13 Durch die Hölle
Romeo hatte einen Geländewagen gemietet, mit dem sie sich zu seiner Schwester Anna aufmachten. Sie konnten sein Motorrad und ihren großen Koffer in ihm transportieren. Als sie Guarinhia verließen, folgte ihnen eine ganze Kolonne an Polizeiwagen bis zum Ortsausgang, um ihm Angst einzujagen und um ihr zu verstehen zu geben, dass sie dabei war, einen großen Fehler zu begehen. Aber sie verstand dies nicht. Irgendwie war die Polizei darüber informiert worden, dass Romeo sich mit ihr an einen anderen Ort begeben wollte.
Er konnte nicht damit aufhören, in den Rückspiegel zu gucken und erzählte ihr, dass Dr. Antonio ihnen sicherlich Killer auf den Hals gejagt hatte, um die beiden aus dem Weg zu räumen. Diese Geschichte erfand er, um sie in Angst und Schrecken zu versetzen und sie davon abzuhalten jemals wieder zu ihrem Schicksal zurückzukehren. Dr. Antonio wollte Nadia beschützen und hatte die Polizeiwagen hinter ihnen hergeschickt, um in letzter Minute noch ihre Gesinnung zu ändern.
Nadia hatte die ganze siebenstündige Fahrt lang das Gefühl, ihren wahren Lebensweg verlassen zu haben. Dieses Gefühl sollte sie für eine sehr lange Zeit nicht mehr loslassen. Sie zweifelte sehr an ihrer mehr oder minder halbherzigen Entscheidung, mit Romeo mitzugehen.
Sie kamen sicher bei Anna an, welche die beiden ganz herzlich empfing. Anna und Nadia waren gleich sehr vertraut miteinander. Als sie in Annas Augen blickte, erkannte Nadia erneut eine Art Schwester. Ähnlich wie bei Josie, kam es ihr so vor, als würde sie Anna schon ewig kennen.
Ein weiser Mann hat einmal gesagt, ein Mensch würde immer mehr Seelenverwandte treffen, je näher er seiner persönlichen Bestimmung kommt, und all diese Seelenverwandten würden ihm dabei helfen, diese schließlich auch zu erreichen.
Anna erzählte Nadia, dass sie Romeo liebte, weil er ihr Bruder war. Sie bat sie allerdings darum, ihm gegenüber Vorsicht walten zu lassen. Nadia wollte den Grund dafür wissen, erhielt jedoch keine klare Antwort. Anna hatte Angst vor den möglichen Konsequenzen, falls ihr Bruder von diesem Gespräch Wind bekäme.
Sie hatte in Romeos Leben eine Menge Frauen kommen und gehen sehen und sie kannte seine wahren Beweggründe. Sie wollte Nadia warnen, um sie davor zu beschützen, eines seiner Opfer zu werden. Anna spürte, dass Nadia anders war, als ihre Vorgängerinnen. Sie mochte sie wirklich sehr.
Seine eigene Schwester warnte sie also vor Romeo, als er nicht im selben Raum war. Und wieder einmal machte Nadia alle Schotten dicht. Sie wollte es nicht hören. Sie hatte ihre Beziehung zu ihm in einem Glaskasten tief in ihrem Herzen verpackt – jedoch kein normales Glas: Panzerglas. Alle Warnungen prallten nur so an ihr ab…
Nadia und Anna hatten in etwa dieselbe Statur. Beide waren eher dünn und nicht allzu groß. Annas Haare waren lang und schwarz. Ihr Mann David war wesentlich größer als sie und sehr übergewichtig. Er hatte keinerlei Manieren am Leib. Nadia konnte sich nicht zusammenreimen, wieso Anna sich diesen Mann ausgesucht hatte. Obwohl er stets freundlich zu ihr war, fühlte sie sich in seiner Anwesenheit unwohl.
Die beiden hatten zwei Töchter. Sofia war eine Woche zuvor neunzehn geworden und Julina war dreiundzwanzig. Zur zierlichen Sofia fühlte sich Nadia auch gleich hingezogen. Doch Julina mochte sie auf Anhieb nicht. Sie schien nach ihrem Vater zu schlagen. Sie war nicht dick, hatte aber ausladende Kurven und war das, was man sich normalerweise unter einer rassigen Brasilianerin vorstellt. Bei jeder Gelegenheit setzte sie ihre Rundungen in Szene.
Nadia bemerkte, wie Romeo Julinas üppigen Hintern begutachtete. Ihr fiel recht schnell auf, dass er Julina nicht als seine Nichte, sondern als eine Frau betrachtete. Immer wieder musste Nadia mit ansehen, wie sich die zwei begehrende Blicke zuwarfen.
Sie ging vom Schlimmsten aus und lag damit goldrichtig: Seit ein paar Jahren hatte Romeo nun schon eine heimliche Affäre mit seiner Nichte.
Jedes Mal, wenn er seine Schwester besuchte, drehte er eine Runde mit Julina auf seinem Motorrad. Sie liebten sich an verborgenen Orten, draußen in der Natur. Ihre Mutter, Anna, hatte davon keinen Schimmer, da die beiden stets mehr als vorsichtig waren.
Es hatte vor vier Jahren angefangen, als Julina neunzehn geworden war. Romeo hatte auf einmal eine unnatürliche Anziehung für seine bis dato kleine Nichte empfunden. Kurz nach ihrem neunzehnten Geburtstag hatte Luzifer ihm zu verstehen gegeben, dass er sich an sie heranmachen sollte und ihm zugeflüstert, dies sei nichts Schlechtes. Vom Teufel besessen, befolgte er dessen Rat natürlich.
