Samson wurde wach, als der Wecker klingelte, und fühlte Anna wach werden, sich herumwälzen und aus dem Bett klettern. Ihre nackten Füße auf dem Holzboden. Platschendes Wasser im Waschbecken, die Dusche. Er lag still unter der Decke, während sie sich umzog, bewahrte sie als eine Sinneswahrnehmung, eine Reihe von Geräuschen. Dann fühlte er, wie sie über ihm stand, den Kopf zu ihm hinunterbeugte. Als ihre Lippen seine Stirn berührten, schlug er die Augen auf, lange genug, um ihr Gesicht zu erfassen. Dann schlug er sie wieder zu und wartete auf die Geräusche des Hundes im Flur, des sich im Schloss drehenden Schlüssels.

Jetzt war er schon einen Monat zu Hause und hatte mit Anna ein notdürftiges Dasein improvisiert. Sie vermieden Themen, von denen sie beide wussten, dass sie wie Störungszonen den Boden unter ihnen aufzureißen drohten. Stattdessen redeten sie über Dinge, die Samson immer noch nicht in den Kopf wollten: den Zusammenbruch der Sowjetunion, dass die Russen jetzt unsere dicken Freunde waren, dass sich niemand mehr besonders um die Gefahr eines Atomkriegs zu sorgen schien.

Wenn Freunde anriefen, die unbedingt mit Samson sprechen wollten, steckte Anna ihm, wer sie waren, bevor er widerstrebend zum Hörer griff. Am Ende ließ er es bleiben, nahm die Anrufe nicht mehr entgegen und hörte aus dem Nebenzimmer zu, wie Anna in matten und gedämpften Tönen über seinen Zustand sprach: Die Untersuchungen hätten keine Hinweise auf ein Nachwachsen des Tumors ergeben; er sei immer noch in ärztlicher Behandlung; nein, keine Erinnerungen, nichts, was über die Kindheit hinausgehe; sie sei ihm vollkommen fremd, und er selbst sei wie ausgewechselt, gar nicht mehr dieselbe Person.

Sie ging auf und ab, während sie sprach, und manchmal weinte sie ins Telefon.

Manchmal trafen sie auf der Straße Leute, die er einmal gekannt hatte. Die meisten zogen ein seltsam schmerzliches Gesicht, aber andere machten auch fröhlichere Scherze oder erzählten lustige Dinge, die Samson einmal getan oder gesagt hatte, was für wunderbare Zeiten sie miteinander verbracht hatten. Im Weggehen versprachen sie, bald anzurufen, und manche taten es, andere nicht.

Als er endlich den Mut aufbrachte, Anna zu fragen, was seiner Mutter zugestoßen sei, legte sie eine Pause ein und berührte sein Gesicht.

«Sie hatte Krebs. Es ist fünf Jahre her.»

Er wusste nicht, was er erwartet hatte, doch als er das hörte, wurde ihm der Tod seiner Mutter plötzlich hart und schneidend bewusst. Obwohl er versuchte, gute Miene zu allem zu machen, was man ihn zu akzeptieren zwang, gab es Momente, da schien es ihm zu viel verlangt. Dass der Sowjetkommunismus gestürzt, dass Gouverneur Reagan Präsident geworden, dass John Lennon ermordet worden war – schön und gut. Dass seine Mutter, außer der er keine unmittelbare Familie hatte, nicht mehr existierte, stand auf einem ganz anderen Blatt. Er brach zusammen, hielt sich schützend die Hände vors Gesicht, und dann war Annas Körper da, an seinem, gab ihm Halt.

«Ich weiß», flüsterte sie ihm ins Haar.

Minuten vergingen. Als er sich entwand und sie ansah, wirkte ihr Gesicht starr und fremd.

«Konnte ich mich noch verabschieden?»

«Ja. Es ging sehr schnell. Aber du warst bei ihr. Bis zum letzten Atemzug hast du an ihrem Bett gesessen.»

Das war alles, was zu fragen er ertragen konnte. Bald begann er zu akzeptieren, dass seine Mutter nicht mehr war, aber er konnte sich nur schwer an den Gedanken gewöhnen, dass Anna Dinge über sie wusste, die er jetzt nicht mehr wusste: wie sie alt geworden war, ihre letzten Worte. Der Gedanke daran bereitete ihm Schuldgefühle, als hätte er seine Mutter im Stich gelassen, eine Fremde zur Erinnerung bestellt.

