Das Licht weckte ihn auf, so ungetrübtes, helles Sonnenlicht, dass es nicht echt sein konnte, so konträr zu den Reden des Wetterkanals, die sich ununterbrochen um Regen drehten. Es vergingen einige Sekunden, ehe er sich erinnerte, wo er war. Als es ihm einfiel, überkam ihn eine Woge der Verzweiflung. Auf dem Fernsehschirm standen die aktuellen Temperaturen der Umgebung von Las Vegas, dann trat der Meteorologe vor das Satellitenbild und erklärte, immer wieder auf Florida und die Insel unter dem Winde klopfend, Sturmfronten und Jetstream. Samson stützte den Kopf in die Hände und kniff die Augen zusammen. Er stand auf, ließ die Jalousien herunter und taumelte ins Bad. Der Spiegel zeigte ihm ein graues Gesicht und glasige Augen mit tiefen schwarzen Ringen. Er nahm sein schlechtes Aussehen mit einiger Erleichterung zur Kenntnis, da es wenigstens bewies, dass er nicht alles nur phantasiert hatte.

Er befand sich seit zwei oder drei Tagen in einem Motel in Vegas, wartete auf das Klingeln des Telefons und ließ den Wetterkanal laufen, weil ihn die Beständigkeit der Nachrichten beruhigte. Sobald er abschaltete, geriet er in Panik, rang nach Luft und konnte sich nicht anders beherrschen, als laut flehend im Zimmer auf und ab zu wandern. Er fühlte sich von einer unerhörten, unerträglichen Einsamkeit ergriffen.

Eine halbe Stunde lang stierte er blind auf den Fernseher. Irgendwann verfiel er wieder in einen unruhigen, schweren Schlaf, während die Wetterberichte in sein Unterbewusstsein eindrangen und seine Träume sich mit Wind und Regen füllten. Es wird nass, warnte der Meteorologe, wir rechnen mit drei Zentimetern Niederschlag oder mehr, obwohl das Unwetter weit entfernt von Las Vegas tobte, wo die durchschnittliche Regenmenge gerade einmal zehn Zentimeter im Jahr betrug. Es stürmte anderswo, im Hurrikangebiet, wo die Häuser auf Stelzen standen. Was der Wetterkanal lieferte, war beständige Hellseherei und dies: Nachrichten vom Unglück anderer Leute.

Bei seiner Ankunft in Las Vegas war er in sämtliche Hotels gegangen, die Donald erwähnt hatte – Sands, Flamingo, Caesars Palace –, aber niemand hatte je von Donald Selwyn gehört, nicht einmal die wortkargen Manager, die aus ihren Personalbüros kamen, um ihre Mitarbeiter zu entlasten, wenn Samson beharrlich blieb. Danach hatte er angefangen, Nachrichten auf Donalds Mailbox zu hinterlassen, die drei Tutzeichen abwartend, denen ein Rauschen wie von einer Windmaschine folgte, als habe Donald beim Besprechen des Bandes im Sturm an einer Klippe gehangen. «Hier ist Donald», sagte er mit strengem Gegenwind im Hintergrund, «Sie wissen, was zu tun ist.» Samson beschwor ihn, zurückzurufen, rief wieder und wieder an, bis die Bandansage ihn zu verfolgen begann, als versuchte Donald ihm unter gefährlichen Bedingungen heimlich etwas mitzuteilen. Sie wissen, was zu tun ist, und dann der ewige Piepton, den Samson ein Dutzend Mal hörte, bis er platzte und etwas von der Bombe brüllte, die in seinem Kopf hochgehe.

Sie stand ihm mitten ins Gedächtnis geschrieben, die Erinnerung, die Ray ihm übertragen hatte; nichts führte an ihr vorbei. Die Bilder waren ihm unheimlich vertraut, als hätte er sie selbst erlebt, obwohl er wusste, dass dem nicht so war, und das ängstigte ihn umso mehr. Er erinnerte sich an die knallende Wüstenhitze, an den Schweiß, der sich unter der Drillichuniform auf seiner Haut bildete. Er empfand die Langeweile und die dumpfe Furcht des Wartens, in den Staub atmend und darauf bedacht, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Er sah die sonnengebräunten Gesichter seiner Kameraden, sah ihre Profile in der Sonne flimmern. Und dann das widerstrebende Aufstehen vor dem Morgengrauen, wie kalt der Boden war, und die Lust, wieder ins Bett zu kriechen, obwohl er schon in der Schlange vor den Duschen stand. Der metallische Wüstengeschmack in seinem Mund. Unter dem fließenden Wasserstrahl begann das Herz schneller zu schlagen, Blut durchströmte die Venen. Kein Frühstück, dafür gingen umso mehr Zigaretten um, die glühenden Spitzen hinten auf den Lastwagen. Er sah und empfand das alles wie seine eigene Erinnerung, aber verdammt, sie war es nicht, und das machte ihn krank, kränker noch als die Druckwellen, deren Stärke und Hitze geradezu darauf ausgelegt schienen, jeden verrückt zu machen, den sie nicht umbrachten.

Als er nach der Übertragung aufgewacht war, hatte Ray über ihm gestanden. Ray hatte ihm Fragen gestellt, und er hatte versucht zu antworten, so angeschlagen von den Drogen, dass ihm erst gar nicht in den Sinn gekommen war, wütend oder auch erschrocken zu sein; er fühlte sich nur betäubt. Er versuchte, die Lebhaftigkeit zu vermitteln. Er sprach in Halbsätzen, stotternd und nach Worten suchend. Ray fragte, und er rang um eine Antwort, aber es war unmöglich zu beschreiben. Er hatte Schwierigkeiten zu sprechen, und sie zeichneten mit einer Digitalkamera auf, wie er den Doktor mit aufgerissenen Augen am Handgelenk packte und sagte: Wer? Jemand hatte ihn ins Badehaus zurückgebracht, und er war erschöpft eingeschlafen, aber als er am nächsten Tag aufwachte, war alles wieder da, hell und präsent in seinem Kopf, der Countdown und die erschütternde Explosion. Es war da, während er sich das Gesicht wusch und sich anzog, und obwohl er versuchte, es zu verdrängen und an etwas anderes zu denken, vermochte er es nicht.

Er war hinausgegangen, um mit Ray zu sprechen, denn jetzt war er bereit – jetzt hatte er eigene Fragen –, doch als er ins Labor kam, sagte ihm die Empfangsdame, der Doktor sei fort, abgereist, und werde erst in ein paar Tagen zurückerwartet. Samson hatte sie fassungslos angesehen, und sie musste es wiederholen, Wort für Wort, sodass er sie nicht missverstehen konnte. Als die Verwirrung sich legte, fühlte er den ersten Stich, eine Erregung im Bauch, die langsam aufstieg bis zu wütender Hitze im Gesicht. Er kehrte in sein Zimmer zurück und versuchte nachzudenken – es war nur eine Erinnerung, sonst nichts, er würde sie vergessen wie den Rest. Aber dem war nicht so. Er konnte sie nicht nur nicht vergessen, sondern sie hatte obendrein noch andere Erinnerungen aufgewühlt, Fernsehbilder von einem eingeebneten Hiroshima, die er mit fünf oder sechs gesehen und die ihn im Schlaf verfolgt hatten, bis er schreiend aufwachte und seine Mutter kommen, ihn besänftigen, ein feuchtes Tuch auf seine Stirn pressen musste. Danach hatte er sie tagelang ununterbrochen nach der Bombe gefragt, und obwohl sie ihn beruhigen wollte, begann sie in ihrer gewohnten Art über Politik zu reden, über den Rüstungswettlauf, die Idioten in Washington und die Gefahr eines Atomkrieges. Später stoppte er die Zeit, die er brauchte, um von seinem Zimmer bis zu ihrem Bett zu rennen, einem Himmelbett, hoch genug vom Boden, dass sie sich beide darunter verstecken konnten. Irgendetwas riecht hier komisch, sagte sie nach ein paar Tagen, aber das war Wochen bevor sie die grün verschimmelten Brote fand, die er dort deponiert hatte.

Und jetzt kam ihm ein Gedanke: Wer zum Teufel war Ray eigentlich? Du glaubst, jemanden zu kennen, und am Ende hast du eine Bombe im Kopf.

Hektisch kramte er in seiner Geldbörse nach der Telefonnummer von Rays Haus in L.A. Als er sie nicht fand, durchwühlte er seine Tasche, indem er den Inhalt auf den Boden kippte. Wahrscheinlich war Ray schon auf der Suche nach dem nächsten Output: Er brauchte Samson nicht mehr, es hatte geklappt, das war alles, was er wissen wollte, und jetzt kamen andere dran. Er konnte den Zettel mit Rays Nummer nirgendwo finden und hielt sich den Kopf, um geradeaus zu denken, während ihm das Blut in den Schläfen pochte. Er war wütend auf sich selber, dass er auf Ray gehört, dass er, als er ihn an jenem ersten Abend in New York anrief, nicht die Telefonschnur aus der Wand gerissen hatte.

Er schloss die Augen und saß ganz still. Er würde nicht ins Labor gehen und nach Rays Nummer fragen. Er würde die Jalousien herunterziehen, sich aufs Bett legen und versuchen, sich zu beruhigen. Es muss eine Erklärung geben, dachte er. Bald würde Ray zurückkommen – er musste zurückkommen – und mit seiner wohltuenden Stimme und seiner Eloquenz alles in Ordnung bringen.

Aber drei Tage vergingen ohne eine Spur von Ray, und als Samson endlich Licht in seinem Büro brennen sah, rannte er durch die Dunkelheit und trat ihm praktisch die Tür ein. Aufgeputscht von Adrenalin, lief er schnurstracks zum Schreibtisch und fegte alles auf den Boden, was Ray vor sich ausgebreitet hatte, die Papiere mitsamt dem gläsernen Briefbeschwerer, der in Stücke brach. Ray, der alterslose Doktor, dessen makrobiotisches Dasein allein schon für ein ganzheitliches Gutes stand, der Mann, der zum Führer unter den Menschen geboren war, zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Weder regte sich Protest, noch reagierte er schockiert. Er war gleichmütig wie Gandhi, unbeirrt unter Irren, denn er wusste, notfalls konnte er sich auf seine Stärke verlassen, seine vergeistigte Erleuchtung, und augenblicklich töten – mit einem gnädigen Stoß der Hand ins Sonnengeflecht.

