worten reichte er ihr seine Hand:
„Meine Tochter, bitte bleib‘ hier. Setz‘ dich hier hin und konzentrier‘ dich. Und bitte, komm‘, wenn etwas Zeit verstrichen ist, zurück nach Brasilien, um deine Lebensaufgabe zu erfüllen. Es wird Zeit für dich, heimzukehren.“
Diese Nachricht zu erhalten, kurz nachdem sie beschlossen hatte, diesen Pfad zu verlassen, war nahezu unglaublich.
Vollkommen gerührt und glücklich setzte sie sich. Bevor sie ihre Augen schloss, erhaschte sie noch, wer auf dem Stuhl neben ihr saß – Miguel! Er war total in die Meditation versunken. Ihr Herz stolperte förmlich bei all diesen plötzlichen Wendungen.
Der Heiler hatte sie nicht nur mit „meine Tochter“ angesprochen, nein, nun saß sie neben dem Mann, in den sie sich damals schon verguckt hatte, im Flieger nach Brasilien.
Nach einer Weile bat Dr. Antonio alle in diesem Raum Anwesenden, ihre Augen zu öffnen. Dies hatte er noch nie gemacht.
„Ich habe euch etwas Wichtiges zu sagen“, tönte es würdevoll und bedeutsam aus seinem Mund.
Als Nadia ihre Augen öffnete, blickte sie erneut in diese unglaublich gefühlvollen, blauen Augen. Dr. Antonio schaute sie direkt an, als er mit seinen Ausführungen begann:
„Die großen Katastrophen, vor denen sich die Menschheit fürchtet, werden die Welt nicht in dem Ausmaß heimsuchen, wie es von allen Seiten vorausgesagt wird. Und die Dunkelheit wird nicht drei Tage anhalten, sondern lediglich acht Stunden.“ Seine Stimme schien ganz und gar nicht von dieser Welt zu sein. Es handelte sich nicht um seine eigene Stimme. Ein Geist hatte seinen Körper übernommen und sich an die Versammelten gewandt:
„Wir hier in der geistigen Welt haben eine ganz andere Zeitrechnung. Das Schlimmste ist schon fast vorüber. Die Katastrophen, die sich auf der Erde ereignen sollten, wurden auf der geistigen Ebene abgewendet.“
Nadia fühlte, dass diese Aussage der Wahrheit entsprach. Sie erkannte die tiefe Bedeutung dieser Botschaft.
Die Stimme wandte sich nun ganz speziell an die im Raum Anwesenden: „Ihr könnt alle da bleiben, wo ihr lebt. Ihr müsst nicht auf einen anderen Flecken dieser Erde flüchten. Jeder und jede einzelne in diesem Raum ist in Sicherheit.“
Nadia freute sich über diese Botschaft und lächelte. Sie drehte ihren Kopf nach links zu Miguel. Dieser hatte sich ihr ebenso zugewandt und strahlte bis über beide Ohren. Diese Nachricht war einfach wunderbar.
Die Endzeitankündigungen, die auf Prophezeiungen eines Urvolkes basierten, und viele Menschen in Angst und Schrecken versetzt hatten, waren vermutlich also nicht mehr aktuell und somit harmlos.
Als die Meditation vorüber war, standen Miguel und Nadia sofort auf und schlossen sich in die Arme - ganz so, wie damals in Guarinhia, als Nadia beim Wasserfall vom Blitz getroffen worden war. Nadia konnte die Blicke Dr. Antonios spüren, der die zwei ganz genau beobachtete.
Die Umarmung zwischen Nadia und Miguel war eine Umarmung der Ewigkeit – grenzenlos und unendlich. Ohne ein Wort gingen sie danach auseinander. „Miguel, auch wenn wir uns nie wiedersehen, war es schön, diesen Moment mit dir geteilt zu haben“, dachte sie, als sie die Veranstaltungshalle verließ.
