Es gibt Bilder, die alle anderen überdauern, und doch weiß man nie, welche es sein werden. Er war kaum sechs oder sieben Jahre alt gewesen, als er in der Tür zu Großonkel Max’ Arbeitszimmer stand. Es roch nach Pfeifenqualm, gedämpftes Licht fiel in Streifen durch die Jalousien. Die Erwachsenen waren draußen auf der Terrasse; er hörte gelegentliche Lacher und auf den Tellern klapperndes Besteck. Die Geräusche des langsam, gemäß einem Plan, der sein Begriffsvermögen überstieg, vergehenden Nachmittags.

Das Arbeitszimmer war voller Bücher, viele davon auf Deutsch. Max war unmittelbar vor Ausbruch des Krieges nach Amerika geflohen und hatte einen Lehrauftrag an der Universität bekommen. Samson ging an der Bücherwand entlang, indem er die Finger über die Rücken gleiten ließ. Er hörte die hohe Stimme seiner Tante etwas ausrufen, was er nicht verstand. Er spürte die leise Lust der Heimlichkeit. Er stieß auf ein altes Foto ohne Rahmen. Es war schwarzweiß, besser gesagt, mehr gelb als weiß, auf dickes Papier gezogen. Es zeigte eine Familie, acht oder neun steif um die Eltern herumstehende Kinder. Die Kleider waren hochgeschlossen und pompös. Er betrachtete die Gesichter mit äußerster Aufmerksamkeit und fand sie hässlich. Er hatte keine Ahnung, wer sie waren, nur, dass sie irgendwie zu Max’ Vergangenheit gehörten, und das berührte ihn seltsam. Max hatte sie nie erwähnt, und Samson merkte, dass ihm ein Geheimnis vorenthalten worden war. Er musste eine Weile da gestanden und das Foto in der Hand gehalten haben, denn plötzlich kam jemand durch den Flur, um nach ihm zu schauen. Als Max den Raum betrat und ihn das Bild halten sah, huschte ein unergründlicher Ausdruck über sein Großonkelgesicht. Samson blickte ihn stumpf an, aber im Herzen spürte er die kleine, nicht wieder gutzumachende Verletzung eines Kindes, dessen Vertrauen gebrochen worden ist. Wortlos legte er das Foto ins Regal zurück. Dann ging er an Max vorbei aus dem Zimmer und in den verbleibenden Nachmittag hinaus.

 

Am Empfang wurde Samson gesagt, Max sei beim Fernsehen im Gemeinschaftsraum. Der Aufsicht führende Pfleger, ein Mann mit dünnem Schlips, schien überrascht, dass der alte Mann Besuch bekam. Samson hatte sich gefragt, ob das Personal ihn vielleicht wiedererkennen würde – sicher war er früher öfter bei Großonkel Max gewesen, vor allem, als er während der Krankheit seiner Mutter nach Kalifornien zurückgekehrt war. Vielleicht hatte er Max sogar selbst in Fairview eingeliefert. Aber der Mann musterte Samson nur argwöhnisch: der letzte überlebende Verwandte, verwahrlost und schmuddelig, wie er aussehen musste, stinkend nach Schweiß und dem üblen – so abstoßend menschlichen – Geruch der Verzweiflung.

Samson schob vorsichtig seinen Ausweis über den Tisch. Der Pfleger hielt ihn zwischen zwei Finger geklemmt und betrachtete das Foto. Dann trug er Samsons Namen in die Besucherliste ein.

«Wahrscheinlich brennen Sie schon darauf, ihn zu sehen, Ihren …»

«Großonkel.»

«Ihren Großonkel. Großonkel Max», wiederholte der Pfleger, während Samson ihm den Gang hinunterfolgte. Sie betraten einen großen sonnigen Raum mit Linoleumboden. Einige Heimbewohner saßen am hinteren Ende vor einem Breitbandbildschirm, auf dem eine Frau die Zubereitung eines Hühnchens vorführte.

«Da ist er ja», verkündete der Pfleger fröhlich, als deutete er auf ein rosiges Neugeborenes und nicht auf einen alten Mann in einem abgewetzten Frotteemorgenmantel. «Großonkel Max!», sang er lauthals, während er zu der gebeugten, im Rollstuhl sitzenden Gestalt hinüber sprang. «Schau an, wer da zu Besuch ist!»

Unter großen Anstrengungen drehte sich der alte Mann aus der Hüfte um, als hätte man ihm die Wirbelsäule zusammengeschweißt. Sein ironischer Ausdruck war von Senilität überschattet, aber unverkennbar.

Samson musste sich beherrschen, um nicht hinzustürzen und vor dem Rollstuhl auf die Knie zu fallen, um den blasierten Pfleger nicht beiseite zu schubsen und den alten Mann so fest an sich zu drücken, dass er ihm die morschen Knochen brach. Max’ dünnes Haar war einem spärlichen Kränzchen um das Haupt gewichen, die hohe Rundung seines Schädels vollkommen kahl, spiegelglatt und erstaunlich glänzend. Seine Ohren, die in jüngeren Jahren, als noch genügend Haare sie umrahmten, nur wenig abgestanden hatten, so als registrierten sie unzufriedene Regungen oder ein lebhaftes Innenleben, schossen jetzt zu beiden Seiten in einem Winkel weit über neunzig Grad heraus. Mit den Jahren waren sie nach vorn geklappt, und während der Rest seiner Person geschrumpft war, hatten sie preiswürdige Ausmaße angenommen.