Eisig sahen sie einander in die Augen, bis Samson sich schließlich zitternd abwandte und zum Fenster ging, den Blick über das Tal schweifen ließ. Es war dunkel draußen, aber er konnte noch die Umrisse der Bergkette erkennen, hinter der sich ein anderes einsames Tal befand, und dahinter wieder einen zerklüfteten Höhenzug, und so weiter in Wellen gewaltiger Trostlosigkeit. Er fühlte sich verraten, und es gab niemanden mehr, an den er sich wenden konnte. Sein Bewusstsein war in einer Weise vergewaltigt worden wie niemandes je zuvor. Es war eine grausame Einsamkeit.

Er wirbelte herum und starrte Ray an.

«Wo waren Sie?», wollte er wissen.

«Lassen Sie uns doch versuchen, Ruhe zu bewahren.»

«Ruhe?» Er wollte seine Sache leidenschaftlich vortragen, Verständnis fordern. «Sie haben mein Gedächtnis usurpiert, haben mir eine Atombombe in den Kopf geladen, und dann sind Sie verschwunden, einfach so, ohne ein Wort, und jetzt soll ich Ruhe bewahren?»

«Ich hatte etwas Persönliches zu erledigen. Mein Sohn Matthew war krank, ein Notfall, ich musste dringend nach San Francisco. Tut mir Leid, aber ich hatte keine Möglichkeit, vor meiner Abreise mit Ihnen zu reden. Es war mitten in der Nacht, Sie schliefen schon. Und niemand hat hier irgendjemandes Gedächtnis usurpiert

Es gab so viel zu sagen; er wusste kaum, wo er anfangen sollte. «Es ist, als wäre ich von den Toten auferstanden, nur um festzustellen, dass alles weg ist, was ich kannte. Dass ich allein bin, und Sie – der einzige Mensch, von dem ich mich verstanden glaubte, dem ich vertrauen konnte … Ich dachte, Sie hätten verstanden …» Er spürte, wie er einen roten Kopf bekam vor lauter Frustration über seine Unfähigkeit, in Worte zu fassen, was mit ihm geschehen war, zu erklären, was für einen Schaden Ray angerichtet hatte.

«Aber ich verstehe doch. Deshalb bin ich doch hier, sind wir doch hier.»

«Verstehen!» Samson hätte fast ausgespuckt. «Nach allem, was Sie gesagt haben von wegen aus unseren eigenen Köpfen heraus- und in andere hineinschlüpfen? Dem ganzen Unsinn mit dem Teilen?»

Ray schüttelte den Kopf, sein Ausdruck war streng und missbilligend.

«Für unsere Forschung ist dies ein kritischer Moment. Es kommt darauf an, dass Sie ruhig bleiben», flehte er.

In Samson lief die Enttäuschung Sturm gegen Rays Weigerung, zu verstehen, ja überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, wie er sich fühlte. Es war, als hätte man ihn in seinem eigenen Kopf gefesselt und geknebelt.

Ray fuhr selbstvergessen fort. «Bei Versuchen, wichtigen Versuchen, gibt es immer Momente, in denen die Dinge …»

Von plötzlichem Zorn erfasst, holte Samson aus und traf Ray mitten ins Gesicht. Er spürte seine Faust landen. Dann kam es ihm vor, als verfolgte er das Nachspiel in Zeitlupe: Rays nach hinten geworfener Kopf (wie alt er jetzt aussah, obwohl das Blut, das ihm aus der Nase spritzte, lebhaft frisch erschien), sein gegen die Wand gesunkener Körper und die Hand, mit der er sich über das Gesicht fuhr, während er vor Samson zurückwich, vor etwas, was er bei all seinen Kalkulationen nicht berücksichtigt hatte, der Möglichkeit, sein Forschungsobjekt könne was – einen eigenen Kopf haben? Vielleicht war Ray am Ende doch ein ganz normaler Mensch, fehlerhaft wie jeder andere, einer, der sich furchtbar irren konnte, wo er glaubte, einem hehren Zweck zu dienen. Das Blut tropfte ihm jetzt zwischen den Fingern hindurch, in seinen Augen stand die Ungewissheit, was von einem, der gerade seine Macht über ihn entdeckt hatte, als Nächstes kommen würde. Samson betrachtete ihn verwundert, erstaunt über seine eigene Kraft und darüber, wie schutzlos, wie menschlich Ray plötzlich wirkte. Er blickte von seiner Faust zu Rays Gesicht, im Bewusstsein dessen, dass etwas geschehen war: nicht der Schlag, sondern etwas viel Entscheidenderes, hinter das es kein Zurück mehr gab. Ray hatte sich verrechnet – das wussten sie beide –, aber nur Samson begriff, wie sehr. Nein, Ray war kein schlechter Mensch. Er war etwas, was vielleicht noch schwerer zu akzeptieren war: ein Durchschnittsmensch, nicht besser oder schlechter als irgendwer sonst.

«Teilen? Aus dem eigenen Kopf herausschlüpfen?» Samson hörte sich zwar selber sprechen, aber er wusste nicht, ob seine Worte Ray erreichten. «Ich würde sagen, so allein war ich noch nie.»

«So allein erinnern Sie sich nicht, je gewesen zu sein», korrigierte Ray, indem er sich die blutige Hand an seinem Hemd abwischte und ertastete, wo die Nase gebrochen war. Der blaue Stein an seinem Ring blitzte in einem Lichtstrahl. «Vielleicht war es die falsche Erinnerung», räumte er ein. «Vielleicht hätte ich lieber etwas weniger Dramatisches auswählen sollen …»

«Vielleicht hätten Sie lieber gar nichts auswählen sollen!»

«Verdammt, Samson, Sie haben das freiwillig gemacht, in voller Kenntnis.» Ray sprach durch die Zähne. Sein kühler Ton überraschte Samson. «Versuchen Sie nicht, es auf mich abzuwälzen, als hätte ich Sie irgendwie im Stich gelassen. Es gibt nichts, was ich Ihnen nicht gesagt hätte, außer wessen Erinnerung Sie bekommen sollten und was es für eine war. Das hätte Bilder in Ihrer Vorstellung heraufbeschworen und die reine Übertragung gestört.»

«Haben Sie mal daran gedacht, wie es sich anfühlen würde? Einen Albtraum im Kopf zu haben, der jemand anderem gehört? Oder hat Ihre Phantasie da ausgesetzt?»

«Es war ein Test, kein Kriegseinsatz. Ich habe Ihnen schließlich keine Folter oder Schlachtfelder verpflanzt, oder? Bleiben wir doch auf dem Teppich.» Das Blut tropfte weiter, machte rote Flecken auf Rays Hemd. «Was Sie bekommen haben, ist nur die Erinnerung an einen Test, der vor vierundvierzig Jahren stattgefunden hat. An einen historischen Moment. Gewaltig, ja, aber wir brauchten einen starken Eindruck. Etwas Spezifisches und Intensives, das sich nicht mit irgendwelchen eigenen Erinnerungen vermischt. Als Sie und Donald sich dann in der Wüste verirrt hatten, als ich Sie an jenem Tag am Straßenrand fand, sah ich es auf Ihren Gesichtern, was da schon an Bindung bestand, was Sie miteinander teilten. Die Situation war ideal für die erste Übertragung.»

Samson starrte ihn schweigend an, abwartend, ob Ray noch etwas sagen würde, irgendetwas, um ihre eigene Bindung zu retten, wegen der er überhaupt erst nach Clearwater gekommen war.

«Tun Sie nicht so», blaffte Ray ihn an. «Sie waren der perfekte Kandidat, wir wussten es doch beide. Ihre ganze Situation – diese immense Aufnahmefähigkeit für neue Erinnerungen – machte es praktisch unvermeidlich.» Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. «Ich bin enttäuscht, muss ich sagen. Als hätten Sie alles vergessen, was wir diskutiert haben. Mut zum Risiko, die Wissenschaft voranbringen. Auf unbekannten Wegen, die nie ein Mensch gegangen ist, haben wir das nicht gesagt?»

«Dafür gibt es Gründe.»

Ray hielt die Hände hoch. «Es gibt auch Gründe dafür, dass wir keine Menschen auf den Mars schicken. Aber eines Tages wird es diese Gründe nicht mehr geben. Verdammt, Sie sind an der vordersten Front der Wissenschaft, Samson. Ich dachte, wir hätten einander verstanden. Etwas Unerhörtes ist vollbracht. Ja, wir haben noch viel vor uns. Aber wir sind weiter, als irgendjemand hier gedacht hätte. Dass so viel von der Erinnerung angekommen ist, das ist einfach gewaltig. Viele hätten sich darum gerissen, an Ihrer Stelle zu sein, in die Geschichte einzugehen. Es ist lächerlich, jetzt so einen Wutanfall hinzulegen.»

Es wäre besser gewesen, sich die Wut zu bewahren, weiter auf Ray einzudreschen, Stühle umzuwerfen, mit der Faust das Fenster einzuschlagen – irgendetwas anderes zu spüren als die Erschöpfung und die Traurigkeit, die er jetzt empfand. Er wünschte, er wäre nie in die Wüste gekommen, hätte das Telefon einfach klingeln lassen damals, in jener verschneiten Nacht Ende Januar. Alles außer der Einsamkeit war ihm genommen.

«Wie ich immer gesagt habe, es ist faszinierend, wie Sie denken, Samson. So viel Gedächtnis zu verlieren und es nicht wiederhaben zu wollen. Aber auch gar nichts davon. Das ist stark. Ein Mann, der nicht von lebenslangen Erinnerungen geblendet ist, der die Macht einer einzigen zu schätzen weiß. Als Lavell mir erzählte, man habe Sie hier draußen in der Wüste gefunden, kam mir das fast schicksalhaft vor. Ich meine, können Sie mir das beantworten: Ich habe mich immer gefragt, wohin zum Teufel gingen Sie da eigentlich?»

Samson starrte ihn schweigend und wie versteinert an. «Sie hatten kein Recht», sagte er schließlich und wandte sich zum Gehen. «Sie hätten mich in Frieden lassen sollen.»

«Damit Sie jetzt wo wären? Allein, wie ein Irrer durch die Straßen von New York wandernd? Sie sind gekommen, weil Sie es so wollten. Sie haben regelrecht auf den Anruf gewartet.»