Damals in Brasilien hatte sie sich zerrissen gefühlt, zwischen der Liebe der Ewigkeit und der Liebe zu zwei Männern. Ihre Gefühle für die beiden hatten nicht auf wirklicher Liebe basiert - weder für Romeo noch für Miguel. Sie war damals gefangen gewesen in der weltlichen Definition von Liebe: romantische Liebe.
Sie war jetzt weiser, wissend, dass es so etwas wie romantische Liebe gar nicht gibt. Die sogenannte romantische Liebe ist nur ein Teil der Illusion, in der wir uns befinden. Die einzig existierende Liebe ist die ewige, welche du für jeden Menschen, jedes Tier und jede Pflanze spüren kannst. Sie ist dieses zarte Kribbeln in deinem Herzen und hat nichts mit Aufregung und Gefühlswallungen jeglicher Art zu tun.
Alles außer der wahren, ewigen Liebe ist nicht mehr, als besitzergreifendes Verhalten und körperliche Anziehung auf Zeit. Das war genau das, was Dr. Antonio ihr vor zwei Jahren hatte erklären wollen. Erst jetzt hatte sie seine Botschaft von Grund auf und ohne jeglichen Zweifel verstanden.
Diese Tatsache ganz und gar zu verinnerlichen kann sehr schwierig sein, wenn man sich in einem menschlichen Körper befindet; jedoch, einmal verstanden, wird sie zu einem süßen Geschenk.
Zwei Wochen nach Dr. Antonios Deutschlandbesuch, machte sich Nadia auf den Weg zum Flughafen. Sie wollte ihrer Berufung folgen und nach Brasilien zurückfliegen.
Ihre Eltern waren nicht glücklich über ihre Entscheidung. Erneut kam die Angst über sie, ihr geliebtes Kind zu verlieren. Andererseits waren sie aber auch sehr verständnisvoll. Nadia hatte ihnen erklärt, dass sie ihrem Ruf folgen wollte und musste. Wenigstens beruhigte sie die Tatsache ein wenig, dass sich dieser Künstler, welcher ihre Tochter beinahe umgebracht hätte, nicht mehr in Guarinhia aufhielt.
Dies war Nadia während der Meditation in Deutschland von einem Helfer Dr. Antonios zugeflüstert worden. Romeo hatte eine andere Frau geschwängert und Brasilien mit ihr verlassen.
Der Abschied fiel Nadia und ihren Eltern sehr schwer. Viele Tränen flossen. Sie wusste, wie bitter es für ihre Eltern war, sie ziehen zu lassen und sie wollte sie nicht traurig machen; ihr Herz tat weh, aber sie musste gehen.
Vor dem Check-In Schalter am Flughafen, traf sie Miguel. Zufall? Sie hatte ihm gegenüber kein Wort über ihre Reisepläne verloren. Miguel war auch vom Heiler gebeten worden, nach Guarinhia zurückzukehren.
Sie saßen im Flugzeug nebeneinander. Sie hatten nicht die geringste Idee, was das Leben mit ihnen vorhatte, aber beide fühlten sich sehr behaglich so nah beieinander.
Nadia war inspiriert, die Schlüsse, die sie aus den vergangenen Jahren gezogen hatte, in ihrem Notizbuch niederzuschreiben:
Die Spiele der Welt sind dafür geschaffen, erkannt und beendet zu werden -
Liebe zwischen zwei Personen ist unbeständig. Mal süß, mal bitter, aber sicherlich nie für immer –
Unsere Körper sind unbeständig - Das Dasein in einem Körper vermittelt uns oft das Gefühl, völlig alleine zu sein - Die Flucht in die Arme eines anderen liegt nahe. Doch das wohlig warme Gefühl hält nur für eine bestimmte Zeit an -
Vielleicht ist die Hingabe unseres Daseins an Gott das einzige, was uns wahres und dauerhaftes Glück bescheren kann -
Wir alle kommen aus dem Einen. Wir sind alle eins; nicht zwei, drei oder Milliarden, nur eins - Man könnte sagen, wir alle sind Brüder und Schwestern, doch dies trifft den Nagel nicht auf den Kopf - Wir alle sind das, der, oder die Eine. Du bist ich. Ich bin du –Daher führen Spiele und derartige Aktivitäten zu nichts –
Ich hatte einen Traum von der Illusion Nadia, bis ich erkannte, wer Ich bin und wer Du bist –
Spielt eure Spiele. Spielt sie solange ihr wollt. Letztendlich werden wir alle erkennen, dass jegliches Spiel nichts als Unterhaltung ist - umsonst.