Max musterte den Pfleger, dann ließ er seinen Blick schläfrig zu Samson wandern.

Onkel Max hatte Kinder geliebt und sie immer mit kleinen Tricks oder Witzen zum Lachen gebracht, aber er hatte nie eigene gehabt, weil seine Frau durch eine Kinderkrankheit unfruchtbar geworden war. Hier saß nun im Morgenrock, was von dem Mann übrig war, der, als er gehört hatte, wie Samson in den höchsten Tönen vom Angeltrip seines Vaters mit Hunter Froubuck schwärmte, aus Stöcken, ja, aus Stöcken, zwei Angelruten bastelte, bespannt mit einer Angelschnur mit einem Blechhaken am Ende, und Samson mitnahm an ein kleines brackiges Gewässer. Sie hatten nur Aale gefangen.

«Erkennen Sie den jungen Mann?», fragte der Pfleger und zog in spöttischer Erwartung die Augenbrauen hoch. Es folgte eine drückende Pause, in der Samson halbwegs darauf gefasst war, der blasierte Kerl würde gleich die Arme ausbreiten und in lyrischem Bariton verkünden: «Max Kleinzer, das ist IHR Leben!», während die Alten in ihren Rollstühlen mit den Fingern trommelten.

«Wen?», fragte Max, die Stimme gedämpft und unmenschlich, wie der ferne Ruf einer Eule.

Samson trat vor, ein unbeholfener Versuch, den Pfleger auszuschalten.

«Onkel Max, ich bin’s, Sammy. Sammy Greene, dein Neffe. Erinnerst du dich?»

«Sammy Greene», tönte der Pfleger, packte Max’ Rollstuhl an den Griffen und schob ihn zum Fenster hinüber. Samson trottete hinterher. Max hielt die Augen stur geradeaus.

«Sammy?», sagte er mit brüchiger Stimme. «Sicher, ich erinnere mich.» Der Pfleger wirbelte Max herum und stellte ihn mit dem Rücken zum Fenster, sodass die Flut des Abendlichts von hinten hereinströmte und die Ohren wie Lampen erleuchtete.

«Sammy Greene! Ta-daaa!», echote der Pfleger erneut. Dann drehte er sich um und verschwand den Gang hinunter, ehe Samson ihn mit dem Kinnbacken eines Esels erschlagen konnte.

Der alte Mann hielt die Hände steif im Schoß gefaltet, als wartete er vor einer Bühne auf den Vorhang. Sie saßen schweigend da und sahen einander an.

«Was sagst du, wer du bist?», fragte Max schließlich.

«Sammy. Beths Sohn.»

«Wer?»

«Beths Sohn.»

«Edison?»

«Dein Großneffe. Samson.»

Max starrte ihn verständnislos an.

«Erinnerst du dich?», fragte Samson.

«Kann ich nicht behaupten.»

Er blickte Max forschend ins Gesicht, überlegte, was sein Großonkel wohl sehen mochte. Er erinnerte sich an die ersten Tage in New York nach seiner Rückkehr, als Anna ihm im durchsichtigen, ungetrübten Licht jener klaren Frühlingstage wie ein fernes, unteilbares Ganzes erschienen war, wie ein Vogel, der sich unter dem Himmel in einen dunklen Punkt verwandelt. Sogar ihr Wunsch, er möge sich an sie erinnern, schmälerte diese elementare Selbstbegrenzung nicht. Aber im Lauf der Tage löste sich die Erscheinung auf. Er bemerkte die Kleinigkeiten, aus denen sie bestand: das leise knallende Geräusch, das sie mit den Lippen machte, wenn sie im Begriff war, etwas Schwieriges zu sagen, oder wie sie beim Fernsehen mit den Haarspitzen spielte oder ihren Kaffee trank, ohne den Löffel aus dem Becher zu nehmen. Bis er sie schließlich nur noch als Sammlung solcher Fragmente wahrnehmen konnte.

Max’ Gesicht blieb reglos, registrierte nichts.

Ungefähr ein Jahr nachdem Samson das Foto im Arbeitszimmer seines Großonkels gefunden hatte, war ein Mann aus Max’ Kindheit in Deutschland zu Besuch gekommen. Ein kleiner Mann mit einem dünnen, hohen Lachen und dichtem Haar, das vor Pomade glänzte. Samson war sich sicher, ihn noch nie gesehen zu haben, aber der Fremde umarmte ihn mit großer Herzlichkeit. Er roch nach Kiefern, nach einem Ort inmitten dichter Wälder. «Kennst du mich nicht mehr?», fragte er mit einem derben Akzent. Alle Blicke richteten sich abwartend auf Samson. Der Mann lächelte erwartungsvoll. Eine ganze Minute verging, aber Samson konnte keine Erinnerung heraufbeschwören. Als er spürte, wie ihm Schamesröte ins Gesicht schoss, drehte er sich um und floh aus dem Zimmer. Er hatte sich geweigert, den Mann während seines restlichen Aufenthalts auch nur anzusehen.

Samson lächelte schwach und zog einen Stuhl heran.

«Wie geht’s dir, Onkel Max?»

Max schien erleichtert, das Thema zu wechseln. «Gut. Ich kann nicht klagen, wirklich. Kann noch essen. Ein schrecklicher Fraß, aber ich kann essen. Wenn man bedenkt, all diese Jahre, in denen Clara – kennst du Clara, meine Frau? – all diese Jahre, in denen ich Claras Essen heruntergeschlungen habe wie ein undankbarer Wicht. Jetzt esse ich, keine Ahnung, wie man das nennen soll. Ein schönes Wort für das Essen hier fällt mir nicht ein. Ich sehe mir jeden Tag die Kochshow im Fernsehen an. Cordon bleu. Was gäbe ich für einen Happen Cordon bleu.»