Samson blickte zurück. Sie sahen einander in die Augen.

«Scheren Sie sich zum Teufel.»

Ray zuckte zusammen, Samson drehte sich um und ging zur Tür hinaus.

Draußen herrschte endlose Nacht, so vollständig schwarz, dass sie alles schluckte. Und dann fiel ihm die Antwort ein: Ich ging nach Hause.

Er kehrte in sein Zimmer zurück und packte seine wenigen Sachen. Die Stille war wie ein ungeheurer Druck, wie das windige Rauschen unter den mächtigen Schwingen eines Vogels. Behutsam drückte er die Eingangstür mit dem Fliegengitter auf und machte sich, die Tasche über die Schulter geschlungen, auf den Weg zur Teerstraße. Er spürte Rays beobachtenden Blick von irgendwoher und ärgerte sich über den Gedanken, dass Ray vielleicht früher als er selbst wissen würde, wohin er ginge. Er war sechs oder sieben Kilometer ostwärts gelaufen, als das erste Auto kam, ein Pärchen mit verfilzten Haaren und einem mageren Hund auf dem Rücksitz. Eben ging die Sonne auf. Samson war kaum eingestiegen, da trat der Mann wieder aufs Gas. Sie waren unterwegs zu einer Tagung in Phoenix, zwei Hippies aus Oregon, die eine Fischzucht mit wilden Laichbecken für Blaupunktbarsche, schwarze Crappies und andere Arten, von denen Samson noch nie gehört hatte, betrieben. Die Frau verdrehte sich alle paar Sekunden auf ihrem Sitz, um Samson anzusehen. Sie mussten hundertdreißig gefahren sein, aber die Wüste war so weit und eintönig, dass der Wagen still zu stehen schien, sobald Samson einen Punkt in der Ferne fixierte.

Der Mann bot ihm mit einer Hand eine Zigarette an und kramte mit der anderen unter dem Sitz nach einer Kassette, während die Frau das Steuer ergriff und lenkte. Es war eine Raubkopie von einer Band, mit dem Stimmengewirr einer Menge im Hintergrund. Samson nahm die Zigarette und zündete sie mit der glühenden Spule aus dem Armaturenbrett an. Die Frau wippte beifällig mit dem Kopf, klopfte sich im Takt auf die Knie. «Das ist live», sagte sie unter Verrenkungen, als der Hund sich am Boden verkroch. In Vegas setzten sie Samson beim Four Palms Motel ab, wo sie einmal übernachtet hatten, und rasten winkend über den leeren Parkplatz davon.

 

Als er wieder aufwachte, war der Fernsehschirm schwarz, und draußen war es dunkel. Er stand auf, um den Wetterkanal anzustellen, doch es rührte sich nichts. Er wackelte an den Knöpfen und schlug auf den Apparat, der aber kein Lebenszeichen von sich gab. Er nahm das Telefon vom Nachttisch und wählte die Rezeption in der kleinen Baracke gegenüber einem Areal schwach beleuchteter Parkplätze.

«Hallo?», antwortete eine Frau so prompt und begierig, als hätte sie seit Monaten keinen Anruf mehr bekommen. Der Angestellte, der beim Einchecken am Empfang gewesen war, ein kleiner Mexikaner mit tief liegenden, hohlen Augen, hatte erschrocken ausgesehen, als wäre Samson hereinmarschiert und hätte gedroht, die Bude mit einer Halbautomatik zu durchsieben, wenn er nicht auf der Stelle ein Zimmer bekomme.

«Ist da die Rezeption?»

«Ja, bitte?»

«Mein Fernseher ist kaputt.»

«Was ist passiert?»

«Weiß ich nicht. Irgendetwas ist passiert, und jetzt ist er kaputt.»

«Haben Sie ihn angestellt?»

«Sie fragen mich, ob ich ihn angestellt habe?»

Er kämpfte gegen das Bedürfnis, ins Telefon zu schreien, zu wüten, um das Ausmaß seines Schmerzes deutlich zu machen. Er wollte doch so wenig – nur dass ihm der Ton des Fernsehers durch die Nacht half, Regenverheißungen für anderswo, und sogar diese bescheidene Kleinigkeit blieb ihm versagt. Er fühlte sich niedergeschmettert, grundlos ins Unrecht gesetzt, und vielleicht merkte die Frau das seiner Stimme an, denn als sie wieder sprach, war die ihre sanfter.

«Ich muss das fragen. Sie würden sich wundern. Manche Leute glauben, wenn sie das Zimmer betreten, müsse der Fernseher laufen. Tut er es nicht, rufen sie an und beschweren sich, er sei kaputt.»

Er fragte sich, ob er tatsächlich die Baracke der Rezeption erreicht oder versehentlich eine falsche Nummer in der Fremde gewählt hatte. Sollte er allen Ernstes glauben, dass es hier draußen Leute gab, ganz normale Gäste, die überzeugt waren, ein Fernseher müsse laufen, sonst sei er kaputt?

«Schauen Sie», flehte er. «Bitte. Ich bitte Sie freundlichst, könnten Sie meinen Fernseher reparieren? Seien Sie so gut, seien Sie …» Er knetete sich die Stirn vor Verzweiflung. «Sie wissen gar nicht, wie viel mir das bedeutet.»

«Sir?» Ihre Stimme klang matt. Versprach nichts. Vermutlich war sie Psychopathen und Mörder gewöhnt. Dies war schließlich Las Vegas. Sie musste im alltäglichen Umgang mit Selbstmorden geschult worden sein. Eine Frau, die sich mit Kreidemarkierungen auskannte, die hundert Möglichkeiten nennen konnte, wie ein Körper ausgebreitet auf dem Boden landet. Ein kaputter Fernseher war kein Grund, sich aufzuregen, nicht für sie. Es gab andere, die sie brauchten, Menschen, die genau in diesem Moment anriefen und die sie retten konnte, indem sie einfach antwortete, wie sie es eben getan hatte, in scheinbar überraschtem Ton, als wären sie die Einzigen. Einsame, verlorene Menschen, denen sie Motelzimmer in Vegas spendete wie einen Segen, Menschen, denen sie helfen konnte, noch eine Nacht zu überleben. «Ich versuche, so schnell wie möglich jemanden vorbeizuschicken», sagte sie. Mehr könne sie nicht tun, und weil das nicht genug war, weil er die Stille im Raum nicht ertrug, stand er auf und ging in die Nacht hinaus.

Er hatte eine Erinnerung an Las Vegas, auf dem Weg zum Flughafen durchs Fenster des Taxis, als Anna gekommen war, um ihn nach Hause zu holen. Die Lichter hatten ihn verblüfft, eine Stadt, die gegen jede Vernunft existierte – der schieren Realität zuwider – und eine einzige affirmative Botschaft sendete: JA! JA! JA! Ein Jahr war vergangen, seit er in einem fremden Leben aufgewacht war, in einer Stadt, von der niemand erklären konnte, warum er dorthin gekommen war. Und jetzt, da er benommen den Strip hinunterging, waren es nicht die Neonlichter, sondern andere Leute, die er sich nicht erklären konnte, umschlungene Paare oder dichte Pulks, Leute, die glücklich wirkten, regelrecht strahlend und Händchen haltend, ein Mann, der einer Frau in den Po kniff, worauf sie lachte und ihn auf seinen schlug, Leute, die so frei waren, einander zu berühren, die etwas miteinander zu reden hatten und Geheimausdrücke teilten, die nur sie verstanden, die sich, o Gott, an ihre erste Begegnung erinnerten.

Er ging in ein Casino und wanderte an den Tischen entlang, drängte sich in eine um ein Würfelspiel versammelte Menge. Vielleicht ist es ja gar nicht so schwer, dachte er bei sich, schieb dich einfach zwischen den dicken Kerl hier und die Dame im goldenen Kleid, und schon bist du drin, Teil des Ganzen, mitzitternd im Glanz des High Rollers und seiner Glückssträhne, im Vorteil gegen die Bank. Und eine Weile war alles gut, der Schrecken wich von ihm. Aber dann begann der Mann zu verlieren, die Stimmung schlug um, und bald wurde Samson hinausgeschoben und wanderte wieder durch das Labyrinth von Spielautomaten und Filztischen. Er sah, wie ein schwergewichtiger Mann mit schweißgetränktem Hemd seinen Körper hängen ließ, während die Rausschmeißer ihn über den Boden schleiften; wie er einen Schuh verlor, der liegen blieb, bis eine Kellnerin ihn aufhob und auf einem Tablett mit leeren Cocktailgläsern wegtrug. Ein Mann, der vielleicht seit Jahren verschuldet war, der Sicherheiten gegeben und später gemerkt hatte, dass er ohne sie nicht leben konnte.

Es gab keine Uhren im Casino, keine Fenster, nichts, was darauf hinweisen konnte, dass die Zeit an diesem Ort irgendeine Rolle spielte. Keine Spiegel, keine Selbstprüfung. Auf dem Hinweg war er in einen Spirituosenladen gegangen, um etwas Whiskey zu kaufen. Das passte zu dem neuen Bild, das er sich zulegen wollte: ein ganzer Kerl, der es mit jedem aufnehmen konnte, der sich nicht übers Ohr hauen ließ. Er hatte auf die einzige Marke gezeigt, die er wiedererkannte, Jack Daniel’s. Ein Schild gemahnte an die Ausweispflicht, also zückte er seine Papiere und zeigte sie dem Angestellten. Der Mann lachte und sah ihn seltsam an. «Keine Sorge, Mann. Ich glaub Ihnen schon.» Samson hatte auf den Boden gestarrt, während der andere das Wechselgeld herauszählte.

An der Wand war eine Reihe Münzfernsprecher. Er ging in eine Zelle und zog die Flasche aus der Papiertüte. Dann warf er einen Quarter ins Telefon und wählte die Nummer des Motels. Er schraubte den Deckel auf und nahm einen Schluck.

«Hallo?» Es war wieder die Heilige im Empfang, die das Telefon bediente wie eine Gewerbsmäßige. Samson zuckte zusammen, als sich der Alkohol durch seine Kehle bis hinunter in den Magen brannte. «Was kann ich für Sie tun?», fragte sie.

«Ich wollte mich erkundigen, ob mein Fernseher inzwischen repariert ist.»

«Welche Zimmernummer?»