Ein paar Tage später, als er zuschaute, wie Anna den Hund an die Leine nahm, um ihn Gassi zu führen, fragte er: «War sie früh oder spät?»

«Hmm? Was meinst du?»

«Meine Mutter. Wenn du ihre Gewohnheiten beschreiben solltest, war sie eher pünktlich oder zu spät?»

«Immer zu spät. So war sie doch schon, als du ein Kind warst, stimmt’s?»

«Was war ihre Lieblingsfarbe?»

Er hörte die Kälte in seiner Stimme. Anna schwieg, sah ihn forschend an.

«Ist das ein Test?» Sie lehnte an der Tür, hielt seinem Blick stand, ehe sie antwortete. «Blau. Sie trug es andauernd, weil es zu ihren Augen passte. Sie waren blau, aber manchmal wirkten sie grau, und am Ende sah sie nicht mehr gut. Sie hatte drei Brillen, konnte aber nie eine finden. Sie war sehr stolz und wollte nichts von irgendjemandem annehmen. Sie rief dich an, um dir Witze zu erzählen, vergaß aber manchmal deinen Geburtstag.»

«Schon gut. Hör auf.»

«Dein Geburtstag: Frühgeburt, 29. Januar 1964.» Sie sprach jetzt hastig, und zum ersten Mal bemerkte Samson ein leichtes Lispeln, etwas an ihrer Art zu sprechen, das ihr aus der Kindheit geblieben war. «Niemand erinnert sich an deine ersten Worte. Am ersten Tag im Kindergarten bist du auf das Schaukelpferd geklettert und hast geschrien, sobald sich jemand näherte. Du wolltest Astronaut werden.»

«Schon gut, Anna. Tut mir Leid. Ich hätte nicht …»

«Wie wär’s damit: das erste Mal, dass du einen stehen hattest, war kurz vor deinem zwölften Geburtstag. Du bist – ja, jetzt fällt’s mir wieder ein –, du hast gesagt, du seist schwimmen gegangen und habest dann in der Badehose in der Sonne gelegen. Der Hund war bei dir, an dich geschmiegt.»

Entsetzt starrte er sie an. Es war, wie wenn man Kontakt zu Außerirdischen aufnimmt und nichts anderes erfährt, als dass sie einen schon seit Jahren beobachten. Sein Bewusstsein mochte noch so rein gewaschen sein – Anna würde alles Schreckliche oder Beschämende, was er je getan oder gesagt und jetzt vergessen hatte, in Erinnerung bewahren.

«Ich glaube, ich habe genug gehört.»

«Ich glaube nicht. Es gibt noch viel mehr, es nimmt kein Ende, verstehst du?» Sie packte ihn hart am Handgelenk, dass er zusammenzuckte. «Und was weißt du über mich? Du wolltest einen Test, hier hast du ihn: Sag mir, was zum Teufel du über mich weißt.»

«Ich weiß nicht.»

Sie ließ seine Hand fallen. «Du weißt nicht. Du weißt nicht!», schrie sie mit überschnappender Stimme. «Und das Schlimmste an der ganzen Sache ist, ich liebe dich immer noch. Ich habe dich verloren, und doch bist du noch hier. Um mich zu verhöhnen. Begreifst du das? Hast du noch einen Funken Empathie, eine Ahnung, wie das ist?»

Ein Schluchzer, der irgendwo aus etwas Animalischem aufzusteigen schien, schüttelte ihren Körper. Samson nahm ihre Hand. Er rieb ihr Knie und klopfte ihr auf den Rücken, doch sie weinte nur umso heftiger. Er schwirrte um sie herum, wusste nicht, wohin mit seinen Armen, legte eine Hand vorsichtig um ihre Taille, die andere auf ihren Kopf und zog sie zu sich hin, bis er sie irgendwie in seinen Armen hielt. Er spürte ihre Tränen an seinem Hals, aber das Schütteln ließ nach, und ihr Atem ging regelmäßiger, als er sie wiegte. Er staunte darüber, wie leicht sie sich ihm anpasste, wie warm und klein sich ihr Körper anfühlte.

«Wann habe ich dich kennen gelernt?», fragte er ruhig.

«Es ist fast zehn Jahre her.»

«Du warst erst einundzwanzig.»