Nadia hörte auf zu schreiben und driftete sofort, als sie den Stift aus der Hand gelegt hatte, hinüber ins Land der Träume.
In jenem Traum betrat sie ein Krankenhauszimmer. Es war das Zimmer ihres im Sterben liegenden Freundes Florian, der das sogenannte weltliche Leben bereits vor Jahren verlassen hatte. Es war ein Einzelzimmer. Das Bett befand sich zu ihrer Linken. Ein Besucherstuhl stand an der rechten Wand. Er war leer. Florian saß auf dem Bett. Seine ausgezehrten, weißen Beinchen blitzten unter dem Krankenhaushemd hervor. Nadia konnte sein Gesicht nicht sehen, da eine Krankenschwester vor seinem Bett stand, die gerade dabei war, ihm Medikamente zu verabreichen. Ohne sie zu sehen, fragte Florian Nadia: „Wann kommst du endlich zu mir, Nadia?“
Die Krankenschwester, die sie im Traum nicht genauer erkennen konnte, wich zur Seite.
Nadia und Florian umarmten sich ganz fest.
Sie fingen gleichzeitig an, bitterlich zu weinen. Nadia schloss ihre Augen und wurde blitzschnell in einen schwarzen Tunnel gezogen. Ihr Körper schien sich aufzulösen, zu verschwinden. Sie leistete keinen Widerstand. Am Ende der sie umgebenden Dunkelheit sah sie aus einiger Entfernung ein kleines, extrem helles Licht. In Hochgeschwindigkeit flog sie auf dieses zu.
Dann fand sie sich abrupt im selben Krankenhauszimmer wieder. Anstelle von Florian lag nun jedoch eine junge Frau, in etwa in ihrem Alter, in dem Bett. Diese Frau hatte, so wie Nadia, kurze Haare, welche allerdings braun waren.
Nadias Mutter saß jetzt auf dem zuvor leeren Besucherstuhl. Sie war gerade dabei, aufzustehen, als sie in das Zimmer zurückkam.
Nadia stand direkt vor ihr und sprach sie an: „Hi Mutti“, aber ihre Mutter konnte sie nicht hören. Nadia begriff recht schnell, dass sie nicht einmal in der Lage war, sie zu sehen. Sie war geschockt. Diese Einsicht zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Die unbekannte junge Frau, welche im Bett lag, erklärte ihr:
„Von nun an kann sie dich nicht mehr hören und sehen.“
Nadias Herz wurde erfüllt von unendlicher Traurigkeit.
Dieser Traum war so intensiv, dass sie nichts von den Turbulenzen mitbekam, in welchen sich das Flugzeug gerade befand. Miguel war überrascht über ihren guten Schlaf. Das Flugzeug wackelte wie verrückt hin und her. Er selbst wäre unter diesen Umständen sofort aufgewacht, dachte er. Da er annahm, die Probleme seien bald vorüber, wollte er sie nicht unnötig aus dem Schlaf reißen und verängstigen.
Als er sie so schlafen sah, verspürte er ein unheimlich starkes Gefühl von Liebe. Er erkannte, dass sie „die Eine“ war, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Er hatte kurz das Bild von gemeinsamen Kindern und einem schönen Leben mit ihr vor Augen. Der Gedanke daran stimmte ihn glücklich.
Ganz plötzlich fühlte er, wie die Maschine an Höhe verlor. Die Elektronik fiel aus, die Fernsehbildschirme wurden schwarz, und das Licht in der Kabine erlosch…
- Ende -
…sei vorsichtig, worum du bittest…es könnte wahr werden…
Fortsetzung folgt…
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