Wie viele Leute mochten seit vorhin einen kaputten Fernseher gemeldet haben, wunderte er sich, dass sie ihn schon vergessen hatte?

«Zwölf siebenundvierzig. Wissen Sie nicht mehr? Ich habe am frühen Abend angerufen.» Er hörte sie klimpernd mit den Fingern über das Schlüsselbrett fahren.

«Hm, ja …» Er nahm noch einen Schluck Whiskey, während sie in den Karteikarten suchte. Vielleicht war sie doch unerfahrener, als er gedacht hatte. Mitnichten eine Heilige, sondern ein Lehrling. «Sieht so aus, als wäre der Techniker vor einer Stunde geschickt worden. Dürfte in Ordnung sein.»

«Wie spät ist es?»

«Vierzehn Minuten nach zehn», antwortete sie und fügte nachträglich «abends» hinzu, für den Fall, er wäre einer von denen, die den Verstand verloren haben.

Aber er hatte seinen Verstand nicht verloren. Im Gegenteil, er hatte alles andere verloren. Sein Gedächtnis, seine Frau, seine Arbeit, seine Freunde, vierundzwanzig Jahre seines Lebens – aber nicht seinen Verstand. Außer ihm war nichts geblieben, und Samson hatte sich in ihn zurückgezogen, weil es kein Anderswo gab. Er nahm noch einen Schluck und steckte den Jack Daniel’s in die Innentasche seiner hellbraunen Windjacke. Er stützte sich auf das schmierige Messinggeländer des Balkons und überschaute den Casinosaal: es wurde gezockt, getauscht, getäuscht und abgeräumt, gemischt und betrogen, während Spieler ihre Brillen putzten, sich die Eier zurechtrückten, ihre Chips zu Säulen häuften und blitzende Lichter sie umkreisten, eine Bingo-Spielerin mit offenem Mund auf einem Sessel eingeschlafen war und eine Frau ihre Handtasche unter einen Spielautomaten hielt, der die ganzen von ihr selbst hineingestopften Münzen wieder ausspuckte, und was für ein Sieg, wunderte sich Samson, war das? Nein, es war nichts mehr übrig außer dem Verstand. Alles andere verlebt oder verloren, und jetzt überschaute er den Schaden, kippte den Jack Daniel’s herunter und sah sich den Trümmerhaufen an.

Der Alkohol begann sein Unglück zu vernebeln. Er ging los, eine Zigarette auftreiben, und kam an drei Jungen vorbei, nicht älter als fünfzehn oder sechzehn, herausgeputzt in Anzug und Fedora-Hut, wie halbwüchsige Mafiosi.

Sie redeten mit ernsten Stimmen, wahrscheinlich über den nächsten Schritt ihres Plans, nachdem es ihnen gelungen war, sich ins Casino einzuschmuggeln. Der eine hielt verdeckt eine Zigarette in der hohlen Hand und zögerte, als die beiden anderen zu den Kartentischen gingen. Samson trat näher. Der Junge blickte argwöhnisch auf, wappnete sich.

«Hey», nickte Samson, die Hand an die Brust gedrückt, wo die Flasche in Sicherheit war. Der Junge nickte zurück, lehnte sich steif gegen die Wand. «Hast du ’ne Zigarette übrig?»

Das gefiel dem Jungen. Er richtete sich auf und langte in die Brusttasche, schob die Geldbörse beiseite, um an das Päckchen zu kommen. Wahrscheinlich hofften die drei auf ein gemeinsames Abenteuer, hatten alles zusammengekratzt – jahrelang gespartes Taschengeld, Selbstverdientes aus Sommerjobs beim Rettungsdienst im öffentlichen Schwimmbad, Geld von der Bar Mizwa oder was immer die christliche Entsprechung war, Taufe oder Firmung, die Trinkgelder von Eltern, die ihnen ihre Kinder im Babybecken überließen –, all diese verschwitzten, zerknüllten, oft abgezählten Scheine für eine heiße Nacht mit einer Hure.

Der Junge öffnete das Päckchen, klopfte eine heraus und bot sie Samson an. Dann klappte er ein silbernes Zippo mit eingraviertem Drachen auf. Samson beugte sich vor, die Zigarette zwischen den Lippen, und der Junge machte einen Akt daraus, die Flamme abzuschirmen, ein symbolischer Freundschaftsdienst, der in dem fast luftleeren Casino vollkommen überflüssig war. Samson lüftete den Jack Daniel’s, den er an der Brust geborgen hatte wie ein verletztes Häschen. Er nahm einen kurzen Schluck, indem er die Flasche zwischen die Lippen stieß und den Kopf betont zurückwarf, dann reichte er sie weiter. Der Junge wischte nicht einmal den Rand ab, kippte nur den Kopf nach hinten und trank, als wollte er das frisch geknüpfte Band zwischen ihnen nicht durch das leiseste Misstrauen gefährden. Er hatte eine scharfe, etwas zu groß geratene Hakennase und auffällig blasse Haut mit verstreuten Pickeln um das Kinn: ein Gesicht, dem die besten Zeiten noch bevorstanden.

«Samson Greene.» Samson streckte die Hand aus, und der Junge schüttelte sie.

«Luke», murmelte er, sonst nichts, noch in einem Alter, in dem Nachnamen den Gleichaltrigen vorbehalten waren, hin und her geworfen auf dem Sportplatz und in dunklen Kellern, leise zugerufen an der Raucherwand hinter der Schule. Luke, sagte der Junge, als wäre es eine Niederlage, ein obligatorisches Eingeständnis, dass Samson der Ältere war. Er erinnerte ihn an einen Pfarrerssohn, dem respektvolle Manieren bis zum unwillkürlichen Reflex eingetrichtert worden waren. Sie lehnten an der Wand und ließen die Flasche hin und her wandern. Eine Reisegruppe strömte herein, ein Bus voller Gruftis, die zwischen den Spielautomaten wimmelten, als wäre eine Mäuseplage ausgebrochen. Das Casino begann zu verschwimmen. Nach den höllischen Tagen allein im Motel war Samson froh, Gesellschaft zu haben. Ein Gefühl von Dankbarkeit wallte in ihm auf, als er Luke den letzten Whiskey reichte.

«Schöner Anzug.»

«Danke», sagte Luke. «Ich ziehe ihn nie an. Ich habe ihn … Ich weiß gar nicht, wofür ich ihn gebraucht habe. Ich glaube, zur Hochzeit meines Cousins. Seitdem habe ich ihn nicht mehr getragen.»

Er hatte einen leichten, kaum wahrnehmbaren Akzent. Nein, kein Pfarrerssohn, sondern der Sohn eines Missionars, beschloss Samson, das muttersprachige Englisch gestutzt wie eine Treibhauspflanze, geschützt gegen den aufdringlichen, vulgären Jargon auf den Straßen des lausigen, rückständigen Landes, in dem er aufgewachsen war.

Samson merkte, wie Luke seine Kleidung musterte. Kein Zweifel, der Junge wusste nicht, was er damit anfangen sollte: die verdreckte hellbraune Windjacke, die zerknitterte, um die Hüften schlotternde Hose. Die absurden blauen, von Staub gebleichten Wildlederschuhe. Luke ließ das alles auf sich wirken und sah Samson ins Gesicht. Ein äußerst respektvoller Junge, nicht voreilig in seinen Urteilen, zur Nächstenliebe erzogen, der eine kleine Ausschweifung so unschuldig erprobte, wie er einst den Katechismus gelernt hatte. Der seine frühen Jahre in Thailand oder vielleicht in Burma verbracht hatte, wo sein missionierender Vater Tausende bekehrte, während der Sohn aus den Fenstern eines großen Hauses starrte oder allein in dem bewachten Hof Schlangenjagen spielte.

«Wo sind sie hin, die beiden anderen?»

«Die?» Luke zuckte die Achseln. «Roulette spielen, nehme ich an. Vielleicht Blackjack, keine Ahnung. Und Sie, spielen Sie?»

Ein Junge, der so ähnlich war, wie er selbst mit fünfzehn oder sechzehn gewesen sein musste. Einer, der Samson in der gleichen Weise akzeptierte, wie Frank es getan hatte: beiläufig, ohne Fragen. Er legte den Arm um ihn, und Luke grinste, die Augen auf den Boden gesenkt. Samson wünschte, er könnte ihm mit Rat und Weisheit zur Seite stehen. Ihm für eine Weile der ältere Bruder sein, den er selbst nicht gehabt hatte.

Er fühlte sich herrlich berauscht. Richtig, er hatte alles verloren! Er war ein freier Mann, seines Lebens ledig für das Leben danach. Er konnte tun und lassen, was er wollte, nach Burma gehen und missionieren, sich einer Mönchsgemeinschaft auf einer Bergspitze in Asien anschließen. Eine Flasche Whiskey kaufen und alles verspielen, was er besaß.

«Hey», sagte er. «Was meinst du, gehen wir an die Bar?»

«Cool», sagte Luke.

«Wo zum Teufel ist hier eigentlich die Bar?», fragte er und führte den Jungen schwankend durch den Casinosaal.

 

Ein paar Stunden später saß Samson vor einem auf den Wetterkanal geschalteten Fernseher in Lukes Hotelzimmer im 33. Stock. Das Zimmer hatte nichts gekostet, weil der Vater des einen Jungen – nicht Lukes natürlich, sondern eines der beiden anderen – Stammgast im Casino war, ein schwerer Spieler, für den jedes Mal, wenn er in die Stadt kam, der rote Teppich ausgerollt wurde. Luke saß Samson gegenüber, die Beine über die Sessellehne geschwungen, den Filzhut an den Hinterkopf gedrückt. Samson erklärte noch einmal mit der unscharfen und überspannten Logik des restlos Betrunkenen, wie er in Vegas gelandet war.

«Vollständig ausgelöscht, sagen Sie? Wirklich?», fragte Luke.

«Genau das versuche ich zu sagen. Ich wachte auf, und es war nichts mehr da. Ich konnte mich an nichts erinnern – zuerst nicht mal an meinen eigenen Namen.»

«Sie wussten nicht mehr, dass Sie Samson heißen.»

«Richtig.»

«Und dann ruft irgendein Doktor, dieser Ray, bei Ihnen an.»

«Nein, nein, nein.» Samson wollte sich erheben, auf und ab gehen, Luke und sich selbst Klarheit über die Chronologie der Ereignisse verschaffen, die zu seiner gegenwärtigen Lage geführt hatten, dieser maßlosen Trunkenheit im 33. Stock eines Hotels in Las Vegas, dem – wie hieß es noch?