«Ja. Und du sechsundzwanzig.»

«Was mochtest du an mir? Am Anfang, meine ich.»

Anna wich zurück und sah überrascht zu ihm auf. «Du warst … bist …» Sie stockte. «Keiner war wie du.»

Fast hätte Samson gefragt, was er an ihr gemocht habe, aber ihm wurde bewusst, wie das klingen würde, also ließ er es bleiben.

«War ich gut im Bett?»

Über diese Frage war er selbst mindestens so überrascht wie Anna. Sie setzte ein komisches Lächeln auf und hob das Kinn. Aus dieser Nähe betrachtet verlor ihr Gesicht jede Schärfe; ihr Mund war warm und schmeckte nach Orangen.

 

Samson lag noch eine Weile im Bett, nachdem Anna arbeiten gegangen war. In der vergangenen Nacht hatten sie zum dritten Mal miteinander geschlafen, und gleich nachdem es vorbei gewesen war, war ihm eine Eiseskälte in die Glieder geschossen, und er hatte im Dunkeln nach seiner Unterwäsche und dem T-Shirt gekramt. Am liebsten hätte er rings um sich eine Grenze gezogen, sich in seiner Kränkung eingeigelt, damit die Frau, die ihn eben noch vor Lust hatte stöhnen lassen, sie nicht spürte. Sie hatte still und schmal in der Dunkelheit gelegen, aber nachdem eine halbe Stunde wortlos vergangen war, hatte er sich nicht davon abhalten können, sie erneut anzufassen, indem er sich mit den Fingern behutsam über ihren Bauch und hinauf zur Schwellung ihrer Brüste tastete, den straffen, gewölbten Körper unter seiner Hand fühlte.

Er stieg aus dem Bett, um ins Bad zu gehen. Er roch sie noch auf seiner Haut. Der Dunst ihrer Dusche hing in der Luft, hatte den Spiegel beschlagen lassen. Mit dem Finger schrieb er seinen Namen darauf, dann wischte er ihn weg. Sein Gesicht gewann langsam an Gestalt, die verschiedenen Züge fügten sich zu einem erkennbaren Ganzen, das ihn nicht mehr störte, wenn er es in Fensterscheiben oder Spiegeln vorbeiziehen sah. Um den roten Wulst des Narbengewebes begann Haar zu wachsen.

Er öffnete den Kleiderschrank und befühlte die säuberlich an Haken aufgehängten Seidenkrawatten, die gebügelten Leinenhemden, die Hosen aus feiner Wolle. Er entschied sich für einen grauen Anzug und eine gelb gemusterte Krawatte mit kleinen Vogelmotiven. Es bedurfte einiger Versuche, aber schließlich brachte er einen unbeholfenen Knoten zustande. Er hatte das verlorene Gewicht wieder zugesetzt und die Sachen passten wie angegossen; trotzdem fühlte er sich unwohl, ein Hochstapler. Er beschloss, sich so bald wie möglich neue Kleidung zu kaufen. Er setzte die Las-Vegas-Baseballkappe auf, die Anna ihm ins Krankenhaus mitgebracht hatte. Die Narbe war hässlich, getackert wie Eisenbahnschienen.

Anna hatte die Zeitung auf der Anrichte liegen gelassen. Er blätterte sie durch. Ein Artikel über das Klonen fiel ihm ins Auge, und er las ihn fasziniert von Anfang bis Ende. Sie hatten ein Schaf geklont, jetzt gab es zwei davon, und es stellte sich die Frage: Würden sie bald in der Lage sein, Menschen zu klonen?

Das Geschirr vom Abendessen stand noch auf dem Küchentisch, ebenso wenig abgeräumt wie das Fotoalbum, das Anna nach dem Dessert geholt hatte. Es war bei derselben Seite aufgeschlagen, die sie sich abends angesehen hatten – Fotos von ihrer Hochzeitsreise nach Rio fünf Jahre zuvor –, als Samson plötzlich aufgestanden war.

«Wo gehst du hin?», hatte Anna gefragt.

«Ein Stück spazieren.»

«Ist alles in Ordnung? Soll ich mitkommen?»

«Ich muss nur etwas an die Luft», hatte er gesagt.

Anna nickte. «Nimm den Hund mit.» An der Tür lief Frank schon aufgeregt im Kreis. Samson wusste, sie hatte das gesagt, weil sie fürchtete, er könne sich verlaufen oder überfallen werden.

