42.

JESSICA SETZTE SICH an den Computer. Schon seit zwei Tagen wollte sie im Internet Recherchen anstellen, doch ihr hatte einfach die Zeit gefehlt. Wenn ihr Mörder ein makabres Spiel mit dem Police Department und der Stadt Philadelphia trieb, war es möglich, dass es Dinge gab, die sie übersahen, und dass einige Aspekte nicht ins Gesamtbild passten. Noch nicht.

Jessica tippte alles in den PC ein, was sie hatten, und erstellte eine Liste mit Namen, Hinweisen, Orten sowie möglichen Zusammenhängen.

Sie wusste, dass eine Suchmaschine mitunter einen Bezug herstellte, auf den man selbst niemals gekommen wäre. Manchmal war das Ergebnis einer Suche so abwegig, dass man vollkommen neue Denkanstöße erhielt.

Vierzig Minuten später hatte sie Antworten. Jessica wusste, dass Byrne unten in der Cafeteria saß. Sie hatte keine Geduld, auf den Aufzug zu warten, und lief die Treppe hinunter.

Byrne trank kalten Kaffee, aß ein altes Plunderteilchen und überflog die Daily News.

»Das glaubst du nie«, sagte Jessica.

»Ich liebe es, wenn Gespräche so beginnen.«

Jessica zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Ich habe alles, was mir eingefallen ist, in Suchmaschinen eingegeben – und noch ein paar Dinge, von denen ich angenommen hatte, dass nie etwas dabei herauskommt.«

Byrne faltete die Zeitung zusammen. »Und was haben wir?«

»Ich glaube, ich weiß jetzt, welches Spiel er mit dem Namen Jeremia Crosley gespielt hat. Trotzdem habe ich ›das Buch Jeremia‹ eingegeben. Ein interessanter Bursche, aber keiner der ganz Großen. Josh hatte recht. Jeremia hat mir keine Erleuchtung gebracht. Es kam nichts dabei heraus.«

»Und weiter?«

»Unser Anrufer hat gesagt, er wohne 2917 Dodgson Street. Wir wissen, dass es keine Dodgson Street in Philadelphia gibt, okay?«

»Wenn die Typen von MapQuest es sagen, wird es wohl stimmen.«

»Ich hab so meine Probleme mit MapQuest. So genau will ich es gar nicht wissen. Aber das ist jetzt ja egal. Jedenfalls habe ich eine Dodgson Street in Lancashire, England, gefunden. Ich gehe aber davon aus, dass das selbst für einen Psychopathen eine ziemlich weite Reise gewesen wäre. Aber es gab noch eine Menge anderer Hinweise. Einer fiel mir besonders ins Auge – der Name einer Person. Charles Lutwidge Dodgson. Schon mal von dem gehört?«

Byrne schüttelte den Kopf.

»Kein Wunder, denn er war unter einem anderen Namen viel bekannter: Lewis Carroll, Autor von Alice im Wunderland. Ich habe herausgefunden, dass er auch ein fanatischer Spiele- und Puzzlefan war. Bei meinen Recherchen bin ich auf das sogenannte Alice im Wunderland-Syndrom gestoßen. Es wird auch Micropsia genannt. Es führt dazu, dass jemand große Objekte als viel kleiner wahrnimmt, als sie in Wirklichkeit sind.«

»Die großen bunten Kisten in dem Kriechkeller und die kleinen bunten Quadrate in der Bibel«, sagte Byrne.

»Vielleicht ist es zu weit hergeholt, aber die Idee ist mir gekommen.« Jessica zog sich noch einen Stuhl heran und legte ihre Füße darauf. »Dann habe ich Ludo eingegeben. Weißt du, was es heißt?«

»Ist das hier ein Ratespiel oder was?«

»Ja.«

»Ich habe keine Ahnung, was Ludo bedeutet.«

Jessica zeigte ihm einen Farbausdruck mit der Darstellung eines Spielbretts: ein großes Quadrat mit einem Kreuz darauf. Jeder Arm des Kreuzes war in drei Reihen und jede Reihe wiederum in sechs kleinere Quadrate unterteilt. Die großen Quadrate waren bunt. »Ludo.«

»Schon wieder bunte Quadrate«, sagte Byrne.