«Mirage», sagte Luke.

«Dem Mirage.» Aber er konnte sich nicht auf den Beinen halten und fiel in den Sessel zurück. «Mit dem Sohn eines Missionars», fügte er hinzu.

«Eines was?»

«Eines Missionars», wiederholte Samson laut, während er in dem Zigarettenpäckchen herumfingerte, um zu sehen, ob noch eine drin war.

«Wer ist Missionar?»

«Dein Vater.»

«Ist er nicht.»

Samson sah zu Luke hinüber und versuchte, ihn schärfer in den Blick zu bekommen. Der Junge hatte sein Jackett abgelegt, das Hemd ausgezogen und saß im weißen Unterhemd da, den Filzhut noch an den Hinterkopf geklemmt, wie das Foto eines alten Jazzmusikers, nur ohne Instrument. Auf den Fotos hatten sie immer das Instrument dabei, ein verbeultes Horn, das alles Licht zu absorbieren schien und den Raum in Dunkelheit tauchte.

«Und was hat er dann in Burma gemacht?»

«In was?», kreischte Luke, lachend, als hätte Samson eine Pointe losgelassen.

«Burma.»

Luke richtete sich auf, hielt es für an der Zeit, eine ernste Antwort zu geben.

«Mein Vater ist Anwalt in L.A. und nie in Burma gewesen.»

Samson versuchte, diese Neuigkeit gelassen aufzunehmen. Luke fingerte an seiner Hutkrempe, den Blick abwartend auf Samson gerichtet. Schön, sein Vater war also Anwalt. Aber war das ein Grund, sie vom Thema abzubringen, wo sie doch gerade dabei waren zu klären, wieso Samson am Ende dort gelandet war, wo er sich befand?

«Wenigstens hast du einen Dad», sagte er ruhig. «Auch egal, wenn er nie in Burma war.»

Luke zögerte, versuchte zu folgen.

«Ich kann mich nicht mal an meinen Dad erinnern», erklärte Samson. «Er ist abgehauen, als ich drei war.»

«Mein Alter ist ein absolutes Arschloch», sagte Luke mit sich verfinsternder Miene.

«Wie meinst du das?»

Luke zuckte die Achseln. «Ich meine, er ist ein Arschloch.»

«Weiß er, dass du hier bist?»

«Sie machen Witze!», schnaubte Luke. «Er würde ausflippen. Er glaubt, ich sei in San Diego, bei einer Messe für Wissenschaft und Technik.»

Samson ließ den Gedanken sacken, kämpfte sich durch den Alkoholschleier, um den Jungen als den zu sehen, der er wirklich war, obwohl es eine hübsche Geschichte gewesen wäre, eine schöne Sache, sich vorzustellen, wie der Junge auf seinem chinesischen Fahrrad durch die Zimmer fuhr, in dem Glauben, sein Vater tue Gottes Werk.

Luke zupfte schweigend an seinen Schnürsenkeln.

«Weißt du was?», sagte Samson schließlich.

«Jaa?»

«Ich werde dir mal was sagen.»

«Und was?»

«Du sollst es dir merken, weil es dir sonst niemand sagen wird.» Er machte eine Pause und sah dem Jungen fest ins Auge. «Die Menschen taugen nichts, Luke. Ich sag’s dir, sie lassen dich einfach im Stich.»

Luke nickte. «Ja, glaub ich wohl.»

«Es ist wahr. Aber weißt du was? Scheiß drauf. Wir brauchen sie nicht.»

Luke blickte auf, und Samson warf ihm ein Lächeln zu.

«Jaa», stimmte Luke grinsend zu.

«Scheiß drauf», wiederholte Samson, voller Genuss an seinen Worten.

«Scheiß drauf», echote Luke.

Samson nickte, gönnte sich Zeit, bis das sich gesetzt hatte. Der Wetterkanal brachte das Neueste aus den Tropen. «Also.» Er rieb sich die Augen. «Wo zum Teufel war ich?»

«Im Krankenhaus.»

Ja, Luke war da, es mit ihm durchzustehen, die ganze Geschichte, bis zum Ende. Sein Vater war ein Arschloch, na und? Eines Tages würde der Junge erwachsen werden und das alles hinter sich lassen.

«Richtig. Und ich erinnere mich an nichts. Und dann steht diese Frau an meinem Bett, eine wunderschöne Frau.» Möge es wie ein Märchen sein, eine dunkle, faszinierende Geschichte, so einfach, dass der Junge sie irgendwann seinen eigenen Kindern erzählen können würde.

«Ihre Frau.»

«Meine Frau», sagte Samson und lehnte sich zurück, um fortzufahren.

«Ihr Leben», fügte Luke hinzu.

«Meine Frau, mein Leben», sagte Samson großmütig. «Anna.»

Indem Samson redete und Luke die Dinge klarstellte wie der Meister und sein Schreibgehilfe, breiteten sie die Ereignisse des letzten Jahres aus. Es war das erste Mal, dass Samson die ganze Geschichte erzählte. Lavell, Donald, Lana, Ray, ja sogar Anna – sie alle kannten nur Bruchstücke, und außerdem hatte jeder von ihnen seine Vorurteile. Luke dagegen war ein fairer, unparteiischer Zeuge. Und so, mit dem Vibrato eines Chorsängers, trunken von Whiskey und Wahrheit, wieder und wieder bemüht, auf den Sessel zu steigen, um von der Höhe eines Podests aus zu sprechen, beichtete Samson die ganze Sache. Denn jetzt konnte nichts mehr gegen ihn verwendet werden. Er hatte gelitten, und dafür würde ihm Amnestie gewährt. Luke würde dafür sorgen. Wenn die Zeit gekommen war – wenn Samson das Beweismaterial zusammengetragen und die Spitze des Berges erklommen hatte, um auf die armselige Welt herabzusehen, wenn er eine Weile, den Wind im Rücken, in der gerechten Stille gestanden und langsam den Abstieg begonnen hatte, wenn seine Füße ruhig, verspätet die Erde berührten –, würde der Junge da sein und ihn erwarten. Samson würde vor ihm niederknien, und Luke würde seine Hände auf Samsons Kopf legen und ihn segnen. Und dann wäre Samson endlich frei.

Als sie mit allem durch waren, war es vier Uhr morgens. Das Zimmer war übersät mit zerknülltem Briefpapier aus dem Hotelbestand und kleinen Schnapsflaschen, die sie in der Minibar gefunden hatten. Einer von Samsons Wildlederschuhen hing an der Leuchte, wo er ihn zur Betonung eines Arguments hingeschleudert hatte. Sie hatten alle Einzelheiten drei oder viermal geprüft. Es hatte Momente der Erschöpfung und viele Tiefpunkte, Löcher des Schweigens gegeben, aber aus diesen war die Sprache umso kräftiger und blühender geströmt. Luke mit seinen ständigen Einwürfen und dem unersättlichen, fast fanatischen Bedürfnis nach Klarheit hatte sich ebenso hineingestürzt wie Samson. «Vollständig ausgelöscht!», hatte er jedes Mal gerufen, wenn sie mit der Geschichte in eine Sackgasse geraten waren.

Als sie sich schließlich durch die ganze Verwirrung gekämpft hatten, verkündete Luke, er habe einen Plan.

«Der Tumor», erklärte er.

Samson begriff, dass dies etwas Entscheidendes bedeuten sollte, aber es war zu knapp, zu allgemein, als dass er gleich kapiert hätte, was der Junge meinte.

«Weiter.»

«Das pilo …»

«Pilozytische Astrozytom.»

«Entfernt am 14. Mai 2000 in der Universitätsklinik von …» Hier zog Luke die Augenbrauen hoch und spreizte die Hände. «Wo?»

«Das ist nichts Neues, Las Vegas.»

«Genau. Las Vegas.» Luke kramte nach seinem Hemd und dem Jackett. «Also los, gehen wir.»

«Wohin?»

«In die Klinik!», heulte Luke, frustriert über Samsons Begriffsstutzigkeit.

«Und was sollen wir da?»

«Den Tumor wiederholen!»

Samson war nicht mehr ganz so besinnungslos betrunken wie zuvor, und eine leichte, fast metallische Spur Nüchternheit ließ ihn zögern, bevor er den Mund aufmachte. Aber nach einem Moment kam er zu dem Schluss, dass er keine andere Wahl hatte, als mit Luke zu kooperieren. Zum einen hatte er ihn schon zu tief in den Exzess geführt, um jetzt einen Rückzieher zu machen, bei all der Enttäuschung und den Gefühlen von Verrat, die der Junge dann sicher empfinden würde. Er wollte ihm den wunderbaren, gläsernen Schein seines Glaubens, seiner felsenfesten Überzeugung, irgendwann müsse der unvermeidliche Augenblick des Verstehens kommen, nicht kaputtmachen. In der Blüte seines Lebens mit erhobener Hand zu bekennen, dass man nichts versteht, oder schlimmer noch, dass man versteht und dennoch machtlos bleibt, war zu bitter und trostlos, zu viel, um es dem Jungen zuzumuten und seine Nase auch da noch hineinzutunken. Nicht jetzt, auf dem Höhepunkt ihrer Enthüllungen.

Aber sein Wille, Luke nicht zu enttäuschen, war nicht der einzige Grund, warum er bereitwillig bei jedem noch so idiotischen Plan, den der Junge ausgeheckt haben mochte, mitmachen wollte. Vielleicht war es auch eine Wirkung des Alkohols. Oder eine kleine Gefühlsduselei, die ihn zu großen Gesten stimulierte. Unabhängig von der Begründung erkannte Samson jedenfalls einen Sinn darin, den Tumor, seinen im Krankenhaus aufbewahrten Tumor, zurückzuverlangen. Luke hatte Recht: das musste sein. Er würde hingehen und sich den Tumor wiederholen, weil er für alles stand, was Samson verloren hatte, weil er ihm gehörte.