«Ich habe Clara gekannt», sagte Samson.

«Du hast Clara gekannt?»

«Sicher.»

«Du hast gegessen, was sie gekocht hat?»

«Ziemlich oft.»

Es stimmte, sie war eine gute Köchin gewesen, nur etwas ungeschickt. Alles, was sie auf den Tisch brachte, war in eine Art Glasur gepackt, nicht fett, aber wie mit geschmolzenem Glas oder Zucker überzogen. Das Brathähnchen, die Karotten, die Ananas im Schlafrock, alles hart und glänzend wie Edelstein.

«Sag nur, sie ist keine hervorragende Köchin», sagte Max, verloren im Zwielicht der Gegenwart.

«Doch, sie war hervorragend. Eine sehr gute Köchin.»

«Die beste.»

«Du siehst gut aus, Max», log Samson.

«Ich fühle mich einigermaßen. Es gab eine Zeit, da konnte man sagen, ich sähe gut aus. Das ist lange her. Die Leute sagten es. Wenn ich irgendwo reinkam, sahen sie mich und sagten: ‹Schau, was für ein schöner Mann.› Ich hätte jedes Mädchen haben können.»

Max wurde still, und Samson fragte sich, über welche Vision von weiblicher Schönheit sein Großonkel im Dunkel seines Geistes wohl eben gestolpert sein mochte. Einen Moment war Max abgetaucht, dann kehrte er an die Oberfläche zurück.

«Aber ich liebte Clara. Sofort, auf den ersten Blick, wusste ich, das war die Richtige. Sie saß draußen in der Sonne und wickelte ein Sandwich aus dem Butterbrotpapier. Sie trug ein graues Kleid.»

«Wirklich.»

«Grau, sagte ich. Und tailliert.» Max klopfte sich aufs Knie, und wieder verfiel er in Schweigen.

Es schien unklug, ihn mit Erinnerungen zu bedrängen, Verwirrung und Panik zu riskieren. Aber wenn es für Samson überhaupt eine Chance gab, herauszufinden, wo seine Mutter begraben war, musste er Max in die richtige Richtung stupsen. Er zog den Stuhl näher heran und legte, leichten Druck ausübend, eine Hand auf seine. Die Sonne verkroch sich hinter einer Wolke, und das Ohr des alten Mannes glimmte und erlosch.

«Du sagst, du hast meine Frau gekannt?», fragte Max aufblickend.

Samson versuchte das Gespräch auf seine Mutter zu lenken. Er erinnerte Max daran, dass sie seine Lieblingsnichte gewesen sei, an den Hang zu Süßigkeiten und die Begeisterung für Musicals, die er mit ihr teilte. Wie seine Mutter Klavier gespielt und Max sie mit seinem vollen Tenor begleitet hatte. Wie sie Duette von Cole Porter, den Gershwin-Brüdern, Rodgers und Hammerstein gesungen und alle, die sie hören wollten, bestens unterhalten hatten, am besten aber sich selbst. Lange nachdem die anderen ins Bett gegangen waren, hatten sie weitergemacht, die fröhlichen Akkorde mit ihrem Gelächter mischend. Wie oft war Samson nicht spät abends auf der Couch eingeschlafen, während Melodien aus A Chorus Line oder Anything Goes ihm in die Träume folgten. Später nahm seine Mutter ihn auf den Arm und trug ihn, immer noch leise summend, zum Auto.

«Beth? Sicher. Süße Kleine. War ganz wild aufs Steppen», sagte Max.

Samson drückte Max’ Hand kräftiger, trieb ihn in die Gegenwart zurück.

«Beth ist gestorben, Onkel Max. Erinnerst du dich? Vor ungefähr fünf Jahren.»

Max kniff die Augen zusammen und zog seine Hand weg. Er schien verletzt von dieser kruden Tatsachenbeschreibung.

«Magst du Schokolade?», wechselte er mit gesenkter Stimme das Thema. «Zufällig habe ich welche auf meinem Zimmer. Keine Hershey’s, die andere Sorte. Ich darf sie nicht essen. Hoher Blutdruck. Aber zufällig habe ich welche, woher, verrate ich nicht.» Dann fügte er wie zur Vergeltung hinzu: «Ich sag dir, wer Schokolade mochte: die Kleine von meiner Schwägerin, Beth. Sie liebte Schokolade. Sie hatte diese Schuhe. Wie nennt man die, Mary Janes. Mit den Eisenplättchen. Man hörte sie über den Flur laufen. Sie tanzte, und dann gab ich ihr Schokolade. Komm – wenn du magst, gebe ich dir welche. Keine Hershey’s.»

Es war etwas Trauriges und Rührendes an diesem Angebot gewöhnlicher Schokolade – nicht die beste, nicht die typischen Amiriegel, die sie nach dem Krieg auf ausgehungerte Kinder abgeworfen hatten, kistenweise über die Luftbrücke herbeigeschafft und von den Kids mit den Zähnen aufgerissen, nicht die, sondern die andere Sorte, als gäbe es nur Hershey’s und den Rest, Amerika und den Rest. Das Angebot hatte etwas so Bedürftiges, dass es grausam schien, es nicht anzunehmen.

