21 Am Limit
Romeo konnte im Dorf seiner Schwester mit seinen Bildern nicht genug Geld verdienen, weshalb er Nadia darum bat, mit ihm für eine Weile nach Brasilia zu gehen.
„Die Leute in Brasilia können es sich leisten, etwas Geld für Kunst auszugeben. Hier jedoch haben sie nicht einmal genug zum Essen“, versuchte er, Nadia seine Gründe darzulegen.
Sie fühlte sich so überhaupt nicht danach, Zeit in Brasilia zu verbringen; viel lieber wäre sie nach Guarinhia zurückgekehrt. Ohne dies zu erwähnen willigte sie ein, da allein die Vorstellung, wieder von ihm getrennt zu sein, unerträglich für sie war.
Das Hotel, in dem sie abstiegen, lag in einer sehr gefährlichen Gegend Brasilias. Tagein, tagaus nahm er sie nachmittags oder abends mit in ein Restaurant, in welchem er für die Gäste Zeichnungen anfertigte.
Er wusste sehr wohl, wie attraktiv er war, und er liebte es, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, besonders wenn schöne Frauen anwesend waren. Wann immer eine dieser Schönheiten ein Gemälde von ihm wünschte, fing er an, auf Teufel komm raus zu flirten. Mit einem Augenzwinkern ließ er den Frauen stets seine Telefonnummer und Emailadresse zukommen: „Nur für den Fall, dass du noch ein weiteres Kunstwerk haben möchtest.“
Nadia konnte diese beschämenden und verletzenden Situationen kaum ertragen. Ihre Gefühle schienen ihm wirklich total egal zu sein.
Eines Nachts verhielt er sich merkwürdig. Zuvor hatte sie bis zum Beenden seiner Arbeit nie von seiner Seite weichen sollen. Nicht so in dieser Nacht.
„Mein Schatz, ich weiß, du bist müde. Lass‘ mich dich zum Hotel bringen. Du brauchst nicht so lange wach zu bleiben“, sagte er gekonnt besorgt.
Nadia waren die Blicke, die er mit einer blonden Brasilianerin, ausgetauscht hatte, nicht entgangen. Diese Dame hatte nichts als ein Top und ein sehr kurzes Jeanshöschen an. Nadia war klar, auf was er es abgesehen hatte, als er vorschlug, sie vor lauter Besorgnis ins Hotel zu bringen. Sie weigerte sich, ohne ihn schlafen zu gehen, doch er bestand darauf.
„Mein Liebling, ich kann nicht ordentlich arbeiten, wo ich doch weiß, dass du so müde bist“, versuchte er ihr zu erklären.
„Ich bin gar nicht so müde“, antwortete sie.
„Jetzt mal ganz ehrlich, ich weiß, dass du nichts von meiner Arbeit hältst. Ich muss etwas Geld verdienen. Ich brauche gute Energie um mich herum, um schön malen zu können“, sagte er nun vorwurfsvoll. Er wollte sie dazu bringen, nachzugeben, was sie letztlich auch resignierend tat.
Er brachte sie zum Hotel, fuhr zurück zur „Arbeit“, und kam drei Stunden später wieder.
Klopf, klopf.
Schlaftrunken öffnete sie die Tür. Er hielt eine Rose in der Hand – eine weiße. Nadia war schockiert, als sie ihn mit dieser Blume sah. Einst hatte sie gehört, dass eine weiße Rose ein Symbol für den Tod war.
„Ich habe dich vermisst, mein Schatz“, bekundete er. Er sah aus wie ein Junkie, der sich soeben einen Schuss gesetzt hatte. Sie konnte von seinen Augen ablesen, was er mit dieser Frau angestellt hatte. Ihr fehlten die Worte. Sie hatte endgültig genug von ihm - keine Lust mehr, mit ihm zu streiten, keine Lust mehr, seinen Lügen Glauben zu schenken. Sie ging zurück ins Bett und bat ihn darum, das Licht auszuschalten.
Romeo gefiel dieses abweisende Verhalten ganz und gar nicht. Er näherte sich ihr und küsste sie auf die Wange.
„Lass‘ das sein!“
„Was ist jetzt schon wieder los? Bist du sauer, weil ich arbeiten muss?“
„Nein, lass‘ uns einfach schlafen.“ Was er abgezogen hatte, war weitaus mehr, als sie aushalten konnte und wollte.