Er würde nicht mehr zulassen, dass einfach Dinge mit ihm geschahen. Er lebte, und zum ersten Mal, seit er aus dem Schlummer seines vergangenen Lebens erwacht war, spürte er das. Er war sich nicht mehr jedes Augenblicks schmerzlich bewusst wie beim Erwachen nach der Operation. Er hatte jetzt eher den Eindruck, dass nur Sterbende, denen die Welt schon verloren war, sie in solch scharfer und formaler Klarheit sahen. Nein, dies war etwas anderes, als wäre ihm an irgendeinem Punkt dieses nächtlichen Saufgelages sein Leben zurückgegeben worden. Ein Aufschub, der sein pochendes, hämmerndes Herz vor glühender Hoffnung zerspringen ließ.

Es war nach vier Uhr morgens, als sie eines der vor dem Hotel wartenden Taxis bestiegen. Ganz am Rande registrierte Samson, dass Luke betrunkener war, als er gedacht hatte. Der Junge benahm sich ausgelassener, geradezu extrem, seit sie unten waren. Samson unternahm keine wirkliche Anstrengung, ihn zu beruhigen, versuchte nur, seine Hand festzuhalten, als er Dollars von der dicken Rolle in seiner Tasche schälte und die feuchten, zerknitterten Scheine wie wertlose Rupien an vorübergehende Fremde verteilte.

«Behalt das lieber. Vielleicht brauchen wir es noch», flüsterte Samson.

«Stimmt», sagte Luke und zog einen Fünfer zurück, den er gerade einer Kellnerin unter den Gürtel gesteckt hatte.

Das Taxi setzte sie vor der Notaufnahme ab. Ein Mann ging, die Hand gegen die Brust gepresst, durch die automatische Schiebetür, aber sonst deutete nichts auf eine Krise hin. Die Handvoll Leute auf den aneinandergereihten Plastiksitzen starrten so zutiefst gelangweilt auf die installierten Fernseher, dass man meinen mochte, sie warteten darauf, als Stuntmen für die Hinterbliebenen einzutreten. Es war ein merkwürdiger Wechsel vom Casino hierher, und die beiden standen verstört im blendenden Licht der fluoreszierenden Leuchten. Luke rückte sich den Hut zurecht. Langsam dämmerte es Samson, dass er in diese Unfallstation gebracht worden sein musste, nachdem die Polizei ihn in der Wüste aufgelesen hatte. Er fragte sich, ob er es im geschlossenen Raum des Vergessens nicht als Erleichterung empfunden hatte, dass ihm sein Schicksal aus den Händen genommen worden war. Ob er sich nicht recht bereitwillig auf die Pritsche gelegt, die Augen geschlossen und sich aller Ansprüche auf Begründungen begeben hatte, ohne jegliches Verlangen, noch irgendetwas zu verstehen.

Eine streng aussehende Oberschwester näherte sich mit jener Art Plastikkloben an den Füßen, von denen sich Blut leicht abwaschen lässt. Er überlegte, ob er ihr die Sache mit der Erinnerung erzählen sollte, die ihm ins Gehirn geträufelt worden war wie Bakterien in eine Petrischale.

«Sind Sie schon aufgenommen?»

Samson starrte sie an, ohne Reaktion.

«Hallo? Ich fragte, ob Sie schon aufgenommen sind?», wiederholte sie, jede Silbe einzeln betonend, als spräche sie mit einem Ausländer oder einem Idioten. Im Geiste sah Samson sie Elektroschocks verabreichen.

«Wir sind hier falsch», sagte er, packte Luke und zog ihn rückwärts durch die automatische Schiebetür.

Draußen rieb Luke sich den Arm und warf Samson einen vernichtenden Blick zu.

«An der wären wir nie vorbeigekommen», erklärte Samson.

Sie schlurften um das Krankenhausgelände herum, bis sie den Haupteingang fanden. Luke hatte sich etwas beruhigt, aber Samson traute der Ruhe nicht; vielleicht war sie nur das Auge des Sturms. Während der Taxifahrt hatte Luke das Blaue vom Himmel geredet, Angriffspläne ausgebreitet, die Samson sogar in seinem noch mächtigen Rausch weit hergeholt, wenn nicht absurd erschienen waren. Dennoch war er sich bewusst, dass der unausgesprochene Pakt, den er fast von Anfang an mit Luke geschlossen hatte, auf einer stillschweigenden Verabredung gegenseitiger Duldung und Nachgiebigkeit beruhte, und so unternahm er nichts, um Lukes Überschwang zu bremsen. Sicher, sie könnten sich als finnische Gastmediziner ausgeben, hatte er bestätigt, oder ein paar Hausangestellte bewusstlos schlagen und ihre Kluft anziehen.

In der Empfangshalle war eine kleine Ausstellung über Hauttransplantationen. Der Schaukasten zog Luke sofort in den Bann. Samson kamen die Grafiken, Fotos und medizinischen Diagramme vor wie eine grausame Sammlung, um Laien das Fürchten zu lehren, aber Luke war fasziniert. Samson sah sich nach dem Weg zum Labor der pathologischen Abteilung um, während der Junge zurückblieb, das Gesicht gegen den Kasten gepresst, auf dessen Scheibe sich eine feuchte Atemwolke bildete.

Doch als Samson ein paar Minuten später wiederkam, war Luke verschwunden. Keine Spur von ihm, außer dem schwarzen Filzhut, der auf dem Boden lag. Samson schnappte ihn sich und ging los, den Gang hinunter, in der Annahme, allzu weit könne Luke nicht sein. Da er mit dem Hut nichts anzufangen wusste, setzte er ihn auf. Er war zu klein, und als kein Ziehen und Herunterdrücken half, ließ er ihn einfach hoch auf dem Kopf sitzen, in der linkischen und doch saloppen Art der orthodoxen Juden, die er in frenetischer, hitziger Geschäftigkeit durchs Diamantenviertel im Zentrum von Manhattan hatte schwärmen sehen (sie schienen etwas Größeres darunter zu verbergen – ein Hühnchen, war ihm verrückterweise in den Sinn gekommen). Diese plötzliche Erinnerung überraschte ihn, und während er auf der Suche nach Luke durch den Flur eilte, empfand er einen Stich Sehnsucht nach dem wechselhaften Licht von New York, dem hellen Glanz und plötzlichen Schatten. Aber er verscheuchte den Gedanken fast so schnell, wie er gekommen war. Seit der Abreise von Clearwater hatte er verzweifelt versucht, alle nicht direkt auf den gegenwärtigen Moment bezogenen Gedanken zu verdrängen, vor lauter Angst, die schnell arbeitenden Verknüpfungen des Gedächtnisses würden ihn irgendwann kopfüber in die eine Erinnerung krachen lassen, die er um jeden Preis vermeiden wollte: tausend Männer auf dem Wüstenboden, ins Licht der Morgendämmerung blinzelnd.

Er hastete den Flur entlang, den Hut auf dem Kopf, sich um Hindernisse duckend, fahrbare Liegen und den einzelnen Rollstuhlfahrer in Krankentracht, einem weiten Baumwollmantel, formlos genug, um jeder vorstellbaren menschlichen Physiognomie zu passen. Bald mündete der lange Korridor in andere lange, ebenso sterile Korridore, und Samson verlor die Orientierung. Der säuerliche chemische, so extrem unmenschliche Geruch und das schlechte Licht, das alles in einen einheitlichen, krankhaften Ton tauchte, reichten aus, um eine gespannte, nervtötende Atmosphäre zu verbreiten; es bedurfte kaum des zurückgebliebenen Kindes, das plötzlich aus einem anderen Flügel kam und den Kopf in einem ewigen Bemühen, die Augen geradeaus zu richten, mechanisch hin und her drehte; oder des geifernden alten Mannes mit einem Netz blauer Krampfadern an den Beinen, der immer noch irgendwie hoffnungsvoll aussah, als erwartete ihn alles andere, nur kein elendes Schicksal. Diese Begegnungen, mit den Todkranken in eine Waagschale geworfen, ließen den ersten Schrecken ins Albtraumhafte anwachsen. Sie setzten jeglichem Glück der Trunkenheit, das Samson sich gegönnt hatte, einen kräftigen Dämpfer auf.

Luke war nirgendwo zu finden, aber Samson beschloss, den Plan trotzdem weiter zu verfolgen – Plan im lockersten Sinne: nämlich irgendwie in den Besitz des Tumors zu gelangen, da sie sich noch auf keine Strategie geeinigt hatten. Es bestand eine wenngleich geringe Chance, dass Luke jetzt auf eigene Faust zur Pathologie im sechsten Stock unterwegs war. Oder dass seine leicht entzündliche Begeisterung etwas Neues entdeckt hatte, woran sie sich festmachen konnte, etwas, das seine Aufmerksamkeit so lange fesseln würde, bis Samson das Vorhaben allein ausgeführt hatte.

Er fand den Fahrstuhl und stieg ein, einen großräumigen, mit Metall ausgekleideten Lastenaufzug. Als er die Hände in die Jackentaschen steckte, stieß er auf das letzte Fläschchen der geplünderten Minibar, einen Schuss Gin zum Auffrischen. Er schüttete ihn die Kehle hinunter. In der zweiten Etage schob ein Krankenpfleger eine Patientin auf einer fahrbaren Liege herein, teilnahmslos wie die chinesischen Händler mit ihren Karren, die Samson im National Geographic gesehen hatte. Die Patientin hing an einem Tropf und sah schwer krank aus. Samson wandte die Augen von ihrem Gesicht ab, erleichtert, als im sechsten Stock die Tür aufging.

Er strebte eilig durch den Gang zu dem ausgeschilderten Labor. Als er eintrat, saß eine junge Schwester hinter dem Tisch, eine bleichgesichtige Frau, die aussah, als könnte sie selbst eine Transfusion gebrauchen. Er begann ein zwangloses Gespräch, als wäre sie eine Bardame und keine Krankenhausangestellte mit direktem Draht zum Sicherheitsdienst. Während sie sprachen, überkam ihn ein Gefühl ruhigen Selbstvertrauens, eine Gelassenheit, die er bewahrte, als er die Finger um ihr Handgelenk schloss und ihr erklärte, er brauche Zutritt zum Labor. Irgendwo in ihm war das neue Bewusstsein seiner Fähigkeit, heftigen Zorn zu entladen. Die Schwester wich zurück und blickte sich hilfesuchend um, aber von denen, die sonst noch im Dienst sein mochten, war niemand zu sehen. Er sagte nichts von einem finnischen Gastmediziner, ja er gab überhaupt keine Erklärung ab, sondern schlug und parierte sich, nach Alkohol stinkend, so übermächtig durch den Wortwechsel, dass die erschrockene Frau, offensichtlich überzeugt, sie habe einen Geisteskranken vor sich, aufgab und ihn durchließ.