Samson willigte ein, packte die Griffe von Max’ Rollstuhl und drehte ihn zur Tür. Max drehte sich steif mit, seine Miene trübte sich. «Pssst! Red leise», zischte er, obwohl Samson nicht laut gesprochen hatte. «Ich will keinen Ärger.»

Der Max, an den Samson sich erinnerte, hatte Autoritäten abgelehnt und sie, wo er nur konnte, zum Gespött gemacht. Einmal musste er nach einem kleinen Verkehrsdelikt gegen Kaution aus dem Gefängnis geholt werden, weil er dem Polizisten, der ihn an die Seite gewinkt hatte, den ganzen Inhalt seiner Geldbörse wie in einer Marx-Brothers-Szene einzeln hingehalten hatte – abgerissene Kinokarten und Visitenkarten, seinen Bibliotheksausweis, alles, nur nicht den Führerschein. Später hatte Max sich einen Spaß daraus gemacht, anderen die Szene vorzuspielen, und jedes Mal brüllend gelacht. Jetzt schien es Samson, als wäre diese Lust, Autoritätspersonen ins Lächerliche zu ziehen, vielleicht Max’ eigene verdeckte Form des Protests gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals gewesen, gegen die Nazis, die ihm seine Familie genommen und alle Spuren seines früheren Lebens zerstört hatten. Samson empfand plötzliches Mitgefühl für Max, die einzigartige, traurige Schönheit der Blutsverwandtschaft. Er drückte seinem Großonkel die Schulter, während er ihn den Flur entlangschob, knetete sie durch den Stoff, als wäre Max ein geschlagener Boxer, der sich zum letzten Auftritt in den Ring begab.

Auf dem Weg zu seinem Zimmer kamen sie an einem verglasten Raum vorbei, wo zehn oder zwölf Heimbewohner vor einem Haufen weggeräumter Stühle standen. Ihnen gegenüber regte eine pummelige, lebhafte Frau um die sechzig in gelbem Trikot und Strumpfhosen zum Mitmachen an. «Es ist silberne Bewegungszeit! Silberne Bewegungszeit», sang sie munter, und in ersticktem Chor fielen die Alten ein wie krächzende Hähne in das Trällern eines dicken Kanarienvogels. «Es ist silberne Bewegungszeit! Silberne Bewegungszeit!» Draußen im Flur hellte sich die Miene des geschlagenen Boxers auf, seine Hände klatschten mit.

«Das ist Ruth Westerman», verkündete er und stimmte einen kräftigen, immer noch melodischen Tenor an.

«Jetzt nicken die Köpfe, rauf und runter, ja, ja, ja», sang Ruth, und die ganze abgewrackte Truppe nickte mit den Köpfen, ja, ja, ja. «Gut gemacht! Und jetzt schütteln sie sich, hin und her, nein, nein, nein», und wie Lemminge folgten sie ihr, nein, nein, nein. Auch der Champion schüttelte den Kopf: Keine Hershey’s! Keinen Ärger! Keine Ahnung, wer du bist! «Was bewegen wir noch?», sang Ruth, und ein Schwall von Vorschlägen kam zurück, erst verhalten – «Die Augenbrauen!», «Die Finger!» –, dann immer kecker – «Die Arme!», «Die Beine!» –, bis zu dem dröhnenden Befehl «DAS BECKEN!» Ruth Westerman wandte sich zum Eingang, von wo der Ruf gekommen war. Max klatschte weiter. «Das Becken!», wiederholte er. Sie brauchte einen Augenblick, um die Anregung zu verdauen. «Das Becken!», rief sie schließlich, aufreizend die Hüften schwenkend. Nach einer kurzen Irritation über die neue Choreographie machten auch die Senioren mit, schaukelten und wiegten sich bereitwillig.

Samson kam in den Sinn, dass die gerade ihren Unterleib verdrehende Ruth Westerman («Es geht rund! Rund! Rund!») ungefähr im gleichen Alter sein musste wie seine Mutter, wenn sie noch am Leben wäre. Dass Ruth Westerman hier mit lauter Greisen eine anzügliche Tanzscharade anführte, während seine Mutter für alle Ewigkeit still in einer Kiste lag, war zu viel des Guten. Er wollte nur noch zu ihr, ihr die letzte Ehre erweisen, seinen müden Kopf auf ihr Fleckchen Erde legen. Dann war alles egal. Dann konnte Ruth Westerman mit einem ganzen silbernen Bewegungsheer über sie hinwegmarschieren. Sollte sie doch! Er riss Max’ Rollstuhl herum und schnitt den stellvertretenden Kommandeur dieses Heeres, der sich, den Gang hinunterrollend, glücklich weiter auf den Schenkel klopfte, jäh von seiner Truppe ab.

Max’ Zimmer war klein und beengt. Sogar mit seinen persönlichen Sachen darin sah es aus wie im Krankenhaus, wie die unselig eingerichteten Zimmer jener Todkranken, die es aufgegeben haben, draußen Miete zu bezahlen. An der Wand hingen vier gerahmte Ansichten der italienischen Stadt aus der Vogelperspektive. Die schmalen, kreuzschraffierten Straßen und die winzigen Kirchen, alles war mit der zärtlichen, obsessiven Leidenschaft eines gekränkten Liebhabers gemalt. Das seltsamste und eindringlichste Bild zeigte die italienische Stadt aus Max’ Jugend nach innen gewölbt um den Globus geschlungen, als wäre nur sie auf der Welt zurückgeblieben, als dehnte und spannte sich ihre Geometrie rund um die Erde.

