Er hörte auf zu schlafen. Er war erschöpft, wollte aber wach bleiben, damit ihm nichts entging. Er fühlte sich, als wäre er endlich wieder bei sich selbst. Die Erinnerung, die ihm in den Kopf geladen worden war, brach den Bann, der ihn seit dem Aufwachen nach der Operation beherrschte. Ihm war, als hätte er das vergangene Jahr in einem Trancezustand gelebt. Eine dissoziative Fugue, hatte er Lavell einmal sagen hören, um zu beschreiben, in welchem Zustand er gefunden worden sei, ohne sich an seinen eigenen Namen zu erinnern. Fuge, wie Fluch oder Flucht. Wie Beerdigungsmusik.

Er kam sich töricht vor, dass er sich so bereitwillig von Ray hatte indoktrinieren lassen, dass er hungrig gefressen hatte, was immer der Doktor ihm hinwarf. Er hatte ihm vertraut, weil er der Einzige war, der seinem Zustand einiges an Schönheit, an Wert abzugewinnen schien. Der Einzige, für den er nicht das Opfer einer sinnlosen Tragödie, sondern ein irgendwie auserwählter Mensch war. Dabei wusste Samson fast nichts von ihm. Der einzige Beweis, dass er Ray überhaupt kannte, war die Erinnerung, die ihm, wenn er sie nicht bewusst unterdrückte, ständig im Kopf herumspukte. Es war eine aus dem Moment heraus entstandene Beziehung, experimentell erprobt bei einem Versuch, jenseits dessen alles, was dabei stattfand, folgenlos sein sollte. Ray war kein schlechter Mensch, nur einer, der sich von seinen Visionen irreführen ließ, der für die Jagd nach einer fernen, ungewissen Sache alle Schuldgefühle abgestreift hatte.

Im Morgengrauen verließ Samson das Motel und ging zum Busbahnhof. Seit dem Zwischenfall im Krankenhaus war er nervös, jeden Moment darauf gefasst, dass die Polizei vor seinem Zimmer stand. Er überlegte kurz, ob er nach L.A. zurückfahren sollte, um Lana zu besuchen, entschied sich aber dagegen. Er wollte nicht deprimiert und stinkend dort auftauchen, um ihr und Winn, die jung und verliebt waren, ihr ganzes Leben vor sich hatten, auf die Nerven zu gehen. Was konnte sie jetzt schon noch für ihn tun? Er dachte daran, nach Kalifornien zurückzugehen, seine alten Straßen aufzusuchen und das Haus, in dem er aufgewachsen war. Er hatte das sichere Gefühl, er müsse dorthin unterwegs gewesen sein, als sie ihn vor einem Jahr in der Wüste gefunden hatten, und jetzt schien es genau richtig, diese Reise zu vollenden. Aber am Busbahnhof angekommen, verlor er den Glauben daran und saß teilnahmslos auf der Bank, während knatternd Leben in die Busse kam und der heller werdende Himmel ihr Scheinwerferlicht schluckte. Er stützte den Kopf in die Hände. Seine Augen brannten von zu wenig Schlaf.

Ein staubiger Greyhound bot direkte Verbindung nach Santa Cruz, und während der Fahrer sich die Beine vertrat und im Bahnhofsgebäude Smalltalk machte, stieg ein Mädchen die Stufen hinauf und schielte hinein. Es saß noch niemand drin, sie trat den Rückzug an, blickte sich prüfend um und stieg verstohlen wie eine Diebin wieder ein. Sie wählte einen Platz hinten am Fenster. Als sie den Kopf gegen die Scheibe lehnte, holte Samson tief Atem, weil ihr kleines herzförmiges Gesicht Annas so ähnlich sah. Er hätte fast glauben können, durch einen Fehler in der Zeit sei es Anna, achtzehn oder neunzehn Jahre alt, erst vor einer Stunde im Bett ihrer Kindheit aufgewacht und schnell noch durch ihr Elternhaus geeilt, um jedem Zimmer einzeln Adieu zu sagen. Er wusste so wenig von seiner Frau. Am liebsten hätte er sie angerufen, um ihre Stimme zu hören, aber er wusste nicht, wie er auch nur anfangen sollte, ihr zu erklären, was alles passiert war und wie er sich fühlte, und zugleich wusste er, es wäre nicht fair, sie immer wieder zurückzuzerren, wenn sie in ihrem Leben endlich ohne ihn voranzukommen schien. Er hatte ihr während ihrer Arbeitszeit eine Nachricht hinterlassen, er sei nicht mehr in Clearwater und werde voraussichtlich eine Zeit lang nach Kalifornien zurückgehen. Das Letzte, was er wollte, war, dass sie sich Sorgen machte, er wäre wieder verschwunden.

Einige Fahrgäste folgten, dann stieg der Fahrer ein und ließ den Bus an. Als er langsam vom Parkplatz rollte, hing Samsons Blick noch immer an dem Mädchen. Plötzlich überkam ihn das Bedürfnis, mit ihr zu reden. Aufspringend brüllte er, der Bus solle halten. Die wenigen Menschen in der Nähe beobachteten stumm, wie er ihm stolpernd und die Arme schwenkend hinterherlief. Münzen fielen ihm aus den Taschen und flogen über den Boden. Er rannte nebenher, als der Bus auf die Straße rumpelte, bearbeitete ihn mit den Fäusten, und sogar nachdem er angehalten hatte, nachdem klar war, dass der Fahrer seinen Schrei ge- und erhört hatte, trommelte Samson noch gegen die Tür, nicht weil er irre gewesen wäre, sondern weil er es zunehmend genoss, sich gehen zu lassen. Eindruck machen, dachte er mit einem Gefühl bemerkenswerter Klarsicht, als der Fahrer die Tür öffnete und auf ihn hinunterstarrte.