Er ging nicht weit; nur um den Block, eine Runde nach der anderen, so oft, dass sogar Frank sich zu langweilen begann. Die Bilder – blendende Strandaufnahmen, ein ums andere Mal sie beide eng umschlungen – gingen ihm nicht aus dem Sinn. Als er an einer Ampel auf Grün wartete, dachte er eine Minute lang daran, nicht zurückzukehren. Ein dummer Gedanke, aber erregend, ihn zu denken.

Als er wiederkam, saß Anna auf der Couch und sah sich eine Abend-Talkshow an. Sie rauchte eine Zigarette.

«Ich wusste gar nicht, dass du rauchst.»

«Nur gelegentlich.»

Auf dem Bildschirm plauderte eine kichernde blonde Filmdiva mit dem Moderator belustigt über ihre Highschooljahre als dicke Nudel.

«Du hast lange geraucht», schob Anna nach.

«Wirklich?»

«Du hast aufgehört, als du anfingst zu unterrichten. Es war sehr sexy. Du nahmst immer so tiefe Züge.» Sie machte ihn nach, indem sie kräftig Rauch einsog, blinzelte und ihn dann aus dem Mundwinkel blies. «Alle deine Jeans hatten ein abgewetztes Viereck hinten auf der rechten Tasche.»

Samson sah sich auf einem glänzenden schwarzen Motorrad mit Teardrop-Tank, eine lässig wippende Zigarette zwischen den Lippen. «Bin ich Motorrad gefahren?»

Anna sah ihn seltsam an. «Nein.»

Sie hielt ihre Zigarette locker zwischen zwei Fingern. Es erstaunte ihn, wie leicht sie mit den Dingen umging, wie selbstverständlich sie ihr Leben mit den Hunderten von Gegenständen, die ihr in die Hände kamen, teilte.

«Wie fühlst du dich, Samson?» Sie zog die Knie an die Brust, legte den Kopf darauf und sah ihn an.

«Ganz gut.» Er lächelte schwach. «Und du?»

«Einsam.»

«Tut mir Leid», sagte er, streckte die Hand nach ihrem Knöchel aus und rieb den schmal gestreiften Gummiabdruck ihres Söckchens.

«Du kommst mir so weit weg vor.»

Samson nickte.

«Empfindest du das auch so?», fragte sie.

«Weit? Nein. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Als wäre ich …»

«Was?»

«Da. Bei mir selbst.»

«Aber du bist nicht du.»

«Ich fühle mich aber so.»

Ihr Gesicht verzerrte sich, und er glaubte, sie würde anfangen zu weinen.

«Bitte», flüsterte sie, die Knie hin und her wiegend. «Es kann immer noch wiederkommen. Es muss wiederkommen.»

«Anna …»

«Nein. Sag nichts.»

Er legte die Hände auf ihre Knie und hielt sie behutsam fest.

«Weißt du, manchmal habe ich das Gefühl, wir sind nur ein Haufen Gewohnheiten», sagte sie. «Die Gesten, die wir dauernd wiederholen, entsprechen nur unserem Bedürfnis, erkannt zu werden.» Ihre Augen fixierten den Fernseher, als läse sie dort Untertitel. «Ich meine, ohne sie wären wir gar nicht identifizierbar. Wir müssten uns andauernd neu erfinden.» Ihre Stimme war sanft, und Samson spürte, dass sie nicht mit ihm, sondern mit dem Mann auf den Fotos sprach.

Sie atmete aus und ließ die Zigarette in ein Glas fallen, wo sie zischend unterging, und als sie sich zum Zähneputzen erhob, beugte sie sich, verraucht wie ein Nachtklub, dicht über ihn und küsste ihn auf den Nacken. Das Gefühl ihrer Lippen blieb dort haften, während er zusah, wie die blonde Diva aufsprang und dem Publikum eine Kostprobe ihrer Cheerleading-Nummer gab, an die sie sich noch genau erinnerte, weil sie doch so dick, aber trotzdem Cheerleader gewesen war. Der Kuss blieb da, irgendwie heimatlos, ohne ein Sensorium, das ihn als gewöhnliches, tausendfach empfangenes Zeichen der Vertrautheit hätte registrieren und abhaken können. Er wusste, was Anna hatte wissen wollen: ob es möglich sei, einen Menschen ohne Gewohnheiten zu lieben.