Neben den Zeichnungen gab es hauptsächlich Bücher. Eine Reihe von etwa zehn Bänden großformatiger, in schwarzes Leder gebundener Bücher stach Samson ins Auge. Es sah so aus, als würde es Max schwer fallen, sie aus dem Regal zu ziehen. Ihre deutschen Titel, ihr mächtiges Volumen und das einheitliche Schwarz ließen es Samson nicht unmöglich erscheinen, dass sie die Weisheit eines ganzen Lebens enthielten, dass vielleicht jede Einzelheit aus Max’ Gehirn akribisch in winziger Schrift darin festgehalten war, was es ihm erlaubte, die ewigen Jagdgründe des Vergessens zu durchstreifen.

Das Zimmer lag nach vorn hinaus, oberhalb der Rasenfläche, die sich vor dem Haus erstreckte. Aus dem Fenster sah Samson seinen Fahrer heftig zur Musik wippen. Er fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis der Mann die Schnauze voll hätte und ohne ihn davonführe.

«Magst du jetzt die Schokolade, Max?»

«Hast du Schokolade?»

«Ich dachte, du hättest welche

«Woher wusstest du das?» Max schien ehrlich überrascht. «Ganz zufällig habe ich welche. Nur wo ich sie hingetan habe, weiß ich nicht. Hier muss man alles verstecken. Lässt man was offen herumliegen, ziehen sie es ein. Und weg ist es.» Er schlug wütend in die Luft. «Irgendjemand, keine Ahnung, wer, hat mir mal Plätzchen geschickt. Wie sagt man noch, frisch gebacken. Sie gaben mir ein paar, und den Rest nahmen sie mit. Wegen meines hohen Blutdrucks. Drecksäcke.»

Die Bemerkung fiel in einem Ton, der Samson überraschte, ganz der Onkel Max, an den er sich erinnerte, der ironische und streitbare Mann, der sich den kleinlichen Befehlen der Verkehrspolizei nicht beugen wollte. Dass er hier enden sollte, wie ein Spürhund nach ein paar Krümeln illegaler Schokolade suchend, schien eine elende und grausame Erniedrigung. Samson entfuhr ein scharfer Seufzer. Max wandte sich ihm zu, die Augen klar und konzentriert, und einen Augenblick schien er seinen Großneffen tatsächlich wahrzunehmen. Dann löste sich der Moment in Wohlgefallen auf, und sein Gesicht fiel in trübe Gebrechlichkeit zurück. «Drecksäcke», sagte er noch einmal, als wiederholte er etwas, was er jemand anderen sagen gehört hatte.

Max wollte den Morgenrock ausziehen, also half Samson ihm auf die Beine und befreite ihn davon. Er war voller verkrusteter Flecken wie das verfilzte Fell eines verwilderten Haustieres. Darunter trug Max einen zerknitterten Schlafanzug, der nur bis zu den Schienbeinen reichte.

«Also gut.» Max rieb sich die Hände. «Los geht’s!»

Und los ging es. Samson tastete sich mühsam von Regal zu Regal, wie ein Kind auf der Suche nach dem Afikomen – Warm, warm, wärmer! –, während Max ihn aus dem Rollstuhl dirigierte: «Mach den kleinen Kasten auf. Das ist eine Spieluhr. Kennst du das Lied? Es ist ein Walzer. Ich weiß nicht, wo ich das herhabe. Aus Bayern vielleicht. Ist da Schokolade drin? Nein? Na gut, dann schau hinter dem Buch.» Wärmer, wärmer, KALT! Nicht hinter dem! Hinter dem dicken, weiter links. Guck nach, ob ich die Schokolade da versteckt habe. Nein? Na schön. Und was ist mit dem Tisch? Vielleicht liegt sie da.»

Samson durchkämmte das Durcheinander aus leeren Brillenetuis, kappenlosen Stiften, alten Scheckheften und einzeln herumfliegenden Ohrringen, wie ein Taucher den Grund einer überschwemmten Stadt absucht. Dies war der ganze Schrott, der am Ende eines Lebens blieb. Er rechnete nicht ernsthaft damit, die Schokolade zu finden. Vermutlich hatte es sie nie gegeben, und wenn doch, dann wahrscheinlich vor Jahrzehnten, ein lange verschollener Schokoriegel, der in Max’ Vorstellung das Eldorado der Süßigkeiten geworden war.

«Nein, nein, nein. Weiter», befahl Max, während Samson eine Schublade nach der anderen aufzog und durchsuchte.

Samson schloss das letzte Fach. Der Himmel wurde langsam dunkel. Die Aussicht, Max bald verlassen zu müssen, betrübte ihn, und einen Moment lang vergaß er, warum er gekommen war. Er nahm ein Glas Salbe vom Tisch und hielt es hoch.

«Was ist das?»

«Das? Zeig her.» Max hielt es sich nahe vors Gesicht, und als er das Schild trotzdem nicht entziffern konnte, schraubte er kurzerhand den Deckel ab und steckte die Nase hinein. Ein Schwall Mentholgeruch entströmte. Er runzelte die Stirn. «Oh, das. Das reiben sie mir manchmal auf die Brust, wenn ich Atemnot habe.»

«Wie wär’s, ich könnte dich jetzt gleich ein bisschen einreiben?»

«Bloß nicht!» Max schraubte hastig den Deckel wieder zu und versuchte Samson fortzuschieben. «Ich brauche es nicht! Es riecht fürchterlich. Wozu auch? Ich kriege gut Luft. Wick heißt das, glaube ich.»