Langsam, theatralisch, wie ein doppelt so alter Mann hievte sich Samson die Stufen hinauf. Er gab dem Fahrer zwei zerknüllte Zwanziger – ohne eine Ahnung zu haben, wie viel ein Ticket kosten mochte –, worauf dieser mürrisch das Gesicht verzog. Samson strafte ihn mit einem Seitenblick ab und wandte sich den Sitzreihen zu. Die fünf oder sechs Fahrgäste starrten ihn an. Er hielt am Anfang des Mittelganges inne, damit sie ihn ins Auge fassen, sein Leid erschnuppern konnten wie ein Rudel Wildhunde. Was hatte er zu verbergen? Sollten sie ihn ruhig verschlingen. Er erwiderte jeden Blick, während er nach hinten zu dem Mädchen ging, sich wie ein Verwundeter von Lehne zu Lehne hangelnd. Auch sie starrte ihn beunruhigt an. Er setzte sich neben sie, zog seine Jacke aus und faltete sie ruhig auf seinem Schoß zusammen. Das Mädchen wandte das Gesicht wieder dem Fenster zu. Ein unangenehmer Geruch wehte von irgendwoher, und Samson merkte, es war sein eigener, keineswegs kranker, sondern schierer Körpergeruch. Da ist jetzt nichts zu machen, dachte er und sah herausfordernd den Fahrer an, der am Anfang des Ganges stand. Ihre Blicke trafen sich, und einen Augenblick schien der ganze Bus den Atem anzuhalten.

«Was?», fragte das Mädchen.

Samson hatte nichts gesagt, drehte sich jetzt aber um und sah ihr ins Gesicht.

«Darf ich mich hier hersetzen?»

«Schon gut.»

Sie wandte sich wieder zum Fenster, die Hände gefaltet im Schoß. Aber indem sie die Stimme erhob, hatte sie die Dinge offenbar bereinigt, denn der Fahrer setzte sich kopfschüttelnd wieder ans Steuer und lenkte den Bus auf die Straße. In ihre Sitze versunken, schienen auch die anderen Passagiere Samson zu vergessen. Nur das Mädchen konnte ihn wegen seiner Nähe, seines Geruchs – weil er sie ausgewählt hatte – nicht ignorieren. Sie drückte sich ans Fenster, aber je mehr sie wegschaute, umso besser wusste er, dass sie ihn abschätzte. Er wollte reden, Sachen an ihr ausprobieren, mit einer üben, die so sehr wie ein junges Traumbild seiner Frau aussah.

Sie trug ausgefranste braune Kordhosen und ein schlackerndes gelbes T-Shirt, das über Haut und Knochen hing. Entweder gehörte es jemand anderem, oder sie hatte drastisch abgenommen. Ihr Haar wirkte wie gerupft und abgesägt. Um ihren Hals hing eine Schnur mit einem Kruzifix.

Als Las Vegas hinter ihnen zurückblieb und entschwand, bückte sie sich und zog ein kleines Buch aus dem Rucksack zu ihren Füßen. Es war viel gebraucht, die Seiten zerfleddert und geknickt. Die heilige Bibel stand in Goldbuchstaben auf dem Umschlag. Das Mädchen legte schützend die Hände um das Buch, hob es ans Fensterlicht. Samson beobachtete, wie sie las und lautlos die Lippen bewegte. Er zermarterte sich das Hirn, ob ihm nicht etwas, irgendetwas dazu einfiel. Immerhin war er Literaturprofessor gewesen, er musste das Neue Testament so gut gekannt haben wie jeder Christ, musste sich die blutigen, fanatischen Tode der einzelnen Heiligen so tief eingeprägt haben wie ein Fan die K. O.s berühmter Boxer, ob durch Feuer, durch Wasser, ob durch innere Blutungen nach einem schnellen Jab in den Magen.

«Ist die gut?»

Das Mädchen drehte sich um, blinzelte durch die Haarsträhnen, die ihr ungleichmäßig ins Gesicht fielen. Er unterdrückte den Impuls, das Haar beiseite zu schieben. Sie hatte nicht das Gesicht einer Gläubigen; es war entschieden zu misstrauisch.

«Die Bibel?», fragte sie.

Er hatte seine Fähigkeit, andere aus der Fassung zu bringen, erst kürzlich entdeckt; zur Zeit seines größten, überragenden Triumphes – als er aus New York verschwunden und ohne Gedächtnis in der Wüste wieder aufgetaucht war – war er nicht bei Sinnen gewesen. Der Schock musste von einer nicht mehr messbaren Größenordnung gewesen sein, und Anna allein hatte ihn erlitten.

«Die Bibel, ja. Finden Sie die gut?»

Sie schloss das Buch und wandte sich ihm zu. Abgesehen von der Form ihres Gesichts und dem dunklen Haar, war die Ähnlichkeit zu Anna aus der Nähe betrachtet doch nicht so groß. Sie hatte eine breite, flache Nase, die ihrem Ausdruck eine gewisse Dreistigkeit verlieh. Aber da war auch etwas – eine Zerbrechlichkeit vielleicht, oder ein feines Wahrnehmungsvermögen –, das sie mit seiner Frau teilte.

«Ob ich sie gut finde? Ich glaube, darum geht es ja wohl nicht.» Ihre Nasenlöcher weiteten sich, während sie sprach, dann wandte sie sich ab und malte ein paar Buchstaben an das schmutzige Fenster. Sie hatte lange, schmale, aristokratisch wirkende Finger, obwohl die Nägel stumpf und dreckig waren.

«Und worum geht es?»