Es kam ihm vor wie die gut aufgebaute Szenerie eines schrecklichen, blutigen Unfalls. Die Ablagen waren mit bräunlichen Flecken bespritzt, und überall standen nummerierte Gläser und Behältnisse, die rot-gelbe Klumpen enthielten: menschliche Klumpen, fettige und blutige Stückchen Fleisch. Atypische Wucherungen. Schwerer Formalingeruch hing in der Luft, und man hörte ein leises Summen, wie von einer Waschmaschine. Samson drehte sich der Magen um, und einen Moment lang geriet seine Entschlossenheit ins Wanken.

Die Schwester folgte ihm hinein. Sie schien sein Zögern zu spüren und nutzte es zu einem Versuch, die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sie werde ihn kurz durchführen, sagte sie, aber dann müsse er schnell wieder gehen. Er beobachtete, wie sie sich ein Paar Latexhandschuhe schnappte und in einem Gefäß mit farbiger Flüssigkeit herumrührte, die Augen oben an die Decke gerichtet, bis sie ein gummiartiges, unförmiges Ding herausfischte, eine Brust, wie sie behauptete. Großzeug, nannte sie es, der Fachausdruck für alles, was noch nicht gespannt und geviertelt, eingelegt, beträufelt und in der Dicke einer einzigen Zelle auf einem Objektträger fixiert worden war. Samsons Übelkeit wich einer Faszination, die ihn völlig in Anspruch nahm. Berauscht, wie in einem Traum wollte er die anderen Präparate sehen. Die Schwester druckste, aber als er ein paar drohende Worte ausstieß, lief sie wieder zu den Behältnissen und hielt mit der Pinzette einen Gallenstein in die Luft. Stockend beschrieb sie die Vorgänge, wie das Großzeug auf einen kaum sichtbaren Schatten seiner selbst reduziert und gleich einem Fingerabdruck auf einem Objektträger fixiert wurde, ein kalligraphischer Fleck, der unter einer starken Linse Anzeichen von Krebs erkennbar machen sollte. Sie öffnete die Schranktüren, hinter denen sich, Reihe um Reihe, lauter kleine Schubkästen voller nummerierter Objektträger verbargen, ein endloser Wechsel menschlicher Schicksalsschläge und Erlösungen: bösartig, gutartig, bösartig, gutartig.

«Schwester», begann er, indem er einen flehenden Ton anschlug.

Sie drehte sich zu ihm um, die bleiche Frau im gestärkten weißen Kittel, und sagte: «Ich bin keine Schwester.»

Er sah sie an.

«Was sind Sie dann?»

«Laborassistentin», sagte sie, und im gleichen Moment beschloss er, jede Höflichkeit beiseite zu lassen und direkt zur Sache zu kommen. In lautem Befehlston verlangte er das Großzeug zurück, das ihm vor einem Jahr aus dem Gehirn geschnitten worden war.

Sie wich gegen die Ablage zurück. «So lange heben wir das nicht auf», flüsterte sie.

«Was soll das heißen, Sie heben es nicht auf? Warum heben Sie es nicht auf?»

«Das Gewebe zerfällt. Nach ein paar Wochen werfen wir es weg. Wir legen ein kleines Stück in Paraffin ein. Und die Objektträger, die bewahren wir auf. Die behalten wir im Grunde für immer hier.»

Samson kämpfte mit der Vorstellung, sein Tumor sei wie der Rest, Knochensplitter und Gemetzel, gebrauchte Spritzen und dreckige Verbände, im blutigen Krankenhausmüll gelandet. In einem nüchternen Winkel seiner selbst hatte er die ganze Zeit gewusst, dass es so sein würde. Aber, dämmerte ihm jetzt, da waren ja noch die Objektträger, dann würde er sich eben damit begnügen müssen. Die Laborassistentin begann sich langsam in Richtung Tür zu bewegen, doch Samson trat vor und schnitt ihr den Weg ab.

«Ich will meine Objektträger.» Bisher war es eher Spaß und Spiel gewesen. Sie hatte seinen Wunsch erfüllt, ihm das Spektakel von eingelegtem Menschenfleisch zu zeigen, um einen Zwischenfall zu vermeiden. Wahrscheinlich hatte sie, genau wie die Empfangsdame im Motel, Routine im Umgang mit Irren. «Geben Sie mir die Objektträger», wiederholte er.

Sie hatte feuchte, schwarze Pupillen, die Augen eines kleinen Waldtieres, und große Zähne. Wenn ihr Mund entspannt war, standen sie wie Hasenzähne unter der Oberlippe vor.

«Das kann ich nicht», sagte sie mit zitternder Lippe.

«Aber doch, das können Sie», versicherte er, indem er seine Hand neben ihrem Kopf an die Wand stützte und sich vorbeugte, um ihr seinen achtzigprozentigen Atem ins Gesicht zu blasen. «Sie gehören mir.»

Sie zuckte mit flatternden Lidern zurück. Nervös schielte sie über seine Schulter auf den Computer.

«Genau», ermutigte er sie. «Also los, sehen wir nach.»

Er zog sie am Ellbogen quer durch den Raum. Sie drückte eine Taste, und das verschrammte Gerät erwachte zum Leben.

«Wie heißen Sie?»

Er sagte es ihr. Sie hatte immer noch die Latexhandschuhe an. Sein Name erschien auf dem Bildschirm. Seriennummer 66589037. Juveniles pilozytisches Astrozytom. Linker Schläfenlappen.

«Das bin ich. Kommen Sie.» Er führte sie am Handgelenk zu den mit orangefarbenen Stickern für Biogefährdung gepflasterten Schränken. Systematisch, fast träge, zog sie die Metallschubladen auf und ging die Objektträger durch. Sie musste gehofft haben, es käme jemand herein, um sie von dieser Marter zu befreien. Samson beugte sich über sie, und sie sackte zusammen. Sie zog die richtigen Objektträger heraus und gab sie ihm.

Es waren sechs. Er hielt sie ins Licht. Auf jedem waren drei identische Halbmonde mit einem kleinen Punkt darunter. Achtzehn Schnitte, fuchsienrot und eine Zelle dick, von der vor einem Jahr aus seinem Gehirn entfernten Geschwulst, mit der das alles angefangen hatte. Er hätte ebenso gut den Stein von Rosette erbeutet haben können, so bewegt war er von den Geheimnissen, die das in Scheibchen geschnittene Gewebe enthielt. Am liebsten hätte er es auf der Stelle unter dem Mikroskop untersucht, aber er wollte nicht zu hoch pokern. Er steckte die Objektträger in die Tasche und half der zitternden Laborassistentin auf die Füße. Er sah ihr tief in die schwarzen Waldaugen. «Brava», flüsterte er, dann drehte er sich um und eilte, auf dem Weg alle Lichter ausknipsend, womit er das Labor, die Assistentin und das ganze Großzeug in Dunkelheit tauchte, zur Tür hinaus.

Eine Minute später wartete er vor dem Aufzug, als Luke um die Ecke gerannt kam, einen Arm wie ein Segel ausgebreitet, unter den anderen das Plastikmodell eines Gehirns geklemmt. Er schlidderte Samson vor die Füße und machte ein betretenes Gesicht. Samson hielt ihm den Mund zu, und als der Aufzug sich öffnete, stolperten sie hinein.

Es war hell draußen, als sie das Krankenhaus verließen. Luke schlief im Taxi ein, die angezogenen Knie wie ein Baby umschlingend, während das Plastikgehirn mit seinen ausklappbaren Hemisphären neben ihm auf dem Sitz hin und her rollte. Sein Haar war nass geschwitzt, und sein Gesicht sah kränklich aus. Im Tageslicht wirkten die Leuchtreklamen schäbig. Manche Buchstaben waren durchgebrannt, würden irgendwann auf einer Müllhalde landen wie Reste eines ausrangierten Scrabblespiels. Samson tastete nach den Objektträgern in seiner Tasche und blickte sich ängstlich nach hinten um, halbwegs auf eine Verfolgungsjagd mit der Polizei gefasst.

Vor dem Mirage rüttelte er Luke sanft aus dem Schlaf. Der Junge sah ihn an, lange und starr, wie einen Fremden, dann stolperte er aus dem Taxi, wobei er zu verstehen gab, dass er keine Begleitung wünschte. Samson sah ihn durch die messingumrandete Tür verschwinden, das Gehirn fest an sich gedrückt. Ein kurzer Widerschein im Glas, dann war er fort. Samson fühlte einen Stich von irgendetwas, vielleicht Bedauern. Er konnte die hässliche Szene im Krankenhaus schon als das sehen, was sie gewesen war: ein jämmerlicher letzter Versuch, sein Leben wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er wandte sich dem Taxifahrer zu.

«Zum Four Palms bitte.»

«Zum was?» Der Fahrer hatte Nasenlöcher wie ein Bulle.

«Zum Four Palms», wiederholte er mit einer Stimme, die ihm fremd in den Ohren klang.

 

Als er in sein Motelzimmer zurückkehrte, leuchtete immer noch kein Message-Lämpchen am Telefon. Der Fernseher lief wieder, und der Meteorologe sagte, Tun Sie sich mit Freunden zusammen, suchen Sie höher liegendes Gelände auf, als verkündete er das Evangelium. Lächelnd fuhr er fort: Und jetzt kommen wir zum Mittwoch, durch die Wochentage, über die Landkarte Amerikas und in die strahlende Zukunft marschierend.

Samson sank ohnmächtig ins Bett. Als er wieder aufwachte, dröhnte ihm der Kopf. Ihm war schlecht. Er überdachte die Ereignisse der letzten Nacht und versuchte herauszufinden, was genau passiert war. Seine hellbraune Windjacke lag zerknautscht am Boden, und er langte in die Tasche. Da waren die Objektträger. Er hielt sie ins Licht. Dann brachte er sie nahe vor die Augen und sah durch jeden der Halbmonde mit dem wandernden Stern hindurch. Wie ist das passiert?, fragte er sich. Es war der einfachste, der fundamentalste Gedanke, und er dachte ihn, jetzt auf und ab laufend, noch einmal. Wie ist das alles passiert? Ihm ging auf, dass er über Luke kaum etwas wusste, im Grunde nur, dass sein Vater ein nie in Burma gewesener Anwalt und in den Augen des Jungen, der noch keine Ahnung hatte, auf welche Weise das sein Leben prägen würde, ein Arschloch war. Er wusste nicht einmal Lukes Nachnamen. Und das war erst der Anfang von alledem, was er nicht wusste, die bloß flüchtig gestreifte Oberfläche seiner großen Ignoranz.