 

Samson spülte das Geschirr, führte Frank spazieren und machte sich auf den Weg zu einer Elf-Uhr-Verabredung mit Dr. Lavell. Es war halb zehn, doch obwohl er noch reichlich Zeit hatte, hastete er, mit der Menge Schritt haltend, eilig über den Broadway. Die Schaufenster zogen ihn an, aber er fand es peinlich, stehen zu bleiben und zu gucken, den Strom zu behindern und andere zu zwingen, um ihn herum zu gehen. Er imitierte die Zielstrebigkeit dieser Leute, die alle etwas vorhatten, die jederzeit ihre Zukunftspläne skizzieren konnten und über kleine Telefone, die sie wie Walkie-Talkies abhörten, knappe Instruktionen empfingen.

Es war heiß draußen, und Samson schwitzte schon in seinem Anzug. Er zog die Jacke aus und hielt sie zerknittert an der Seite. Der Bahnsteig in der Subway war ein regelrechter Backofen, verbrauchte Luft, eingeschlossen in unterirdischen Gewölben, großen Wettergeneratoren für die Innenstadt. Er lauschte dem Donnern der Züge, die durch die Tunnels ein- und ausfuhren.

Unter den UV-Lampen des überfüllten stählernen Waggons wirkten die hilflosen Passagiere wie ein Wurf Mäusebabys. Samson fand einen Sitzplatz neben einem hünenhaften Jungen, dem größten, den er je gesehen hatte, gerade im Begriff, einem interessierten Mann mit heiterer Gelassenheit zu erklären, wie er ihm den Arm zweimal brechen könnte. Samsons Augen blieben an einem Mädchen hängen, das über den Gang gebeugt auf dem Lack roter Fingernägel kaute, eine von denen, die aussahen, als hätten sie die letzte Nacht nicht im eigenen Bett verbracht. Hätte sie aufgeblickt und ihn beim Starren erwischt, hätte er weggesehen, aber ihre Augen hafteten am Boden. Samson beobachtete sie bis zur Haltestelle 116th Street, wo sie aufstand und ihm einen treffsicher einstudierten gelangweilten Blick zuwarf, ehe sie verschwand. Samson schloss die Augen, und der Zug donnerte weiter durch die Dunkelheit.

Er konnte nicht umhin zu starren. Das erzählte er Lavell, worauf dieser einen berühmten Fotografen mit der Aussage zitierte, Starren sei das beste Mittel, um das Auge zu trainieren. Wenn jemand von etwas sprach, was Samson unbekannt war, fragte er oft nicht. Später würde er es nachschlagen. Er hing an Informationen, die er aus Büchern oder, besser noch, aus Zeitschriften beziehen konnte. Er verbrachte seine Zeit damit, zu lesen, was ihm in die Hände fiel.

Lavells Büro befand sich an einem fast vergessenen Gang des Neurologischen Instituts, mit einem Besenschrank am toten Ende. Auf dem Weg dorthin begegnete Samson einer Frau in Krankenhaushemd und rutschfesten Socken, die mit nervtötender Genauigkeit Mimik und Gesicht eines jeden, der vorüberging, nachahmte. Er versuchte wegzuschauen, doch aus dem Augenwinkel sah er sie ebenfalls wegschauen und sein Ausweichen karikieren.

Lavell hatte schon so viele Jahre am hintersten Ende des Flurs verbracht, dass sein Zimmer trotz weitläufiger Ausmaße beengt wirkte. Die Wandregale waren vom Boden bis zur Decke mit Büchern voll gestopft. Jede Oberfläche, auf der keine Papiere herumlagen, war mit medizinischen Accessoires bedeckt. Es gab Plastikmodelle des menschlichen Gehirns mit abnehmbaren Hälften, eine phrenologische Keramikbüste nach L. N. Fowler mit den psychogeographischen Regionen des Schmeichelhaften, der Jugendlichkeit, des sprühenden Verstandes. Ein Skelett stand neben einer weißen Magnettafel, auf der Lavell seinen Patienten manchmal Sachen illustrierte. Hier und dort lag etwas Spielzeug für Kinder, die zu ihm kamen, eingeschlossen im schalltoten Raum des Autismus.