„Komm‘ schon, ich hab‘ dich vermisst.“ Er riss die Bettdecke von ihrem Körper.
Sie holte sich diese wütend zurück: „Ich will jetzt schlafen!“
Romeo konnte es nicht ertragen, so von einer Frau behandelt zu werden, und schon gar nicht von seiner eigenen. Da er Nadia als sein Eigentum betrachtete, wurde er aggressiv, riss die Bettdecke erneut weg und warf sich mit seinem ganzen Körper auf sie. Sie wehrte sich mit Haut und Haaren:
„Du hast es wirklich mit diesem Flittchen gemacht. Du bist widerlich. Lass‘ mich allein.“
„Ich lass‘ dich nicht allein. Du bist meine große Liebe.“
Er stellte ein weiteres Mal unter Beweis, wie viel stärker er war und riss ihr den Slip vom Leib. Sie versuchte, sich zu verteidigen, da sie wirklich angewidert war und niemals wieder mit ihm verkehren wollte. Aber sie war nicht stark genug. Romeo vergewaltigte sie. Zunächst tat es sehr weh. Dann wurde ihr Körper steif wie ein Stein. Als er sein Geschäft erledigt hatte, weinte sie sich mit leisen Tränen in den Schlaf.
In dieser Nacht träumte sie wieder: In dem Traum lag sie auf ihrer linken Seite in dem Bett, in dem dieser Albtraum stattgefunden hatte. Romeo lag hinter ihr und umarmte sie. Beide waren wach in dieser Traumsequenz. Sie fühlte seinen Atem in ihrem Nacken. Es war ein kalter Atem. Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen, dass Romeo der Teufel in Person war. Sie wollte entkommen, aber sie konnte sich nicht rühren. Sie wollte nach Hilfe schreien, doch sie brachte keinen Ton heraus. Zu Tode geängstigt, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Dann, auf einmal, hörte sie sich schreien:
„Lass‘ mich in Ruhe, Dämon!“
Sie konnte sich losreißen und rannte zur Tür. In diesem Moment wachte sie aus ihrem Traum auf und war dabei, tatsächlich gegen die Tür des Hotelzimmers zu rennen. Sie schien offen zu sein, aber das war nicht der Fall. Mit voller Wucht knallte sie mit ihrem Kopf gegen die Tür. Romeo wachte nun auch auf.
„Was machst du, Schätzchen? Warum machst du so einen Lärm?“
„Tut mir Leid, ich muss einen Albtraum gehabt haben.“ Jetzt wusste sie, wer er wirklich war. Ihr war klar, dass sie vorsichtig sein musste. Am nächsten Tag würde sie ihm entkommen. Dies versprach sie sich selbst. Mit starkem Herzklopfen legte sie sich wieder ins Bett. Ihre Augen konnte sie nicht mehr schließen. Die Nacht schien eine halbe Ewigkeit zu dauern.
Sobald die Sonne am nächsten Morgen ins Zimmer blinzelte, stand sie auf und ging duschen. Als sie zurück ins Zimmer kam, war Romeo bereits wach.
„Mein Schatz, was war gestern nur los mit dir? Du hast mich so in Rage gebracht, dass ich dich wirklich töten wollte. Mach‘ das nie wieder“, drohte er ihr, während er mit einem Dolch spielte, den er aus seiner Tasche genommen hatte.
Ihr wurde klar, dass dies der Dolch war, der ihm angeblich in Guarinhia gestohlen worden war. Die Geschichte, die sie unter anderem am Anfang ihrer Beziehung dazu bewegt hatte, mit Romeo von Guarinhia abzuhauen, war also auch eine Lüge gewesen. Weder Dr. Antonio noch seine Komplizen hatten ihm den Dolch geklaut, um sie umzubringen und es Romeo in die Schuhe zu schieben. Lügen, Lügen, nichts als Lügen. Er hatte ihr die ganze Zeit über so viele Lügen aufgetischt, dass es ihr eigentlich hätte schwindelig werden müssen. Sie sprach ihre Gedanken nicht aus. Sie war vorsichtig geworden, denn sie hatte die Gefahr realisiert, in der sie sich befand.
„Entschuldige bitte, ich verhalte mich nie wieder so. Ich war dumm.“ Nadia stand Romeo in Sachen Schauspielkunst in nichts nach. Er glaubte ihren Worten.
Nach dem Frühstück ging sie ins Internetcafé auf der anderen Straßenseite, um mit ihrer Mutter zu telefonieren. Romeo wartete vor der Tür auf sie und schraubte an seinem Motorrad herum.