«Warum nicht etwas draufmachen, bevor du Atemnot bekommst? Na los, raus aus der Schlafanzugjacke.»

Max wehrte sich, aber Samson packte ihn bei den Schultern und zog ihm das Oberteil aus. Besiegt, ohne Hemd, schlurfte der Boxer gehorsam zum Bett. Unter dem anregenden Einfluss heilsamer Wick-Dämpfe würde Max vielleicht den Namen des Friedhofs herausbringen. Samson fuhr mit dem Finger in die Salbe und schmierte einen Klumpen auf die ledrige Brust seines Großonkels. Max ließ die plötzliche Intimität ungerührt über sich ergehen. Entweder war er es gewöhnt, von Fremden angefasst zu werden, oder er war zu keiner Verwunderung mehr fähig. Seine Augen wurden glasig, während Samson die schrumpelige Haut des einst kräftigen und immer noch sehnigen Oberkörpers massierte.

«Wie fühlt sich das an?»

«Gut. Bestens. Es war nicht nötig, aber es ist gut so.»

«Ich muss dich was fragen, Onkel Max. Kannst du mir etwas sagen, tust du das für mich?»

«Sicher. Also, ich will es versuchen.»

«Erinnerst du dich an Beth?»

«Sicher. Süße Kleine. Lernte Steptanzen …»

«Sie ist tot, Max!», explodierte Samson. «Sie ist erwachsen geworden, sie hat aufgehört zu tanzen, und dann ist sie gestorben!»

Max versteifte sich, und sofort schalt Samson sich dafür, die Geduld verloren zu haben. Erschöpfung, der Druck des wartenden Taxis und die Traurigkeit, von Max nicht erkannt worden zu sein, hatten ihn nervös gemacht. Um Fassung ringend, rieb er seinem Großonkel das Wick in die Schultern, knetete die schlaffen Muskeln. Durch die Fingerspitzen spürte er die leichte Hitze auf der Haut.

«Es gibt so viel, was ich dir gern erzählen würde, wenn ich nur Zeit hätte und du verstehen könntest», begann er. Das einzige Zeichen dafür, dass Max ihn überhaupt hörte, war eine leichte Entspannung der Schultern. «Du würdest nicht glauben, was mir alles passiert ist. Ich bin so müde, ich könnte tagelang schlafen. Ich will mich nicht selbst bemitleiden – das tue ich wirklich nicht. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass ich eines Tages über all das lache. Dass ich irgendwo in einem Haus weit weg von allem in einem Zimmer sitze, einfach so, am Fenster, draußen die Blätter betrachte und plötzlich anfange zu lachen. Weil mir dann alles so lange her zu sein scheinen wird, in einer anderen Lebenszeit, als wäre es jemand anderem passiert.»

Er gab sich jetzt ganz seinem Monolog hin, beruhigt, wenn nicht verstanden, so doch wenigstens gehört zu werden, als spräche er über Radio, ohne zu wissen, ob seine Stimme irgend jemanden erreichte, aber in der Gewissheit, dass sie zumindest da draußen durch den Äther ging.

«Ich meine, wie oft kann man im Zeitraum eines Lebens schon jemand anders werden? Ein Leben ist doch nicht sehr lang, oder, Max? Du bist ein Kind, es ist Sommer, du zwinkerst einmal, und auf einmal sind Jahre – Jahre – vergangen. Und dann merkst du, du bist ein anderer geworden, aber dein Herz ist immer noch in dem verlorenen Kind gefangen. Was da in deiner Brust schlägt, ist nur eine Winzigkeit, ein Schatten dessen, was es war, als du es damals, unter dem Abendhimmel rennend, zum Bersten gefüllt empfunden hast.»

Samson seufzte und ließ die Hände auf den Schoß sinken. Max saß mit gebeugtem Kopf da, wie ins Gebet vertieft.

«Du hast Glück, Max, dass du dich an deine Frau erinnerst. Vielleicht sogar an meine. Sie heißt Anna, eine sehr schöne Frau. Immer wenn ich jetzt an sie denke, bin ich hingerissen von ihrer Schönheit. Sie ist die Sorte Frau, bei der man – wie soll ich das erklären? – nie weiß, was sie denkt. Vielleicht wusste auch nur ich es nie.» Er fragte sich, ob Max die Verzweiflung in seiner Stimme hörte. Schnell kam er zur Sache. «Aber ich sollte nicht so daherreden, tut mir Leid. Schau, ich möchte nur wissen, wo meine Mutter begraben ist.»

Max schwieg, und Samson hob die Hände vors Gesicht und drückte sie gegen die Augenlider, ohne noch an das Wick zu denken. Es brannte entsetzlich. Er eilte zum Waschbecken und hielt das Gesicht unter den Wasserhahn. Als er sich aufrichtete, waren seine Augen im Spiegel blutunterlaufen. Über die Schulter sah er einen verschwommenen Max, der strampelnd versuchte, auf die Beine zu kommen.

«Setz dich hin!», schrie er, indem er stolpernd der schwankenden Gestalt seines Großonkels zur Seite sprang. Er bedauerte den lauten Ton, als Max wie eine Puppe auf das Bett zurückfiel und blinzelnd und mit hängendem Kopf da saß. Freundlich, jede Silbe sorgfältig aussprechend, gegen Kräfte kämpfend, die weit stärker waren als er selbst und Max, als dieser kleine Raum am Ende eines Lebens, bohrte Samson weiter. «Ist sie dort begraben, wo die anderen liegen? Neben Tante Clara vielleicht? Wo ist der Friedhof, Max?»