»Ja, aber es sind vier und nicht drei.«

»Könnte es sein, dass wir in dem Kriechkeller etwas übersehen haben?«

»Nein, auf keinen Fall«, sagte Jessica. »Aber ich habe auch die Herkunft des Wortes Ludo recherchiert. Rate mal, aus welcher Sprache es stammt.«

»Aus dem Griechischen?«

»Aus dem Lateinischen«, sagte Jessica. »Es leitet sich von dem Wort ludus ab.«

»Und das heißt?«

Jessica stieß triumphierend die Faust in die Luft. »Es heißt ›Spiel‹.«

Byrne drehte sich zum Fenster um und klopfte mit dem Rührstäbchen auf den Rand seiner Tasse. Jessica wartete einen Moment, bis er die Informationen verdaut hatte.

»Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass Mrs Somerville verrückt war, oder?«, sagte Byrne schließlich.

»Ja, das können wir.«

»Und auf irgendeine Weise war sie tief in diese Sache verstrickt.«

»Bis zu ihrem gebrochenen Genick.«

Byrne drehte sich wieder zum Tisch um. »Erinnerst du dich an das Puzzle, das ich aus den geometrischen Formen zusammengesetzt habe?«

»Das Tangram?«

»Genau. Sie hatte dieses Buch ... ein Buch über Tangram-Puzzles und andere Spiele. Ein Buch voller Figuren.«

»Was ist damit?«

»Ich glaube, wir sollten uns ein Exemplar dieses Buches besorgen.«

»Sie hat gesagt, der Autor wohnt in Chester County.«

»Großartig!«

Byrne rief bei Chester County Books & Music an, verlangte den Filialleiter und stellte sich vor.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Mann.

»Wir suchen einen Autor, der unseres Wissens in Chester County wohnt.«

»Wie heißt er?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er ein Buch über Spiele und Puzzles geschrieben hat, und das Buch enthielt eine Reihe von ...«

»David Sinclair«, unterbrach der Mann ihn. »Er hat mehrere Bücher über dieses Thema geschrieben. Er hatte hier auch schon eine Signierstunde.«

»Wissen Sie, wie ich ihn erreichen kann?«

»Ich glaube, ich habe seine Telefonnummer hier irgendwo.«

»Würden Sie ihn bitten, uns anzurufen? So schnell wie möglich. Es ist sehr wichtig.«

»Ja, sicher. Kein Problem.«

Byrne gab dem Mann seine Handynummer, bedankte sich und legte auf.

Nachdem die Nachricht sich verbreitet hatte, dass Monica Renzi ermordet und verstümmelt worden war, hatte die Presseabteilung des Police Departments eine Pressekonferenz abgehalten. Die offizielle Version der Polizei lautete, dass bisher nicht feststand, ob zwischen der Ermordung von Monica Renzi und Caitlin O’Riordan eine Verbindung bestand. Das hielt die großen Zeitungen jedoch nicht davon ab, sich in Spekulationen zu ergehen oder einfach einen Zusammenhang zwischen beiden Morden zu unterstellen.

Wie immer suchte die Presse natürlich nach einem Namen für diesen Fall. Das Revolverblatt The Report schrieb, es solle sich einer »nicht namentlich genannten Quelle« aus Polizeikreisen zufolge um einen Mann handeln, der Mädchen von der Straße aufgriff und sie eine Weile gefangen hielt, ehe er sie umbrachte. Die Zeitung bezeichnete den Mörder als den »Sammler«.

Byrne ging stark davon aus, dass kein Mitarbeiter des Report jemals den Roman »Der Sammler« von John Fowles gelesen hatte, aber das spielte keine Rolle. Die Geschichte handelt von einem jungen Mann, einem Schmetterlingssammler, der eine Frau kidnappt und sie in seinem Keller gefangen hält. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die großen Zeitungen den Namen aufgreifen würden – und dann die Öffentlichkeit. Zu guter Letzt würde auch die Polizei sich in ihren internen Besprechungen dieses Namens bedienen.

Die vier Detectives trafen sich in der Eingangshalle des Roundhouse. Sie waren alle salopp gekleidet. Wenn sie mit Ausreißern und obdachlosen Kids sprechen wollten, mussten sie darauf achten, nicht wie Autoritätspersonen auszusehen. Doch Byrne und Andre Curtis waren diesbezüglich hoffnungslose Fälle. Beide waren unverkennbar Cops, da half die beste Verkleidung nichts. Jessica und Josh könnte es eher gelingen, das Vertrauen Jugendlicher zu gewinnen.