Sie sah ihn aus schmalen Augen an, musterte ihn. Sie schien mit der Entscheidung zu ringen, ob sie den Platz wechseln sollte. Durchs Fenster flog die Wüste vorbei.

«Um das Heil. Die Erlösung», sagte sie schließlich nüchtern. Sie hob einen schlanken, sakral gereckten Finger an den Mund und kaute hingebungsvoll auf einem Stückchen eingerissener Nagelhaut. «Die Ehre Gottes. Des Pilgers Seelentrost.»

Nicht nur schmuddlige Fingernägel, auch das Gesicht sah ungewaschen aus. Wahrscheinlich hatte sie seit Tagen nicht geduscht. Samson fragte sich, ob nicht eher sie und gar nicht er den Geruch verströmte. Vielleicht auch sie beide, zwei muffelnde Pilger hinten im Bus.

«Großartig. Lesen Sie mir etwas vor?»

«Im Ernst?»

«Sicher. Wer will das nicht, Heil, Erlösung? Auf jeden Fall. Geben Sie mir die Ehre. Ich sterbe vor Verlangen.»

«Wenn Sie sarkastisch werden …»

«Wieso sarkastisch? Ich hätte mir vorhin fast den Hals gebrochen, so bin ich dem Bus hinterhergerannt, um mit Ihnen zu reden. Egal, was Sie mir erzählen oder vorlesen wollen, mir ist alles recht. Nehmen Sie eine Ihrer Lieblingsstellen. Das würde mir gefallen. In Ordnung?»

«Warum wollten Sie denn so unbedingt mit mir reden?» Sie tat nichts, um ihren Widerwillen zu verbergen.

«Sie sehen aus wie jemand, den ich kenne, das ist alles. Kein Grund zur Unruhe. Es kommt mir jetzt selbst etwas albern vor, also warum lesen Sie nicht einfach etwas aus Ihrem Buch?»

«Das ist kein Buch, das ist die Bibel.»

«Die heilige Bibel», fügte Samson hinzu, indem er den Kopf zurücklehnte und die Augen schloss.

Einen Moment herrschte Schweigen.

«Soll ich wirklich?»

«Sonst hätte ich Sie nicht gebeten.»

Er hörte sie in den Seiten blättern. «Also dann, wie wäre es damit? Ich habe es gelesen, als ich in Indien war. Ich hatte das Gefühl, es hätte mich plötzlich aus einem jahrelangen Schlaf gerissen.»

«Wunderbar.»

«Mein Kopf war voll von diesem Hindu-Zeug, alles schön und gut, nur hatte ich Jesus ganz verdrängt, seit der Lehrer in der Sonntagsschule mir als Kind erzählt hatte, Jesus sei mein einziger wahrer Freund. Was ich damals – weil ich jung war und noch keine Glaubenskrise erlebt hatte – eine Gemeinheit fand.»

Das war mehr, als Samson sich erhofft hatte. Das Mädchen fuhr fort.

«Hier ist die Stelle. Aus dem Matthäus-Evangelium: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.» Samson glaubte, ein leichtes Beben in ihrer Stimme zu hören, und schlug die Augen auf. «Ist das nicht schön?», sagte sie und sah aus dem Fenster, während ihr Finger noch auf der Seite lag.

«Ja. Ruhe für eure Seelen. Sehr schön. Was haben Sie in Indien gemacht?»

«Hmm? Oh, wissen Sie, was macht man schon in Indien? In Ashrams leben, die Upanishaden lesen. Einem Guru hinterherlaufen, von dem man gehört hat, er sei der Größte. In Varanasi auf den Ufertreppen des Ganges herumhängen, die Einäscherungen angucken. Den Geruch von Sandelholz und verbranntem Fleisch einatmen. Haben Sie schon mal brennendes Menschenfleisch gerochen?»

Er machte eine Pause, tat so, als müsste er scharf nachdenken, obwohl er ziemlich sicher auch bei voller Gedächtnisleistung nicht zu zögern gebraucht hätte.

«Nein, ich glaube nicht.»

Trotz ihrer anfangs misstrauischen Miene redete sie erstaunlich bereitwillig, eine erfahrene Weltenbummlerin, die das Gesprächsbedürfnis anderer zu verstehen schien.

«Es ist ein beißender, fast süßlicher Geruch», erklärte sie. «Die Leichen werden in goldenes Papier gewickelt dorthin gebracht. Und alle sind glücklich, weil eine Seele in die Freiheit entlassen wird, wissen Sie, alle werfen diese wunderschönen Blumen, und der Bootsmann nimmt, was von der Leiche übrig ist, bringt die Asche mitten auf den Fluss. Und vielleicht fünf oder sechs Meter stromabwärts hockt jemand im Wasser, wäscht seine Kleider oder putzt sich die Zähne. Für sie gibt es keinen Unterschied zwischen Leben und Tod, es ist ein einziger ununterbrochener Kreislauf. Und dann sitzt man da und denkt, ob das gesund ist? Werden sie sich nicht irgendeine scheußliche Krankheit fangen? Und dann geht man wieder ins Zimmer, wo noch mindestens zehn andere Leute sind, und kriecht in sein kleines dreckiges Bett und weint, weil einem bewusst wird, dass man diesen Zustand der Erleuchtung, in dem einen Keime und Krankheiten nicht mehr interessieren und man sich einfach auf die Macht des Brahman verlässt, wohl nie erreichen wird. Weil man in Amerika in einem hübschen, sauberen Haus mit Eltern aufgewachsen ist, die versucht haben, einen zu beschützen, und einem am Ende nur alles kaputtgemacht haben, und das wird man nie los. Egal, wie man sich anstrengt, man schafft es nie, sich in diese Yogapositionen zu verbiegen, in denen sogar Bettler auf der Straße sitzen, die Beine hinter den Kopf gelegt.»