Nadia berichtete ihrer Mutter davon, was in der Nacht zuvor geschehen war. Ihre Mutter machte sich große Sorgen; sie wollte ihre Tochter nicht verlieren.
„Mein Kleines, ich habe letzte Nacht auch geträumt. Und du weißt ja, dass ich mich normalerweise nicht an meine Träume erinnern kann“, sagte ihre Mutter.
„Wovon hast du geträumt?“, fragte Nadia.
„Ich habe ein großes, abrissfälliges Haus gesehen, das schon drauf und dran war, auseinanderzufallen. Danach bin ich verängstigt aufgewacht.“
„Ich weiß, dass dieses Haus mich symbolisiert hat. Ich habe keine Ahnung, wie ich ihm entkommen kann. Was kann ich bloß tun?“, fragte Nadia hilflos.
„Das einzige, was mir dazu einfällt ist: Tisch‘ diesem Vergewaltiger eine Geschichte auf. Du könntest ihm vorgaukeln, jemand sei gestorben, und du musst den nächsten Flieger nach Deutschland nehmen, um bei der Beerdigung anwesend zu sein.“
„Gut, das kann ich versuchen.“
„Sei vorsichtig. Wenn du Angst hast, ins Hotelzimmer zurück zu gehen, um deinen Koffer zu holen, lass einfach alles da und setz‘ dich ins nächste Taxi. Geh‘ nirgendwo mehr alleine mit diesem Kerl hin. Ich hoffe, du bist nun endlich zur Besinnung gekommen. Dein Vater und ich haben uns die ganze Zeit über Sorgen um dich gemacht. Gestern hat er den Entschluss gefasst, nach Brasilien zu fliegen und dich dort abzuholen, wenn du selbst nicht langsam auf die Idee kommst. Wir machen uns Sorgen, dich zu verlieren.“
„Tut mir Leid, Mutti. Ich wollte euch nicht belasten. Ich werde machen, was du vorgeschlagen hast. Bis bald, ich liebe euch.“
„Wir lieben dich auch. Pass‘ auf dich auf.“
Nadia verließ das Internetcafé. Die Erinnerung an die vorige Nacht machte sie traurig. Sie brauchte also keine betrübte Mine aufzusetzen, um Romeo die Geschichte über den Tod einer nahestehenden Person glaubhaft rüberzubringen.
„Ich habe mit meiner Mutter telefoniert“, sagte sie zu Romeo.
„Was hat sie gesagt?“ Romeo war es im Grunde egal, was ihr ihre Mutter erzählt hatte. Er dachte jedoch, es wäre stets ratsam, über alles im Bilde zu sein, da er seine Mitmenschen auf diese Weise leichter kontrollieren und manipulieren konnte.
„Meine Uroma ist gestorben. Meine Mutter hat mich darum gebeten, den nächsten Flug nach Deutschland zu nehmen“, erklärte sie ihm sehr überzeugend.
„Was ist mit mir?“, fragte er sie nervös.
„Mach dir keine Sorgen, mein Schatz. Ich werde dir ein Ticket schicken“, flunkerte sie ihn an. Sie wusste genau, dass er es hierauf abgesehen hatte. Sie brachte die Nummer perfekt über die Bühne. Er zweifelte ihre Geschichte nicht einen Moment lang an.
„Bleib‘ hier, ich hole dir deinen Koffer.“ Romeo nahm an, näher denn je an der Erfüllung seiner Träume zu sein. Voller Vorfreude brachte er sie zum Flughafen.
„Endlich zahlt sich meine ganze harte Arbeit aus. All die Mühe, die ich in diese Beziehung gesteckt habe, war nicht umsonst“, triumphierte er innerlich.
Nadia wartete vor dem Hotel auf Romeo. Da lief auf einmal die blonde Frau, mit dem kurzen Jeanshöschen von letzter Nacht, an ihr vorbei und sprach Nadia an:
„Sei vorsichtig, du bist die Liebe pur. Manch einer könnte geneigt sein, aus deiner Freundlichkeit Nutzen zu ziehen.“ Ohne auf Nadias Reaktion zu warten, ging sie weiter.
Nadia wusste selbstverständlich mittlerweile, wovon diese Brasilianerin geredet hatte. Ein weiteres Mal wurde sie also in ihrer Entscheidung bekräftigt, Romeo endlich den Laufpass zu geben.