Jessica trug Jeans, ein weißes T-Shirt und Laufschuhe. Sie könnte beinahe als Studentin durchgehen, dachte Byrne bei ihrem Anblick. Er selbst trug ein schwarzes Polohemd und eine legere Stoffhose. In dieser Kleidung sah er aus wie ein Cop, der dienstfrei hatte und nicht als Polizist erkannt werden wollte. Byrne tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihm das Hemd wieder passte, denn es hatte in letzter Zeit ziemlich eng gesessen. Vielleicht war er doch wieder auf dem Weg zu seinem Idealgewicht.

Jessica informierte Josh Bontrager und Dre Curtis darüber, was sie im Internet gefunden hatte. Die beiden machten sich Notizen und verschwanden.

Ein paar Minuten später verließen auch Jessica und Byrne das Roundhouse. Draußen war eine Luft wie in einem Backofen. Es regnete noch immer nicht.

»Bereit zu einer Rückkehr in deine Jugend?«, fragte Byrne, als sie sich in den Taurus setzten.

»Was redest du da?«, erwiderte Jessica. »Ich bin noch mittendrin.«

Während Josh Bontrager und Dre Curtis zum Penn Treaty Park fuhren, begannen Jessica und Byrne in der South Street. Sie parkten auf dem Columbus Boulevard und überquerten auf der South Street die Fußgängerbrücke über der Interstate 95.

Die South Street gehörte zu Queen Village, einem der ältesten Stadtteile Philadelphias. Das Geschäftsviertel erstreckte sich von der Front Street bis etwa zur Neunten Straße.

Auf dem Weg nach Süd-Philadelphia hatten sie sich darauf geeinigt, dass es das Beste sei, wenn Jessica die Befragungen übernahm. Byrne würde sie von der anderen Straßenseite aus im Auge behalten.

Sie begannen in der Front Street, vor Downey’s, und arbeiteten sich langsam Richtung Westen vor. In diesem Bereich Süd-Philadelphias gab es viele Pubs, Restaurants, Clubs, Bücher- und Plattenläden, Piercing- und Tattoostudios, Pizzabuden und sogar ein großes Kondom-Spezialgeschäft. Diese Gegend war ein Anziehungspunkt für junge Leute sämtlicher Couleur – Goths, Punker, Hip-Hopper, Skater, Studenten und Jersey Boys –, ebenso wie für Touristen, von denen es hier nur so wimmelte. In der Front Street gab es fast nichts, was es nicht gab – und was man nicht legal erwerben konnte, konnte man sich auf andere Weise beschaffen. Für viele Menschen war der Süden der Stadt das Herz Philadelphias.

Zwischen der Zweiten und Dritten Straße sprach Jessica mit drei Jungen und zwei Mädchen, die sich gemeinsam in der Stadt herumtrieben. Byrne staunte immer wieder, wie gut sie sich auf so etwas verstand. Natürlich mussten sie sich als Polizisten ausweisen, und die wenigen Jugendlichen, die Byrne selbst ansprach, machten sich sofort aus dem Staub, sobald er ihnen seinen Dienstausweis zeigte. Bei Jessica war es anders. Sie fand schnell den richtigen Zugang zu den jungen Leuten.

Alle Jugendlichen behaupteten, entweder aus Philly zu stammen oder Verwandte in der Stadt zu besuchen. Von zu Hause weggelaufen war keiner.

An der Ecke Vierte und South Street sprach Jessica mit einem ungefähr fünfzehnjährigen Mädchen. Sie hatte blonde Zöpfe und trug einen Jeansrock mit einem Batik-Top. In ihrer Nase, den Lippen und den Ohren steckte ein halbes Dutzend Piercings. Byrne war außer Hörweite, aber er sah, dass Jessica der Jugendlichen ein Foto zeigte. Das Mädchen betrachtete es eingehend und nickte dann. Jessica reichte ihr eine Visitenkarte.

Die Informationen brachten sie nicht weiter. Sie sagte, sie habe von einem Mädchen namens Starlight gehört, sie aber nie persönlich kennengelernt und keine Ahnung, wo sie sich aufhalte.

Als Jessica und Byrne die Zehnte Straße erreichten, wo es nur noch wenige Geschäfte und beliebte Treffpunkte gab, hatten sie mit fünfzig oder sechzig Jugendlichen und zwei Dutzend Geschäftsinhabern gesprochen. Niemand erinnerte sich, Caitlin O’Riordan oder Monica Renzi gesehen zu haben. Niemand wusste irgendetwas.

Jessica und Byrne aßen im Jim’s Steaks auf die Schnelle eine Kleinigkeit und fuhren dann zum Busbahnhof.