Es folgte ein langes Schweigen, und dann, wundersamerweise, antwortete Max.

«Dort ist sie nicht», murmelte er.

HEISS! Du verbrennst dich! Noch unter strömenden Tränen begann Samson erneut, Max’ Schulter zu bearbeiten, regte die Durchblutung des Gehirns an, um den Funken des Erkennens zu nähren.

«Dort nicht? Wo dann? Auf dem Friedhof bei den anderen? Warum nicht?»

«Nicht dort. Nein.»

Max stürzte sich jäh auf das Wick-Glas, wie um jeder weiteren Befragung ein Ende zu setzen. Nein, nein, nein. Weiter. Der Deckel fiel herunter und rollte über den Boden. «Sie reiben mir nicht den Rücken damit ein», sagte Max empört.

«Nein? Tun sie das nicht? Warum nicht? Das tut den Lungen gut, von hinten.» Samson zog den Stuhl vom Tisch heran und pflanzte sich vor Max auf. «Warum ist sie nicht auf dem Friedhof, Max?»

Ein schmerzlicher Ausdruck durchzuckte Max’ Gesicht. Er klopfte sich aufs Bein, als sendete er ein Notsignal. Samson packte ihn fest bei den Schultern.

«Bitte, ich flehe dich an. Wo ist sie, wenn nicht auf dem Friedhof?»

Max blickte auf, seine Augen leuchteten fieberhaft, von plötzlicher Klarheit erfüllt. Ohne Vorwarnung, wie bei einem unzulässigen Schlag in den Unterleib, antwortete er: «Eingeäschert.»

Der alte Mann wandte sich um und sah aus dem Fenster. Draußen herrschte dünnes blaues Licht. Gebeugt, halb nackt und mit Wick einbalsamiert, schien er schon der anderen Welt anzugehören.

Samson hatte seit achtundvierzig Stunden nicht geschlafen, seit dem Tag, bevor er Vegas verließ. War er wirklich erst heute im Morgengrauen in den Bus gestiegen? Ihm wurde schwindlig, weich in den Knien. Er rang nach Luft, sein Atem ging in kurzen Zügen. Er versuchte, das Fenster aufzureißen, aber es war fest verschlossen. Es war alles nur ein Scherz, ein absurder Traum. Er hatte sich auf seinen nächtlichen Wanderungen verlaufen, war aufgehalten, in einem zeitlosen Moment über den Dächern zum Stillstand gebracht worden, aber bald würde er wieder in seinem eigenen Bett aufwachen, in einer von Naturgesetzen und alltäglichen Pflichten beherrschten Welt. Schlaftrunken würde er sich durch den Flur zum Zimmer seiner Mutter tasten, und wenn er die Tür aufmachte, würde er sie schlafend finden, ihren Körper regelmäßig atmend, ihr rotes Kleid zerknittert auf dem Stuhl.

Halt suchend drückte er die Stirn gegen die Scheibe. Max hätte ihm ebenso gut erzählen können, man habe sie im All beerdigt, mit einer Fähre in den Weltraum geschossen und freigesetzt, das wehende Krankenhausnachthemd um den schwerelosen Körper.

Eingeäschert?

Ja, wie gesagt.

Du meinst, man hat sie in eine brennbare Kiste gelegt, die zusammengefalteten Kleider am Fußende, und sie in einen Ofen geschoben? Ich hätte ihre Knochen zermahlen lassen, um dann einen Behälter mit den Überresten, einer Handvoll rußigem Zeug, in Empfang zu nehmen?

Samson drehte sich um, aber Max hielt den Kopf gesenkt. Er wirkte sehr still, als hörte er zu, und Samson merkte, dass er gar nichts gesagt hatte, dass die Stimme, die er eben klar und deutlich vernommen hatte, aus seinem eigenen Kopf gedrungen war.

Er versuchte sich zu fassen. Eingeäschert? Sie hätte ebenso gut auf einem Berggipfel des Himalaja in Stücke gehackt und den lauernden Geiern zum Fraß überlassen worden sein können, so grauenhaft exotisch, so unerwartet war diese Neuigkeit. Sie musste es gewollt, es irgendwo niedergeschrieben haben, denn von sich aus konnte er die Sache unmöglich in die Hand genommen und den Körper seiner Mutter dem Feuer überantwortet haben, niemals, auch nicht in der unberechenbarsten Trauer. Und was hatte er damals schon von Trauer gewusst?

Es war, als wäre eine Tür zugeschlagen. Zwielicht hatte sich im Zimmer verbreitet und tauchte Max’ Gesicht in Schatten. In Samsons Kopf lief das Gespräch weiter.

Und die Asche? Was habe ich damit gemacht? An irgendeiner Aussichtsstelle in den Wind gestreut?

Die Asche?

Ja.

Erinnerst du dich nicht?

Kann ich nicht behaupten.

Hinter dem Haus.

Unserem alten Haus? Wo jetzt andere Leute wohnen, vollkommen Fremde – dort habe ich sie gelassen?

Nicht doch! Du hast sie begraben. Im Garten, unter dem Baum, wie heißt er noch?

Die Magnolie?

Richtig. Die Magnolie. Unter der hast du sie begraben.

Wo wir den Hund begraben hatten? Ich habe ihre Asche im Garten bei dem Hund begraben?

Ja, bei dem Hund.

Und das war meine Idee?

Was weiß ich?

Machst du Witze?