Romeo war immer sehr vorsichtig, damit niemand etwas davon mitbekommen konnte. Zudem gab er seiner Nichte stets das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein und sie über alles zu lieben: „Mein Schatz, mein Herz gehört dir, ganz allein. Ich bin traurig, dass wir unsere Liebe geheim halten müssen und nicht heiraten können, weil du ja die Tochter meiner Schwester bist. Wenn es möglich wäre, würde ich dich schon morgen vor den Traualtar führen.“
Blind vor missverstandener Liebe glaubte seine Nichte jedes seiner Worte. Sie konnte es jedoch nicht ausstehen, wenn er bei ihnen zu Hause mit anderen Frauen aufschlug und diese noch dazu vor ihren Augen liebkoste.
„Wie kannst du mir erzählen, dass du mich liebst, und dich im nächsten Moment umdrehen und mit diesen Fremden intim werden?“, hatte sie ihm schon oft vorgehalten.
„Julina, so versteh‘ doch – das ist unsere Chance! Eine von diesen Schnepfen wird mich mitnehmen in ein anderes Land. Da kann ich dann schnell Geld machen und dich einfliegen lassen. Dort wird niemand wissen, dass du meine Nichte bist. Glaub‘ mir, Kleines, jedes Mal, wenn ich diese Frauen küsse, könnte ich mich übergeben“, beteuerte er.
Sie glaubte ihm und wünschte sich sehnlichst, dass dieser Traum wahr werden würde.
Romeo wusste ganz genau, wovon ein durchschnittliches brasilianisches Mädchen träumte. Viele von ihnen warten auf den Prinzen, der sie in ein anderes Land mitnimmt, in welchem sie ein Leben in Saus und Braus führen können.
Unglücklicherweise werden viele dieser Mädchen anschließend im Ausland an den Meistbietenden verkauft. Der erhoffte Prinz entpuppt sich nicht selten als eine zwielichtige Gestalt.
Auch Romeo wusste sehr wohl, wie er Menschen für seine Zwecke instrumentalisieren konnte. Es war ein leichtes für ihn, seiner Nichte vorzuspielen, ihr Prinz zu sein, um mit ihr seinen teuflischen Trieb zu befriedigen.
Die Eingebungen, die Nadia bezüglich Romeo und Julina heimsuchten, machten ihr schwer zu schaffen. Sie fragte sich, was er bloß von ihr selbst, Nadia, wollen könnte, da sie mit ihrem zierlichen Körper und kurzem blonden Haar ein ganz anderer Typ war als Julina. Selbstzweifel begannen an ihr zu nagen, aber sie würde nie herausfinden, ob ihre Intuition korrekt war.
Wenn Julina aus der Dusche kam, waren ihre Rundungen mit nichts als einem kleinen Handtuch bedeckt. Nadia stellte sich vor, was in Romeos Gedanken ablief, wenn er seine Nichte so sah, fast nackt. Da Romeo und Nadia tatsächlich eine Art übersinnliche Verbindung zueinander hatten, entsprachen Nadias Eingebungen der Wahrheit.
Seine anderen beiden Schwestern lebten mit ihren Familien in demselben Dorf. Eine von ihnen hatte eine Tochter namens Mira, die sich ebenso verführerisch für ihren Onkel Romeo in Szene setzte. Sie massierte seinen Kopf und Nacken und gab ihm immer mal wieder kleine Küsschen, die er nur allzu gerne erwiderte.
Bevor sie Romeo kennengelernt hatte, war Nadia nicht besonders eifersüchtig gewesen, aber was er mit seinen Nichten anstellte, machte sie wahnsinnig. Als ob es nicht gereicht hätte, dass er mit anderen Frauen mehr als eindeutig flirtete, musste er das gleiche Spielchen auch noch mit seinen Nichten abziehen, mit den Töchtern seiner Schwestern!
Auf eine gewisse Art fühlte sie sich ihm ausgeliefert, so weit weg von Guarinhia. Andererseits versuchte sie auch, ihre Augen vor diesen Vorkommnissen zu verschließen. Sie hoffte, dass sie falschliegen und sich alles zum Guten wenden würde. Auch sie hatte sich seit ihren Teenager-Jahren gewünscht, den Mann ihres Lebens zu finden. Immer noch hoffte sie, dass Romeo dieser EINE sein könnte.
Sie verhielt sich wie die Investoren an der Börse, die schon fast alles verloren haben und das übrige Geld so schnell wie möglich aus dem Markt nehmen sollten. Stattdessen halten sie trotz aller Warnsignale an ihren Träumen von großen Gewinnen fest und investieren sogar noch mehr in eine Anlage, die sich bereits als hoffnungslos entpuppt hat.
Als sie ihn bezüglich etwaiger Seitensprünge mit seinen Nichten zur Rede stellte, wurde er aggressiv und packte sie sehr grob an. Er sagte zunächst scheinheilig: „Ich kann es nicht fassen, dass du so etwas denkst. Das sind die Töchter meiner Schwestern“, und griff sie dann verbal an, „deine Eifersucht ist unerträglich. Vielleicht ist so etwas Krankes ja in Deutschland üblich, aber ganz bestimmt nicht hier in Brasilien. Wer weiß, was du so machst, wenn ich nicht aufpasse!“
Daraufhin versuchte sie, ihre Zweifel ihm gegenüber wieder zu verdrängen.
Die sexuelle Energie zwischen Nadia und Romeo wurde von diesen äußeren Bedingungen keineswegs beeinträchtigt. Sie kamen sich jede Nacht sehr nahe. In diesen Momenten gab er auch ihr das Gefühl, sein Ein und Alles zu sein – ein weiterer Schachzug in seinem Spiel.