«Wer ist die Frau?», fragte Samson, während er sich auf den Stuhl setzte, den der Doktor ihm mit einer Handbewegung zuwies.

«Welche Frau?»

«Die Besessene im Flur.»

«Marietta? Sie leidet unter Tourette – ein besonders schwerer Fall. Daher dieser Tic. Sie hat den unwiderstehlichen Impuls, alles nachzuahmen, was sie sieht.» Lavell hob einen Stummelfinger und rieb sich die Augenbraue. «Ein Kollege, tüchtiger Kerl, hat eine Fallstudie über sie geschrieben. Ob das Individuum Marietta wirklich existiert oder ob die überwältigenden, alles vereinnahmenden Impulse nur noch das Trugbild eines Menschen übrig lassen.» Er listete die großen Ticker aller Zeiten auf, einzeln und namentlich wie Rekordhalter in der Baseball Hall of Fame. Dann erzählte er von einem alten Medizinbuch, das mit der anonymen Denkschrift «Bekenntnisse eines Tic-Kranken» begann. «Haben Sie seit der Operation daran gedacht, selbst etwas zu schreiben? Tagebuch zu führen oder so?»

Samson war sich bewusst, dass Lavell das Gespräch absichtlich hier- und dorthin lenkte, dass er die leeren Schächte seines Geistes ausleuchtete. Aber er genoss ihre Unterhaltungen; Lavell schien nichts von ihm zu erwarten. Samson hatte das Gefühl, er könnte tun und sagen, was er wollte, auf dem Stuhl kauern oder wie ein Affe herumhampeln und Huuu! Huuu! kreischen, es würde Lavell keinen Kommentar entlocken.

Ein großer Asiate mit gesträubten Haaren öffnete die Tür und rief ein stakkatohaftes «Hei! Wie geht’s? Hei! Wie geht’s?» herein.

«Gut», erwiderte Lavell knapp und wandte sein Augenmerk wieder Samson zu, redete weiter, bis der Mann leise die Tür zumachte und seiner Wege ging.

«Und wie geht’s Ihnen?», fragte er dann, indem er sich zurücklehnte.

«Oh, ganz gut, glaube ich.»

«Wie läuft es mit Anna?»

Es gab so viel, was Samson hätte fragen mögen, wie oft ein durchschnittlicher Mann von sechsunddreißig Jahren täglich masturbierte beispielsweise und wie oft verheiratete Paare miteinander schliefen. Am liebsten hätte er Lavell einen ganzen Fragebogen vorgelegt, wie der Körper einer Frau funktioniere, was zu tun sei, damit sie schrie und stöhnte und ihm Blumen zu Füßen warf. Aber er brachte es nicht über sich. Es war zu beschämend, vor allem, weil es nicht unwahrscheinlich schien, dass seine Fragen mit Lehrbuchabbildungen beantwortet würden, die das ganze erotische Geheimnis zu einer Abfolge von Bewegungen verkommen ließen, geordnet wie ein Square Dance.

Lavell lehnte sich wartend zurück. Sein Stuhl knackte. Wir haben es gemacht!, wollte Samson schreien; stattdessen hustete er und sagte: «Mit Anna? Eigentlich unverändert. Neulich war sie ziemlich aufgebracht.»

«Ja?»

«Sie fragte mich, ob ich noch einen Funken Empathie hätte. Für sie, für alles, was sie jetzt gerade durchmacht.»

«Und?»

«Es ist traurig. Manchmal setzt sie so eine Miene auf, bei der mich ganz furchtbare Gefühle überkommen. Aber ich glaube, im Augenblick fällt es mir schon schwer genug, herauszufinden, wie ich mich selber fühlen soll – es ist schwierig, mir auch nur ansatzweise vorzustellen, wie es für sie sein mag.»

«Interessante Wortwahl, Empathie.»

«Warum?»

«Aus ebendem Grund, den Sie genannt haben. Empathie ist die Fähigkeit, sich in jemand anderen einzufühlen oder mit ihm mitzufühlen. Dafür muss man sich auf die Erinnerung stützen, etwas Ähnliches selbst erlebt zu haben – genau das, was Ihnen unmöglich ist.»

«Wie wahr.»

Lavell hob die Hände. «Und, was haben Sie ihr gesagt?»

«Ich habe sie in den Arm genommen. Sie weinte, also schloss ich sie in die Arme.»

«Gut gemacht», sagte Lavell.