Nein, mache ich nicht. Nein. Weiter.

Erinnerst du dich, Max? Weißt du, wer ich bin?

Du?

 

Max rührte sich nicht, sein Kopf ruhte auf der Brust. Er war eingeschlafen. Die ganze Prozedur war ihm zu viel geworden, also hatte er einfach den Kopf eingezogen und sich abgemeldet.

Samson fuhr mit einem Finger über die Buchrücken, versuchte, sich zu beruhigen. Er überlegte, was Ray wohl jetzt gerade tat, ob er weitermachte mit seinem Projekt, ob er schon einen neuen Output am Flughafen abgeholt und den Mann in seinem schnieken weißen Cabrio nach Hause gefahren hatte. Ob er das ganze Spiel wieder von vorn durchspielte, samt Haus und Disteltee. Denn Ray glaubte wirklich an das Gute seiner Arbeit. Er würde den Mann als wertvolles Opfer für etwas Größeres betrachten; und er ließe ihn diesen Wert spüren. Einen kurzen Augenblick erwog Samson, jemanden anzurufen – die Polizei, irgendwelche Journalisten – und sie zu dem Labor in der Wüste zu führen, um den Mann vor Schaden zu bewahren und die ganze Sache als das bloßzustellen, was sie war, nämlich mitnichten ein Fortschritt, sondern eine traurige und gefährliche Angelegenheit. Aber wer würde auf ihn hören? Er war sich ziemlich sicher, wenn er nach Clearwater zurückkehrte, würde es spurlos verschwunden sein, über Nacht abgebaut und in Kisten verpackt, kein Fitzelchen mehr übrig. Wo es einst gestanden hatte, nur das leise Zischeln der Wüste. Vielleicht würde er eines Tages, irgendwann in der Zukunft, wenn seine Wut verflogen wäre und er – gestützt auf Erinnerung und Weisheit – mit ebenso überzeugender Eloquenz reden könnte wie Ray, den Doktor aufsuchen und ihm sagen, was für einen unmöglichen Fehler er gemacht hatte.

Samson blieb vor den dicken schwarzen Bänden stehen. Mit beiden Händen zog er einen heraus und schlug ihn auf, erstaunt über sein Gewicht. Er blätterte die Seiten durch, Druckspalten deutscher Wörter. Ein Lexikon, das war alles, eine streng wissenschaftliche Ausgabe mit den ganzen Einzelheiten der endlosen Laufbahn jedes einzelnen Wortes. Beim Sprechen hatte Max einen kaum hörbaren Akzent, eine leise Härte, weich geschliffen wie vom Meer abgestumpftes Glas.

Draußen ertönte ein durchdringender Klagelaut, der Taxifahrer drückte auf die Hupe. Samson stellte das Buch ins Regal zurück. Er begann, wie ferngesteuert zu agieren. Das Hupen ging weiter, während er mit automatischen Bewegungen seinem Großonkel wieder in die Schlafanzugjacke und in den Frotteemantel half. Max’ Augen flatterten, einen Augenblick setzte ihm der Atem aus, kam keuchend zurück wie bei einem schlaftrunkenen Kind.

Du?

Die vier Ansichten der italienischen Stadt an der Wand waren in Dunkelheit getaucht. Jetzt hörte das Hupen auf – Stille, die Segnung des Schweigens. Ein Tropfen Speichel sammelte sich in Max’ Mundwinkel. Brachten sie ihn hin und wieder an die frische Luft, ans Licht hinaus, fragte sich Samson. Schoben sie ihn einmal am Tag in den Innenhof, damit er die Sonne auf dem Gesicht spürte, die Blätter rauschen und die Tauben gurren hörte? War es wirklich möglich, dass er, Samson, seinen Onkel hierher gebracht hatte? Er wollte ihn jetzt nicht im Stich, ihn nicht allein und verborgen dem Tod entgegentreiben lassen. Er wünschte, er könnte sich um ihn kümmern, in seinen letzten Tagen bei ihm sein, sie beide zusammen irgendwo in einem Haus, wo Zeit wäre, zu reden – ja sogar Zeit, sich zu erinnern.

Durchs Fenster färbte sich der Himmel in ein tiefer werdendes Blau, jener flüchtige Moment zwischen Tag und Nacht, in dem die alles einebnende Dunkelheit plötzlich in Unendlichkeit umschlägt. Samson pochte das Herz. In seinem Kopf raste es, obwohl er keinen klaren Gedanken fassen konnte, nur ein fieberhaftes Schuldbewusstsein empfand.

Er hob Max mit den Armen auf, überrascht, wie leicht er war, als hätte er die hohlen Knochen eines Vogels. Behutsam setzte er ihn in den Rollstuhl und öffnete die Tür. Als er den Gang hinuntereilte, dem schlummernden Max eine letzte Prise Freiheit zu verschaffen, war er schon darauf gefasst, eine Stimme würde «Sammy Greene!» hinter ihnen herrufen. Aber der Aufsichtsdienst hatte gewechselt, und die über ein Buch gebeugte Frau merkte nichts, als das fliehende Paar leise vorbeihuschte.

Draußen stand der Mond hoch und klar am Himmel. In schlingernder Fahrt ging es die Behindertenrampe hinunter. Und langsam, so langsam, wie sich ein Sonnengewächs dem Licht zuwendet, hob der alte Mann den Kopf. Aus der Stereoanlage des Taxis ertönte Hurrageschrei, tosender Beifall brach über die leere Straße herein.

Kommt ein Mann ins Zimmer
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