«Weil man aus Amerika kommt.»

«Und vollständig unflexibel ist. Also sitzt man einfach nur im Bett und weint, und dann merkt man ziemlich bald, man hat ein Jahr, wenn nicht sogar mehr, in Indien verbracht, ist vollständig erschöpft, angewidert vom Curry und dem Unrat auf den Straßen, und man ist zum Verrecken einsam.»

«Und auf einmal scheint Jesus als der einzige wahre Freund gar nicht mehr so abwegig.»

Überrascht sah sie zu ihm auf. «Sind Sie Christ?»

«Nein.»

«Was sind Sie denn?»

«In der Krise.»

Sie nickte mitfühlend.

«Dann haben Sie sich also ins Flugzeug gesetzt und sind zurückgekommen?», fragte er.

«Am Ende ja, aber es hat eine Weile gedauert. Ich musste mich erst an den Gedanken gewöhnen, dass es nichts bringen würde. Ich hatte das College aufgegeben, mein ganzes Zeug verkauft, um die Reise zu bezahlen. Meine Eltern waren natürlich begeistert. Und privat hatte ich die Brücken ziemlich gründlich hinter mir abgebrochen. Meine einzigen wirklichen Freunde waren die Leute, mit denen ich in Indien herumgehangen hatte, aber im Rückblick muss ich sagen, die meisten hatten sie nicht mehr alle.» Sie tippte sich mit dem Finger an den Kopf. «Ich habe viel Radio gehört, auf einem kleinen Kurzwellentransistor, den mein Vater mir mal geschenkt hatte. Meistens bekam ich den World Service oder die Voice of America, aber ich mochte auch die lokalen Sender. Sitars und so. Seifenopern auf Hindi, aber schon die Klänge dieser Musik, schmelzend und nie abreißend, faszinierten mich. Eines Tages suchte ich die Kanäle ab und fand einen Sender, eine amerikanische Stimme, die über Gott sprach.»

«Über Jesus Christus», fügte Samson hilfsbereit hinzu. Es war nicht so schwer gewesen, sie aus sich herauszulocken, und er wollte nicht, dass sie jetzt wieder dichtmachte. Sie hatte etwas Unstetes an sich, als könnte sie jeden Moment abbrechen, erlöschen wie ein flackerndes Licht.

«Er nannte ihn Christus unser Retter. Ich sank auf den Boden und hörte zu. Der Mann, dieser Prediger, hatte eine wunderbare Stimme. Sehr innig, als spräche er mit mir allein. Er führt eine Gruppe an, die Calvary Chapel, und er las aus dem Buch Hiob. Ich lauschte, bis er nicht mehr auf Sendung war. Am Ende habe ich nur noch geschluchzt, und am nächsten Tag ging ich mir eine Bibel besorgen. Ich habe das Programm drei Wochen hintereinander jeden Tag gehört, und dann fuhr ich nach Hause.»

«Nach Hause?»

Sie sah aus dem Fenster, blinzelte in das grelle Licht. «Brookline, Massachusetts.» Er konnte fast ihrer Stimme anhören, wie grün es dort war, die kummervollen Herbsttage und den süßen frischen Grasgeruch im Sommer, genauso weit wie Indien von dort entfernt, wo sie jetzt waren. «Meine Eltern waren entsetzt. Sie erkannten mich kaum wieder. Als sie mich am Flughafen abholten, hörte meine Mutter gar nicht mehr auf zu weinen. Sie meinte, ich sehe aus wie eines dieser verhungerten Kinder im Fernsehen. Die man sich so ansieht, wenn man gemütlich bei einem Glas Martini die Sechs-Uhr-Nachrichten guckt, wissen Sie? Aber mich in die Arme zu nehmen oder so, damit hatte sie es nicht eilig. Ich glaube, sie hatte Angst, sich irgendwas zu holen. Also habe ich sie umarmt und ihr gesagt, sie sei ein Kind Gottes. Worauf sie noch mehr weinte.»

Sie heiße Patricia, aber alle sagten Pip, so etwas komme häufig vor bei weißen, angelsächsisch-protestantischen Oberschichtfamilien, erklärte sie, dass die traditionellen Namen in der Kindheit durch kecke Spitznamen ersetzt würden, Apple, Kit oder Kat. Wie Kathleen Kennedy, die natürlich keine Protestantin, aber in demselben Geist Kick genannt worden sei. Schlagkräftige Namen, die sich irgendwie stark anhörten, nach der Rückkehr von Footballspielen in der ersten Dunkelheit, mit von Kälte und Begeisterung geröteten Wangen. Pip und Kick und Apple, und Snap und Crackle und Pop, fügte Samson innerlich hinzu. Und Chip und Pebble, fuhr Pip fort, wie die Mitglieder einer schnulzigen Siebziger-Jahre-Band.

Minutenlang sagten sie nichts. Pip trommelte mit den Fingern gegen das Fenster, wo sie schmierige Abdrücke hinterließ. Samson wollte mehr. Er wollte so viel von ihr, wie sie zu geben bereit war.

«Pip», sagte er.

«Ja.»

«Das ist hübsch.»

«Es geht.»

Sie hatte den Namen ein paar Mal gewechselt. Eine Weile hatte sie sich Pipalada genannt, nach dem Weisen, der in den Upanishaden sagt, man solle ein Jahr Enthaltsamkeit, Mäßigung und Glauben praktizieren, dann dürfe man fragen, was man wolle. Als das Jahr um war, legte sie sich den Namen Laura zu, nach einem Mädchen aus Minneapolis, das bei einem Busabsturz zu Tode gekommen war. Das war in den Bergen bei Manali in Nordindien gewesen. Aus Spalten an den kalten weißen Gipfeln waren tibetische Mönche aufgetaucht, Flüchtlinge in safrangelben Gewändern. Monate später, als sie zum ersten Mal nach zwei Jahren ihr Kinderzimmer betrat, weinte sie beim Anblick des gerahmten Makramees mit den Buchstaben P-I-P über ihrem Bett.