Schließlich landeten sie, wie so oft, bei seiner Kindheit. Die Erinnerungen kehrten in keiner erkennbaren Ordnung zurück. Warum diese oder jene in einem bestimmten Moment auftauchte, wusste er nicht. Es zu wissen hätte bedeutet, den Lauf der Dinge zu verstehen.

Dann kehrte ihr Gespräch wieder an die Oberfläche der Gegenwart zurück, durchbrach das Geräusch draußen in den Bäumen zankender Vögel, und gleichsam aus der Luft gegriffen fragte Lavell: «Wissen Sie, wie es sich anfühlt, verliebt zu sein?» Zwischen seinen fleischigen Lippen schien das Wort fehl am Platz. Samson dachte an Jollie Lambird, was ihn verlegen machte, und er senkte den Blick auf seine Schuhe, die er zu glänzend fand.

«Ich weiß nicht. Vielleicht.»

«Und was ist mit Anna?»

«Schauen Sie, es ist alles etwas verwirrend.»

«Das will ich meinen. Ein Augenblick vergeht» – Lavell schnipste mit den Fingern –, «und plötzlich sind Sie verheiratet. Das haut jeden um.»

Samson stellte sich Anna vor, wie sie sich am Morgen über ihn gebeugt hatte. «Sie ist hübsch. Wunderschön und nett und hat nichts, was nicht liebenswert wäre. Aber warum sie und keine andere?»

«Das, müssen wir annehmen, ist eine Wahl, die Sie nach Erfahrungen mit anderen Frauen vor Anna getroffen haben.»

«Aber wer ist sie? Mitten in der Nacht wache ich auf, und sie liegt neben mir. Manchmal hält sie im Schlaf den Atem an. Ihr Kopf sinkt aufs Kissen, in einer Minute ist sie weg, und dann hört sie plötzlich auf zu atmen. Als wäre sie gerade in einen kalten See gesprungen. Wie die plötzliche Offenbarung ihres Selbstbewusst -»

«Ihres Unbewussten.»

«Ihres Unbewussten, als hätte es ihr einen Schrecken eingejagt. Manchmal möchte ich ihr auf den Rücken klopfen, damit sie wieder Luft holt, aber immer, wenn ich glaube, jetzt läuft sie gleich blau an, setzt der Atem wieder ein, als hätte er nie ausgesetzt, als wäre sie nicht so nahe dran gewesen.» Samson zeigte einen winzigen Spalt zwischen zwei Fingern.

«Nahe an was?»

«An dem Ort jenseits der Grenze all dessen, was sie sicher weiß. Dem gleichen Ort, an dem ich aufgewacht bin.»

«Sie hatten eine Hirnverletzung. Glauben Sie nicht, dass da ein Zusammenhang – ein schrecklicher Zusammenhang – mit Ihrer Amnesie besteht? Das zerstörerische Werk des Tumors …»

«Ich weiß, ich weiß. Ein bisschen weiter links oder rechts, und ich hätte nicht mal mehr gewusst, wie man aufs Klo geht. Vielleicht hätte ich auch in einem ewigen Jetzt gelebt, ohne Erinnerung an die eben vergangene Minute. Oder ich hätte meine Empfindungsfähigkeit verloren. Ich hatte Glück, sicher. Im Großen und Ganzen ist das, was ich verloren habe, fast … zu vernachlässigen. Aber ein Elend ist es trotzdem: Ich wache in kalten Schweiß gebadet mit dem Gedanken auf: Wer war ich? Was war mir wichtig? Was fand ich lustig, traurig, dumm, schmerzlich? War ich glücklich? All diese Erinnerungen, die ich gesammelt hatte, weg. Und wenn nur eine hätte bleiben können, welche hätte ich behalten?»

«Sie sagten, Anna höre auf zu atmen, wenn sie schläft. Und dass Sie dann denken, sie sei ‹so nahe› dran. An was?»

«Am Vergessen, schätze ich. Wo ich war, als sie mich in Nevada fanden. Und jetzt bin ich von dort zurück und kann nie wieder derselbe sein.»

«Wie war es, dieses Vergessen?»

Samson zuckte die Achseln. «Ich erinnere mich nicht.»

«Denken Sie nicht manchmal, es könnte Leute geben, die Sie beneiden?»

«Die müssten verrückt sein.»