Er verfolgte die Prognosen, die minütlich aktualisiert wurden, sodass man nicht einmal dem blauesten Himmel trauen konnte, wenn das Wetterteam, gerüstet mit fotografischen Beweisen, Regen vorhersagte. In den meisten Fällen war das Wetter wirklich so egal. Ein Thema, das immer nur aufkam, wenn es nichts mehr zu sagen gab, und darum war es schwer zu glauben, der beständige Informationsfluss sei nicht mit einer bedeutsameren Botschaft unterlegt. Gekrümmt auf dem ungemachten Bett, dachte Samson über die Möglichkeit nach, die aktuellen Durchsagen der Meteorologen könnten kodierte Geheiminformationen sein. Von Süden zieht Feuchtigkeit heran, sagte der Wettermann. Aber wer versuchte hier eigentlich wen zu erreichen? Oder waren dies vielleicht gar keine Signale zwischen Menschen, sondern etwas viel Größeres, Zeichen aus einer kosmischen Quelle, von einer Macht der Güte, deren auserwählter Bote, ein Satellit, geräuschlos gleitend Wache über den Planeten hielt und nur eine einzige Botschaft sendete, die, wenn man sie denn herausbekäme, hieße: ALLESGUTALLESGUTALLESGUT?

Als das Telefon klingelte, erstarrte er. Einen Augenblick fragte er sich, ob es Ray sei. Am Vortag hatte er Geld abgehoben und festgestellt, dass die von Ray versprochene Summe auf seinem Konto eingegangen war. Samson fühlte sich beschämt, als hätte er sich kaufen lassen. Es steigerte auch seine Paranoia, in allen Bewegungen verfolgt zu werden. Aber plötzlich wurde ihm klar, der Anrufer konnte nicht Ray sein. Der Doktor hatte kein Interesse mehr an ihm. Ray wollte Gläubige, und Samson war desertiert.

Es konnte nur Donald sein. Er stürzte durchs Zimmer, stieß fast das Telefon vom Nachttisch.

«Hallo?»

«Reg dich ab.»

«Donald? Bist du’s? Was zum Teufel …»

«Eins sag ich dir, mach das nicht noch mal. Wie das klingt, was du da aufs Band sprichst, da denkt man ja, du wirst mit ’ner Waffe bedroht. Gegen deinen Willen, Sammy, und als kriegest du dabei die Fingernägel einzeln ausgerissen. Fast hätte mich der Schlag getroffen.»

«Warum rufst du erst jetzt zurück?»

«Glaubst du, ich höre meine Nachrichten jede Sekunde ab? Ich hab Sachen zu tun. Außerdem, warum hab ich eine Mailbox? Begrenzte Erreichbarkeit. Wenn ich vierundzwanzig Stunden am Tag erreichbar sein wollte, hätt ich mir ein Handy zugelegt. Würde mit dem Ding am Hals herumlaufen, mich zu Tode verstrahlen bei all den Leuten, die mich sprechen wollen. Wo bist du?»

«Im Four Palms Motel.»

«In was?»

«Im Four Palms.»

«Nie was von gehört.»

Samson sah sich im Zimmer um. Das Wenige, was er an Kleidungsstücken hatte, lag auf dem Boden verstreut. Die Laken waren unter der Matratze herausgerissen wie nach einem Kampf. Das Mädchen hatte sein Zimmer die ganze Woche nicht gemacht.

«Es ist nicht das Flamingo, aber ganz in Ordnung. Hör zu …»

«Völlig bekloppt. Ich musste das Telefon ’n halben Meter weg halten.» Donald hustete in den Hörer. «Was ist das im Hintergrund? Hast du Leute da?»

«Das ist das Wetter.»

«Was hörst du dir das Wetter an? Du weißt doch, dreihundertsechzig Tage Sonnenschein im Jahr, Sammy. Wie im Paradies. Es ist nicht umsonst die am schnellsten wachsende Stadt.»

«Das sagt man.»

«Wer sagt das? Die Leute wissen es nicht. Wenn sie es wüssten, wäre kein Quadratmeter mehr zu haben. Ich war früh dabei. Wir waren früh dabei. Glaub nicht, dein alter Paps hätte dich vergessen.» Beim Gedanken an Donalds ödes Stückchen Zionsland kamen Samson fast die Tränen.

«Donald, ich muss dich sehen. Wo bist du?»

«Ist ja wie ’n Ratespiel. Mit manchen Typen, die ich kenne, gäbe ich dir keine Minute. Neugier ist der Katze Fraß, Sammy. Ich bin in Barstow, wenn du’s unbedingt wissen willst.»

«Was machst du in Barstow?»

«Himmelarsch!»

«Tut mir Leid.» Samson ballte eine Faust und ließ die Muskeln spielen. Mit dem Telefon in der Hand lief er zwischen den Betten hin und her. «Tut mir Leid, es ist einfach ein bisschen viel im Augenblick. Da sind Sachen passiert. Ich bin aus Clearwater abgehauen. Du kannst dir nicht vorstellen, in was für einem Zustand ich war.»

«Du wirst damit klarkommen. Wer will schon länger als nötig in diesem Laden festsitzen. Sicher, es war nett, aber ein bisschen langweilig für meinen Geschmack. Der einzige Knüller war das Essen. Ich hab’s meiner Nichte erzählt, wir haben wie Könige gespeist. Wie Könige, hab ich ihr gesagt. Und das Klopapier, jeden Tag wie neu gefaltet.»

Schweigen.

«Ist der Katze Tod», sagte Samson leise, gleichsam angebunden zwischen den ungemachten Betten, nachdem er gegangen war, so weit die Telefonschnur reichte, wie ein Akrobat, der in schwindelerregender Höhe nur ein Seil um die Hüften geschlungen hat.

«Was? Ich weiß nicht, was du meinst, Sammy. Du redest Kauderwelsch.»

Samson explodierte. «Herrgott nochmal, Donald, ist dir klar, was die da machen? Hast du eigentlich die leiseste Ahnung?»

Es folgte ein Schweigen, und als Donald antwortete, hatte sich eine Kluft zwischen ihnen aufgetan. «Ich hab’s dir doch gesagt, ich stelle keine Fragen. Ich mache meinen Job. Sie sagen mir, ich soll nicht reden, also rede ich nicht. Verstehste?»

Der Fernseher flimmerte. Irgendwo im fernen Norden Kanadas würde Schnee fallen, still die Beaufortsee berieseln, weiße Flocken über der Arktis ohne eine Menschenseele, die sie sehen konnte. Was das für eine Art Wetterbericht sei, fragte sich Samson, und wie man eine solche Information nutzen solle, wenn nicht als Beweis dessen, dass die Welt zu schwer zu ertragen war? Er fühlte sich enttäuscht, kam sich albern vor, bei Donald angerufen zu haben, und fragte sich, was er ihm sagen sollte. Er hatte nicht mit Donalds Unverständnis gerechnet, mit seiner Unfähigkeit zu helfen – obwohl Samson schon gar nicht mehr wusste, wobei. Donald war ein Mann, in dessen Kopf er gewesen und der jetzt in seinem Kopf war. Er wusste, dass Donald, als die Detonation in sich zusammenfiel, flammende Liebe für ein Mädchen mit roten Haaren empfunden hatte.

Der Wettermann zeigte nach Norden, in Richtung Kanada.

«Wo ist Neufundland?», fragte Samson ruhig und deutlich. «Kann man ohne Landkarte wissen, wo Neufundland ist?»

Donalds Stimme wurde weicher. «Sammy, du bist ein guter Junge. Geh nach Hause zu deiner Frau. Wetten, dass sie dich vermisst? Wahrscheinlich sitzt sie jetzt gerade da und wartet. Es ist nicht zu spät für dich, Sammy. Tu mir den Gefallen, geh nach Hause.»

«Die Erinnerung, die du ihnen gegeben hast – ich kenne sie. All die Soldaten mit den nach hinten geblasenen Köpfen.» Seine Stimme versagte. «Blut in den Augen, auf den Boden der Wüste geschmettert …»

«Schau, ich wusste das nicht», unterbrach ihn Donald in gesenktem Ton. «Als sie es mir gesagt haben, war es zu spät. Hätte mich auch nicht interessiert, nur eben dass du es warst. Wie mein eigener Sohn, Sammy. Ein Mann tut eben, was er zu tun hat, aber wenn ich das geahnt hätte … Schau, ich kann nur sagen, irgendwas ist da zwischen uns. Was Vertrautes, verstehst du? Du trägst was in deinem Kopf herum, was mir als Grünschnabel passiert ist. Sie haben mir gesagt, ich soll nie darüber reden, und eines Tages sollte ich dann doch reden. Ich brauchte das Geld, also hab ich’s gemacht. Hätte ich es gewusst, wär das ’ne andere Sache gewesen. Aber ich wusste es nicht, das musste mir glauben. Wer hätte gedacht, dass so was möglich ist?»

Samson wurde schwindlig.

«Es war ’ne phantastische Sache, Sammy, das musste verstehen. Das wollt ich dir nur sagen. Hab mir vor Schiss in die Hose gemacht, aber es war phantastisch.»

Er hörte Donald noch etwas sagen, aber es war nicht mehr von Belang, weil ihm hier und jetzt der Gedanke kam, die Leere, mit der er die ganze Zeit gelebt hatte, sei vielleicht gar keine Leere gewesen, sondern unerkannte Einsamkeit. Wie soll ein Mensch seine Einsamkeit erkennen, solange sein Geist nicht auf den eines anderen trifft? Ein einziges Zeichen war gesetzt, die Erinnerung eines anderen in sein Gehirn verpflanzt worden, und jetzt konnte Samson die Größe seines eigenen Verlustes nicht mehr übergehen. Es war atemberaubend. Er sank auf die Knie.

«Sammy? Ich sagte, bist du noch da?»

Es war, als wäre ein Streichholz angezündet worden, das nur erhellte, wie dunkel es wirklich war.

Kommt ein Mann ins Zimmer
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