24.
ER HATTE PATRICIA GEBADET, was dringend nötig gewesen war, hatte ihr die Haare gewaschen und mit einer Pflegespülung gespült. Dabei hatte er den Blick abgewendet, so gut es ging, damit das Mädchen nicht glaubte, er sei schamlos oder sogar geil.
Er benutzte ein Minzshampoo von Origins.
Wiederherstellung, dachte er lächelnd. Wobei ein Gegenstand in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt wird.
Als sie fertig waren, fuhr er Patricia im Rollstuhl den Gang hinunter. Sie war noch immer ziemlich erschöpft. Er hatte sie mit einer weiteren Brisette betäubt, einer der mit Chloroform gefüllten Ampullen. In den Siebzigern hatte sein Vater Hunderte davon bei einer Engländerin gekauft, die als Hebamme arbeitete. Joseph kannte die Wirkung nur zu gut.
»Sitzt du bequem, meine Liebe?«
Patricia drehte sich langsam zu ihm um und schwieg.
Sie betraten das Nähzimmer im ersten Stock. Es war eines von Josephs Lieblingszimmern und von der Fußleiste bis etwa zur Mitte der Wände mit einer Blumentapete aus Moiréseide tapeziert. Doch dieses Zimmer war nicht nur schön, es war magisch. Wenn man auf einen Knopf drückte, der hinter einer Reproduktion von William Beattie-Browns Golden Highlands verborgen war, glitt die rechte Wand nach oben. Dahinter lag ein kleiner Raum mit Blick auf die Rückseite des Grundstücks. Wenn man auf einen anderen Knopf drückte, der sich unter dem Spiegelglasfenster befand, öffnete sich eine kleine Falltür hinter dem Diwan. Swann hatte beide Knöpfe noch nie benutzen müssen.
Er setzte Patricia vor den Fernseher, drückte auf der Fernbedienung auf PLAY und schaltete den Videorekorder ein.
»Pass auf, jetzt kommt Great Cygne«, sagte Swann.
Er hatte das ganze alte Filmmaterial – leider war es sehr wenig, ging aber zurück bis zu den frühen Auftritten seines Vaters im Jahre 1948 – vor vielen Jahren auf Videobänder überspielen lassen. Die ursprünglichen 8-mm-Filme waren spröde geworden, und er hatte eine Firma in Süd-Philadelphia gefunden, die alte Amateurfilme auf CD, DVD und Video kopierte.
Das erste Bild zeigte seinen Vater als blutjungen Mann von etwa zwanzig Jahren. Ein Entertainer deutscher Abstammung, der Ende der Vierzigerjahre in New York City auftrat. Wie mutig er gewesen sein muss, dachte Joseph.
Nach einem raschen Schnitt tauchte sein Vater mit ungefähr achtundzwanzig Jahren wieder auf. Jetzt saß er mit fünf anderen an einem Tisch in einem Nachtclub. Es war eine statische Aufnahme aus einem hohen Winkel. Las Vegas in den späten Fünfzigern. Der beste Ort in einer der besten Zeiten der Geschichte. Great Cygne präsentierte einem entzückten Publikum ein paar Münzentricks. Er zeigte Vier Münzen in einem Glas, die Fliegenden Adler, die Wandernden Centavos. Mit einer raschen Bewegung riss er einen Sektkübel von einem vorbeifahrenden Servierwagen und führte eine Variante vom Traum des Geizigen vor.
Die nächsten Bilder reihten sich in schneller Folge aneinander: ein Club in Amsterdam, eine Hinterhofparty in Midland Texas, eine Aufführung auf einer Kirmes in Berea, Ohio, für die sein Vater in Vierteldollarmünzen bezahlt wurde.
Das Videoband zeigte mit jeder neuen Einstellung einen Mann, der sein Talent immer mehr einbüßte und dessen Verstand sich in ein Gruselkabinett wirrer Gedanken verwandelte. Dieser tingelnde Zauberer führte schließlich nur noch die billigsten Tricks auf: eine Zigarette durch eine Münze schieben, Taue zerschneiden und wieder verbinden, einfache Kartentricks.
Aus diesem Grunde hatte Joseph vor Jahren ein Postskript angehängt, eine atemberaubende Koda, die gefilmt worden war, als sein Vater noch auf dem Höhepunkt seiner Karriere gestanden hatte.
Die sieben Wunder waren eine straff überarbeitete Version mit vielen anschaulichen Darstellungen in voller Länge, die Great Cygne bei einem lokalen Kabelsender in Shreveport präsentiert hatte. Joseph hatte die Vorführung mit den Klängen von Lovin’ Spoonfuls Do You Believe In Magic? untermalt. Er wusste, dass das ziemlich kitschig war. Einst hatte er mit dem Gedanken gespielt, diese Show eines Tages auf DVD zu vermarkten, falls er die Rechte zurückerhalten könnte.
Swanns Herz klopfte, als er sich den Film zum vermutlich fünfhundertsten Mal anschaute.
Es begann mit dem Blumengarten; dann folgte die Frau ohne Unterleib, die Ertrinkende und das Mädchen in der Schwertkiste.
»Schau dir das an«, sagte er zu Patricia. »Schau dir an, was gleich passiert. Das ist das Mädchen in der Zaubertruhe. Das ist dein Part.«
Als der Film zu Ende war, stieg Swann die Treppe hinunter, durchquerte das große Zimmer und genehmigte sich ein Glas Sherry. Anschließend ging er wieder zu dem Mädchen hinauf.
»Ich muss ein paar Besorgungen machen, bin aber bald wieder zurück. Dann essen wir gemeinsam. Vielleicht machen wir uns sogar fein. Das wäre toll, nicht wahr?«
Das Mädchen schaute ihn an. Ihr samtweicher Blick war nicht mehr sanft. Es erstaunte ihn immer wieder, wie schnell die Jugend ihren Glanz verlor. Er schob den Rollstuhl ins Gästezimmer und schloss die Tür hinter sich ab.
Als Swann sich ein paar Minuten später anschickte, das Haus zu verlassen, hörte er das Mädchen schreien. Als er die Eingangshalle erreichte und seinen Mantel anzog, nahm er nur noch ein fernes Echo wahr. Als er auf die Veranda trat, war der Schrei bloß noch eine Erinnerung.
Es war ein schöner, sonniger Tag, und die Vögel zwitscherten. Swann lauschte einer bestimmten Vogelstimme. Es war die eines Teichrohrsängers mit gelber Kehle, einer anderen verlorenen Seele, die wissen wollte, was die Welt bewegte.