Draußen war die Wüste gnadenlos, das Licht höchst intensiv. Der Bus machte einen Boxenstop, und nacheinander stiegen alle aus in die absurde Hitze. Samson holte zwei Dosen Cola aus einem Automaten und gab eine Pip. Er schoss ein paar Fotos von ihr, an den Bus gelehnt, als wären sie ein Touristenpaar. Sie posierte entspannt vor der Kamera; wahrscheinlich war sie als Kind oft fotografiert worden.

«Früher habe ich auch Fotos gemacht. Als ich anfing zu reisen, habe ich alles aufgenommen», erklärte sie.

«Und jetzt?»

«Ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe irgendwann meine Kamera verloren.»

Sie zuckte die Achseln, bog die Blechlasche auf ihrer Dose vor und zurück und sagte dazu die Buchstaben des Alphabets auf. Bei K brach die Lasche ab.

«K? Wer ist K? Meine nächste große Liebe wird jemand sein, dessen Name mit K beginnt.» Sie hielt inne, indem sie sich die eisgekühlte Dose an die Stirn drückte. «Ich weiß nicht mal, wie Sie heißen», sagte sie. Er sagte es ihr. «Wirklich? Oder ist das erfunden?»

«Warum sollte ich es erfinden?»

«Ich weiß nicht; es ist ein ungewöhnlicher Name. Ich nehme an, Sie kennen Samsons Geschichte? Aus dem Buch der Richter?»

Seine Mutter hatte ihm einmal von Samson erzählt, einem Mann mit langem Haar und übernatürlichen Kräften. Das Haar war das Geheimnis seiner Stärke, aber die Frau, die er liebte, verriet ihn und schnitt es ab, während er schlief. Damals hatte die Geschichte ihn, den jungen, unbiblischen Samson, nicht sonderlich berührt.

Sie stiegen wieder in den Bus, und Pip zog die Bibel heraus.

«Unglaubliche Gewalt», sagte sie. Sie schlug das Buch nicht auf, hielt es nur in der geöffneten Hand, als prüfte sie sein Gewicht. Sie hatte alles im Kopf. In der Grundschule sei sie die Beste gewesen, erzählte sie ihm. Wenn sie etwas zweimal gelesen hatte, konnte sie es auswendig. Bei den Cocktailpartys ihrer Eltern wurde sie gebeten, Sachen vorzuführen.

«Es steht im Buch der Richter. Samson richtete Israel zwanzig Jahre. Erst tötete er einen Löwen. Dann erschlug er tausend Philister mit dem Kinnbacken eines Esels. Der Geist des Herrn geriet über ihn. So steht es da: Er geriet über ihn», sagte sie. «Sein langes Haar war das Symbol seiner Gelübde als Geweihter Gottes, und Gott stand ihm zur Seite.» Sie sah zum Fenster hinaus. «Unglaubliche Gewalt», wiederholte sie, auf die Alkali Flats starrend, Überreste eines Meeres so alt wie die Sintflut. «Er verliebte sich in eine Frau. Delila, erinnern Sie sich?»

Samson nickte. Er war nervös, fühlte etwas in sich aufsteigen, was überzulaufen drohte.

«Delila, natürlich», sagte er.

«Er verliebte sich in sie, und sie verriet ihn.»

Sie hätte ihm genauso gut die Geschichte einer indischen Seifenoper erzählen können. Sie hätte ein frühreifes kleines Mädchen sein können, das, geschlagen mit der Gabe der Erinnerung, den Freunden seiner Eltern die Geschichte vortrug, Leuten namens Chip und Pebble, die lachend ihre trockenen Martinis zum Anstoßen erhoben. «Sie schnitt ihm das Haar ab», fuhr sie fort, sichtlich bewegt, obwohl Samson sich fragte, ob sie nicht auch jetzt etwas vorführte. Sie rezitierte: Und Delila sprach zu ihm: Philister über dir, Samson! Da er nun von seinem Schlaf erwachte, gedachte er: Ich will ausgehen, wie ich mehrmals getan habe, ich will mich losreißen; und wusste nicht, dass der Herr von ihm gewichen war. So steht es geschrieben. Und dann stürmen die Philister herein und stechen ihm die Augen aus.»

Es war erregend, die schreckliche Gewalt, die schiere Ungerechtigkeit. Samson konnte sich kaum beherrschen, so stark war sein Drang, einen wilden Schrei auszustoßen, aufzuspringen, rauf und runter durch den Mittelgang zu laufen und jedem der Fahrgäste einmal kräftig an den Kopf zu schlagen, um sie aus ihrem Stupor zu reißen.

«Sie stechen ihm die Augen aus?», fragte er nach vorn gebeugt.

Pip kippte den Kopf nach hinten.

«Sie stechen sie ihm aus, legen ihn in Ketten und werfen ihn ins Gefängnis.» Ihre leere Hand schwebte zwischen ihnen in der Luft, die Finger leicht gebogen, wie zu einer Frage. «Als das Haar nachwächst, bittet er den Herrn, ihm einen letzten Akt der Stärke zu gewähren. Und als die Philister ihn hinausbringen, damit er ihnen vorspielt, packt er die Säulen der Festhalle und reißt sie nieder. Das Dach stürzt ein und erschlägt alle, die dort versammelt sind, einschließlich Samson. Und der Toten waren mehr, die in seinem Tod starben, denn die bei seinem Leben starben.»