«Na schön, und wie wäre es damit: Wenn Sie Ihr Gedächtnis auf der Stelle wiederhaben könnten, würden Sie es nehmen?»

«He, auf wessen Seite stehen Sie eigentlich?», fragte Samson. Um das Thema zu wechseln, erzählte er Lavell von dem Artikel über das Klonen, den er morgens in der Zeitung gelesen hatte. Als Junge hatte die Wissenschaft ihn immer angezogen, die Entdeckung wundersamer Dinge, der Wettlauf um neue Erkenntnisse über die Erde, die Menschen, den Himmel. Auch jetzt faszinierte ihn der Gedanke, dass man vielleicht in fünfzig oder hundert Jahren jedes Neugeborene würde klonen können. «Einen Ersatz», sagte er, «für den Fall, dass etwas Tragisches passiert.»

Lavell zog eine Augenbraue hoch.

«Im Ernst. Sie könnten den Ersatz irgendwo draußen auf einer Art Farm halten, nur mit etwas Sport und frischer Luft, damit er fit ist, wenn er gerufen wird. Und eines Tages ist es dann so weit – ein Flugzeugabsturz, Krebs oder ein Skiunfall.» Samson dachte eine Sekunde nach. «Alles, außer Selbstmord, denn Selbstmord würde das Ende bedeuten, das Original wollte Schluss machen und basta.»

«Er wird also gerufen.»

«Ja, und jetzt haben wir ein Problem, nicht wahr, weil der Ersatz vom Leben des Originals keine Ahnung hat. Also gut, mag sein, er hat in Fortsetzungen, die ihm jeden Monat auf die Farm geliefert wurden, darüber gelesen. Trotzdem, die intimen Dinge kennt er nicht.»

«Die Kosenamen, die das Original seiner Frau zugeflüstert hat?»

«Solche Sachen, ja. Es sieht so aus, als könnte das Klonen ein totaler Reinfall werden, und was dann, was tun die Wissenschaftler dann?

Er hielt Lavells Blick eine Runde lang stand wie ein Bühnenkünstler, ein Stegreifkomiker, Trommelwirbel bitte.

«Sie entwickeln eine Möglichkeit, dem Original das Gedächtnis wie eine Schublade herauszuziehen und es in den Ersatz zu schieben. Das ganze Ding, sämtliche Lebenserfahrungen, alles. Na bitte. Den Typen könnte niemand mehr vom Original unterscheiden, höchstens physisch, weil er nicht dieselben Narben hat.» Samson setzte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Er freute sich über die Idee, freute sich über die plötzliche Leichtigkeit des Redens, wenn nicht er selbst das Thema war.

«Ein interessanter Vorschlag. Ich kenne tatsächlich einen Arzt, der an so etwas arbeitet. Nicht am Klonen, sondern an der Sache mit dem Gedächtnis. Daran, Erinnerungen von einem Gehirn in ein anderes zu verpflanzen und so weiter. Ein ziemliches Vorhaben, wenn Sie mich fragen. Aber zurück zu Ihrem Szenario. Ich frage mich rein theoretisch, was passieren würde, wenn das Gedächtnis des Originals, wie in Ihrem Fall, beschädigt ist?»

Samson dachte kurz nach. «In diesem Fall müsste ich, das Original, meine Rolle als Schlüsselfigur aufgeben, der Ersatz träte in den Vordergrund und hätte seine Sternstunde.»

«Das Gedächtnis verlieren hieße also, die Stellung als Original einbüßen?»

«Richtig.»

Die Tür zu Lavells Büro öffnete sich quietschend, und der leutselige Asiate steckte den Kopf herein. Als er sie sah, verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen, und er schien etwas sagen zu wollen, besann sich aber eines Besseren und schloss die Tür.

«Es gibt zwei Lionel-Richie-Songs, die er laufend singt. Bitten Sie ihn, Say You, Say Me zu singen, wenn Sie gehen.»

Auf dem Weg nach draußen kam Samson an Marietta vorbei, die im Foyer vor dem Fernseher saß und in ihrer Pantomimensucht die Schauspielkünste einer Seifenoper imitierte. Der Asiate wollte nicht Say You, Say Me singen, sondern schmetterte stattdessen, von Handbewegungen begleitet, in bebendem Falsett: Hello, is it me you’re looking for?

Kommt ein Mann ins Zimmer
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