Samson – der heutige Samson, der sich durch die Wüste schlug, unterwegs nach Santa Cruz – zog die Augenbrauen hoch. Er fragte sich, ob das ein Zeichen sei, ein Verhängnis seines Namens, auf das er besser achten sollte. Pip wandte die Augen ab, und er glaubte, ein flüchtiges Lächeln zu sehen, aber als sie sich wieder umdrehte, war ihr Gesicht ernst.

Sie wollte zu einer Massentaufe im Pazifik. Sie hatte davon gehört, als sie zu Hause war – auf dem Weg der Besserung, wie ihre Mutter laut flüsternd verkündete, wenn irgendjemand anrief. Abends ging Pip aus, angeblich, um ihre Freundin Dina zu treffen, ein langweiliges, anspruchsloses Mädchen, das sie aus der Highschool kannte und das in der Stadt im Eiscafé bediente. In Wirklichkeit fuhr Pip über Seitenstraßen zu den Meetings der Calvary Chapel Fellowship in Boston. Eines Abends brachte jemand dorthin Bilder aus Life mit. Hunderte, vielleicht Tausende von Menschen klatschend und singend am Strand. Manche hielten Tamburine in der Hand oder schmuddelige Kleinkinder auf dem Arm. Eine Schlange wand sich bis zum Wasserrand, wo ein Mann gerade untergetaucht und wieder hochgezogen worden war, die Hände mit geballten Fäusten in der Luft, den Kopf zurückgeworfen wie ein wuchtig getroffener Boxer. Schwer zu sagen, ob er lachte oder weinte. Kleine Rinnsale Wasser strömten über sein Gesicht und glitzerten in der Sonne. Neben ihm stand der Prediger, dessen Stimme Pip drei Wochen lang jeden Tag gehört hatte, bevor sie Indien verließ. Im Hintergrund der Weitwinkelozean, der sich abgeschieden und drohend zum Horizont erstreckte.

Pip erzählte, wie sie nach dem Meeting über die dunklen Straßen zurückgefahren war. Während sie sprach, stellte Samson sich mit Inbrunst die Szenen vor, indem er eigene Details – wie ihre über die Bäume streifenden Scheinwerfer – hinzufügte. Sie hatte in der Stadt gehalten und einen Becher Eis mitgenommen, den Dina ihr in einer silbernen Isoliertüte über die Theke reichte. Zu Hause stellte sie ihn zu den anderen ins Kühlfach und ging nach oben ins Bett. Aber das Bild von der Taufe spukte ihr im Kopf herum, und sie wurde es nicht los. Am nächsten Tag zog sie einige Erkundigungen ein, und als sie ihren Eltern eine Woche später zum zweiten Mal Adieu sagte, wandte ihre Mutter die Augen von dem gekreuzigten Christus ab, den Pip seit neuestem um den Hals trug. Ihr Vater, der seine Entrüstung nicht verhehlte, fragte, ob sie ihr härenes Hemd eingepackt habe. Gegen fünf Uhr nachmittags würde er im Club seine Drinks herunterschütten, erleichtert, wieder zu der alten Vision von seiner Tochter zurückkehren zu können, die über den Rasen eines Colleges in New England hüpfte, um einen jungen Mann mit kräftigen Wangenknochen und einem festen Händedruck zu treffen, der vielleicht Pierce hieß.

«Was haben Sie gesagt, an wen ich Sie erinnere?», fragte sie halb abgewandt, als hätte sie das Interesse an der Antwort schon verloren. Es reichte, dass sie ihm das Haar abschnitten, aber ihm die Augen auszustechen? Vorsichtig schob er seine Hand in ihre. Sie schien keinen Anstoß daran zu nehmen, ihr behagte die Intimität, die manchmal ohne irgendwelche Ansprüche zwischen Fremden entsteht.

Sie kamen aus der Wüste in das weite Netz der immer gleichen Siedlungshäuser. Ihre langen Finger zuckten, die Nagelhäute waren zerfetzt. Die Sonne schien durch das staubige Fenster.

Sie schlief ein, der Kopf fiel ihr vornüber auf die Brust, die Bibel klemmte zwischen ihren Knien. Samson zog die Objektträger aus der Jackentasche. Er hauchte sie an und rieb die Schlieren mit einer Ecke seines Hemdes ab. Die zarten Gewebeproben waren wie Fingerabdrücke von der Hand des Schicksals. Sein Großonkel Max war ein Hobbykünstler gewesen, dessen ganze Leidenschaft einer italienischen Stadt galt, die er aus der Vogelperspektive zeichnete. Max stammte aus Deutschland, hatte aber als junger Mann ein Jahr in Italien gelebt. Zwei oder dreimal war er dort mit einem Heißluftballon gefahren. Jahre später fing er an, die Stadt, in der er gelebt hatte, aus dem Gedächtnis zu zeichnen – Straßen, Kirchen, Plätze, alles mit mathematischer Genauigkeit. Als Kind hatte Samson diese Zeichnungen bewundert, und irgendwie fühlte er sich durch die Proben mit ihren komplizierten Kreuzschraffuren daran erinnert.

Er betrachtete die Gewebeflecken, selbst produzierte Materie aus seinem Gehirn. Es ist etwas Unheimliches und Wundersames daran, dachte er jetzt: der dimensionslose, unkörperliche Geist schafft körperliche Dimensionen. Vor einem Jahr war Samson in ein Loch gestürzt, durch eine Falltür zu einem Ort, der Höhe und Breite, Länge und Perspektive zu haben – der bewohnbar schien. Er war gestolpert und in der unberührten Geographie des Geistes gelandet. Aber von Anfang an hatten Erinnerungen die Leere bestürmt, ihn in die Welt zurückgezwungen. Sein Gedächtnis hatte sich mit Trümmern von Erinnerung gefüllt und dann die letzte Stufe der Erniedrigung erfahren: es war aufgebrochen und verwüstet worden. Was Ray nicht hatte sehen wollen, war, dass der Geist keinen anderen Geist neben sich erträgt, egal wie groß der Wunsch sein mag, verstanden zu werden. In das Bewusstsein eines anderen einzudringen und dort eine Fahne aufzupflanzen war ein Verstoß gegen das Gesetz der absoluten Einsamkeit, auf dem dieses Bewusstsein beruhte. Es war eine Bedrohung, vielleicht sogar eine unwiderrufliche Beschädigung der lebenswichtigen Abgeschiedenheit des Selbst. Diese Überschreitung war unverzeihlich.

Pip regte sich im Schlaf.

Und doch, was bedeutete es, geliebt zu werden, fragte sich Samson, wenn nicht, dass der andere einen verstand? Dass man sich zutiefst vom anderen berührt fühlte? Er dachte darüber nach, wer er vor dem Tumor gewesen sein mochte, erzählte sich die Geschichte seines alten Lebens wie ein trauriges Märchen. Es war einmal, da liebte er eine Frau, deren Körper er in seinen Händen gehalten hatte, vielleicht erstaunt darüber, dass solche Berührung keine Spuren hinterließ. Als er die Nachttischlampe anknipste, hatte er sie makellos gefunden. Der Klang ihres Namens war durchlässig, von beiden Seiten gleich, Anna, ein Spiegelbild, ein doppeltes Echo, an dem sich nichts festmachen ließ. Vielleicht hatte er sie zu sehr geliebt, seine Unfähigkeit gespürt, ihr nahe genug zu kommen; gespürt, dass er sie, solange sie eine getrennte Person blieb, nur in Grenzen kennen konnte. Und weil ihr Innerstes immer ausschließlich ihr gehören würde, weil es ihm jederzeit zu entgleiten drohte, hatte er die Richtung geändert und sich entfernt, um sich vor dem Verlust zu schützen, seine Stimme war abgerissen, over und out, wie die eines durch den Raum trudelnden Piloten.

Vielleicht hatte sich die Geschichte aber auch anders zugetragen. Vielleicht hatte ihn seine Liebe zu ihr frustriert, die Unmöglichkeit, je durchzukommen. Vielleicht hatten sie Ausflüge gemacht, waren aus der Stadt hinaus über zierliche, unmerklich im Wind schwingende Brücken mit summenden Stahlseilen gefahren. Nach Norden, in das Land, wo sie sich eine Zukunft vorstellten, durch kleine Städtchen mit Kirchtürmen und Wetterfahnen. Anna hätte ihre Schuhe aus- und die Füße unter sich gezogen. Dezember, leichter Schnee auf dem Boden, sie wären an einen Scheideweg gekommen, das abnehmende gelbe Licht glühend unter dem dunklen Himmelssaum. Sie wäre ganz still gewesen, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt. Und plötzlich hätte sie anders ausgesehen, mit offenem Mund und einem veränderten Gesichtsausdruck, den er nicht kannte und der sie unkenntlich zu machen schien. Vielleicht hatte er gegen solche Veränderungen aufbegehren wollen, gegen die Tatsache, dass er nicht für sie einstehen konnte.

Oder er selber war es schon vor dem Tumor leid gewesen, an sie gebunden zu sein. Vielleicht hatte er einfach frei sein wollen, war aus dem herausgewachsen, der er bislang für sie gewesen war, von dem sie abhing. Wie war es möglich, jeden Tag beim Aufwachen für jemand anderen erkennbar zu sein, wo man sich selber so oft kaum erkennen konnte? Wenn Anna Recht hatte, wenn ein Mensch nicht mehr war als ein Haufen Gewohnheiten, wurden die Gewohnheiten vielleicht nur beibehalten, um den Liebhaber, neben dem man jede Nacht schlief, nicht zu enttäuschen. Aber welche Chance blieb dann noch, eines schönen Tages ein ganz anderer Mensch zu werden? Vielleicht war letztlich er derjenige, der es nicht ertragen hatte, verantwortlich zu sein, der sich nicht mehr hatte erreichen lassen wollen.

Es war einmal, da liebte er eine Frau. So hatte es angefangen. Aber von da an hätte sich die Geschichte in alle möglichen Richtungen entwickeln können. Nur das Ende war immer gleich: Er hatte den Ballast der Erinnerung abgeworfen und sich schwerelos in die Zukunft gestürzt. Allein und erstaunt, in dem Bestreben, nicht den geringsten Rest mitzunehmen. Am Ende hatte er die geliebte Frau verraten, und wer würde ihn dafür nicht richten?

Anna, rückwärts oder vorwärts, der Name ein Geist seiner selbst. Wenn er sie anriefe, wenn er sie jetzt erreichen würde, was gäbe es zu sagen?

Pip schnarchte sanft an seiner Seite, das süße, abgeschnürte Glucksen eines Babys. Er stellte sie sich als Kind von sechs oder sieben Jahren vor, mit vorgeschobenem Kinn, die Zunge trotzig an der Oberlippe. Daneben ihre Mutter, praktisch selbst noch ein Kind, das lose über die Schultern fallende Haar in der Mitte gescheitelt, noch nicht abgeschnitten, hochtoupiert und dauergewellt in die unattraktive Helmform des mittleren Alters. Die Haut noch unverbraucht, noch nicht vom Unglück gezeichnet, von den Eskapaden einer herangewachsenen Tochter, die das behagliche Elternhaus floh und lieber im Elend hauste, deren Mangel an innerem Frieden sie durch die Welt trieb, in die Hände obszöner Männer, die sie im Namen eines Gottes berührten, und die endlich zurückgekehrt war, um sich im Namen eines anderen in den Pazifik tunken zu lassen. Das mütterliche Herz noch nicht von dem verlorenen Kind gebrochen.

Samson fragte sich, ob Anna und er je über Kinder gesprochen hatten, ob ein eigenes Kind mit Annas Augen und seinen Gesichtszügen auf dem Weg in die Zukunft gewartet hatte und jetzt für sie verloren war. Der Gedanke daran ließ sein Herz vor Kummer und Liebe erzittern.

Pips Mutter, die ihre Tage in einem Raum mit halb geschlossenen Jalousien verbrachte, Zigaretten rauchte und zuckerfreie Limonade trank, voller Sehnsucht nach all den verlorenen Dingen, darunter dieses sechsjährige Mädchen, Patricia getauft, das unter dem herzigen Namen Pip so brillant in die Welt der Cocktailgläser eingezogen war. Ray hatte Recht: Das Elend der anderen war nur eine Abstraktion. Und weil es unmöglich ist, das Leiden eines anderen nachzuvollziehen oder gar zu empfinden, ohne sich auf sein eigenes zu beziehen, kamen Samson naturgemäß erst Anna und schließlich seine eigene Mutter in den Sinn. Er wusste fast nichts von den letzten zwanzig Jahren seines Lebens. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, sie habe ihre alten Tage allein verbracht, sich vielleicht auch in sich zurückgezogen und ins Leere gestarrt. Wer immer der Sohn war, der seine Mutter langsam in die mittleren Jahre hatte kommen sehen; der erwachsen geworden, aufs College gegangen war und sie regelmäßig angerufen hatte; der später wegzog und sie gelegentlich besuchte, mitleidig die kleinen Demütigungen des Alterns registrierte; der den Anruf bekam, sie sei krank, und hinflog, um bei ihr zu sitzen und zu wachen, während der Krebs rasche Fortschritte machte; wer immer es gewesen sein mochte, der seine Mutter aus der Welt scheiden sah und sie begrub, war jetzt ebenso unerreichbar wie sie.

Aber was, fragte sich Samson, ist das Leben ohne einen Zeugen?

Er empfand ein überwältigendes Bedürfnis, seiner Mutter nahe zu sein. Er fragte sich, wo sie begraben sei. Wie konnte er nicht wissen, wo seine eigene Mutter unter der Erde lag? Sie hatte nie das Haus verlassen, in dem er aufgewachsen war; so viel hatte er Annas Erzählungen entnommen. Vermutlich hatte er sie auf einem nahe gelegenen Friedhof begraben. Wie schwierig mochte es sein, sie zu finden? Gab es keine Dokumente über solche Dinge, die grasbedeckten Flecken, von Söhnen abgesteckt, um die Frau zu begraben, die sie unter Schmerzen auf die Welt gebracht hatte? Er würde ihr Grab finden, und wenn er es gefunden hatte, Fleisch von ihrem Fleisch, würde er auf die Knie fallen und um sie trauern. Er würde sich niederlegen, die Augen schließen und, den Körper an den Boden gepresst, letztes Zeugnis ablegen.

 

Die Busroute endete auf einem Parkplatz am Strand. Möwen saßen auf verrosteten Metallpfosten, aufgeplustert und unerschütterlich. Samson rüttelte Pip wach. Ihr Kopf rollte zurück, und sie schlug die Augen auf. Er verspürte den rastlosen Schwung eines Mannes, der jahrelang eingesperrt gewesen war und obsessiv von nichts anderem phantasiert hatte als von einem freien Blick. Am liebsten hätte er Pip gepackt, sie huckepack genommen, wäre mit ihr zum Meer hinuntergerannt und hineingesprungen, um ihnen beiden eine salzige Taufe zu gönnen. Stattdessen streckte er nur die Hand aus, strich ihr kurzerhand das Haar aus den Augen und klemmte es hinter ein Ohr. Pip kniff die Augen zusammen, aber sie protestierte nicht.

Draußen auf dem Parkplatz blinzelten sie ins Licht und atmeten die Küstenluft und den Baumgeruch Kaliforniens, den erfrischenden Pazifik, in dem Pip bald von allem reingewaschen würde außer von der Liebe Gottes. Danach hieße sie Patricia. Die Vergangenheit würde unter einem anderen Namen fortleben.

Sie wurde erwartet. Eine von der Chapel geschickte Frau mit grau melierten Zöpfen stand winkend vor einem Kleinbus mit dem Aufkleber Ich bremse für Wunder. Als Abschiedsgeschenk gab Pip ihm die Bibel und knickte Eselsohren in die Seiten über Samson. Er nahm die Kamera, die noch um seinen Hals hing, und hängte sie um ihren. Sie lächelte, er lächelte zurück, und einen Augenblick studierten sie einander mit der unbeholfenen Schüchternheit von Menschen, denen plötzlich bewusst wird, wie wenig sie sich kennen. Etwas in ihm wollte sie nicht gehen lassen, wollte sie begleiten, über ihren Schlaf wachen und sie vor Unheil schützen, wie er es bei Anna nicht vermocht hatte. Er wollte ihren schmalen, knochigen Körper in die Arme nehmen und sie sicher in ein neues Leben tragen.

Aber er tat es nicht, und schließlich zuckte Pip die Achseln und ging auf den Kleinbus zu. Die Frau umarmte sie, als wären sie alte Freunde. Pip ließ es sich gefallen, dann warf sie ihren Rucksack ins Auto und kletterte hinterher. Als sie abfuhren, drehte sie sich um und winkte durchs Fenster, und Samson hob die Hand zu einem Gruß.

Kommt ein Mann ins Zimmer
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