Sie würden zu ihm kommen, und er würde ihnen seine Hände auf den Kopf legen. Er würde ihre Schädel unter seinen Fingerspitzen fühlen, die Wölbung mit den Handflächen umschließen und die Kräfte rufen, sie zu heilen. So hatte Ray es sich vorgestellt, als er noch jung war, erzählte er Samson. Noch bevor er sich im anatomischen Labor die Nächte um die Ohren schlug, mit Kopfschmerzen vom Formaldehyd zusammengesunken auf einem Stuhl im kalten Untergeschoss des medizinischen Instituts. Es gab Studenten, die mit dem Sezieren eines Arms oder einer Hand nicht fertig geworden waren und den Stummel einfach abschnitten, um ihn in Zeitungspapier gewickelt mit ins Wohnheim zu nehmen. Lernende, die Körperteile durch die Nacht schleppten. Am nächsten Tag fanden die Müllmänner ein aufgeschlitztes Herz im Container und riefen die Polizei. Aber Ray hatte sich mit dem Nachtwächter angefreundet – er brachte ihm um Mitternacht ein Sandwich und Kaffee vorbei – und durfte im Labor arbeiten, bis die Schicht bei Tagesanbruch um war.

Als Ray zum ersten Mal einen Schädel geöffnet, entlang der Schädelnaht gesägt hatte, waren ihm die Knie weich geworden. Er hatte das Gehirn vom Rückenmark abgetrennt und es in den Händen gehalten. Die graue Masse war keineswegs grau, sondern bräunlich. Um fünf Uhr morgens war er zu seinem Auto gewankt und nach Hause gefahren. Die Frau, die er später heiraten sollte, schlief in seinem Bett, das Gesicht in die Kissen vergraben und die Füße über Kreuz, wie ein Kind. Er betrachtete sie im Schlaf und kämpfte darum, sie so zu sehen, wie sie war, aber stattdessen sah er ihre Muskeln und Knochen. Durch die Haut hindurch sah er die Bänder zwischen ihrem Oberschenkelknochen und dem Schienbein, das faserige Nervennetz und die fein verästelten Lungen, sah das reine Herz Blut durch ihre Arterien pumpen. Es erschreckte ihn, wie leicht diese Systeme versagen konnten. Er setzte sich auf die Bettkante und legte ihr die Hand auf den Kopf, über die Wölbung des glänzenden schwarzen Haars. Sie drehte sich um und sah ihn an, und einen Augenblick schien sie sein Gesicht nicht zu erkennen.

Nach dem Abendessen gingen Ray und Samson ein Stück spazieren; ein paar gemächliche Schritte nach dem Essen gehörten zu Rays Gesundheitsregeln. Nicht weit, nur den Weg bis zur Toreinfahrt und wieder zurück, während die Berge im schwindenden Licht dunkle Flecken bekamen und die ersten Fledermäuse ausschwärmten. Manchmal, wenn er Ray zuhörte, glaubte Samson zu verstehen, wie Menschen einem Kult verfielen, beschlossen, alles aufzugeben, um einem charismatischen Führer zu folgen, in Kleinbussen schliefen, an Straßenecken Schriften verkauften, mit Glöckchen tanzten. Singend und mit Bildern in den Taschen, die ihren Guru zeigten: einen Mann mit schütterem Haar und getönter Brille, den Arm ewig über ihren Köpfen schwebend zur Absolution erhoben, einen Mann, der sich über ein dicht vor die Lippen gehaltenes Mikrophon an die Massen wandte, den Widerhall nutzend, um den dramatischen Effekt zu steigern. Wie sie für diesen Mann arbeiten gingen, das Geld abgaben, wenn sie etwas Kunstgewerbliches verkauft hatten, komplizierte, in mühsamer Feinarbeit selbst gemachte Sachen aus Bast. In manchen Augenblicken, wenn Ray in Hochstimmung war und wie erleuchtet schien, konnte Samson fast verstehen, dass Leute mit Familien, Doppelgaragen und guten Jobs ihren ganzen Besitz dem Guru übereigneten und ihm in einen Tropenwald folgten, um eine Stadt mit einem nichts sagenden, ominösen Namen zu gründen. Er hatte darüber gelesen; solche Dinge passierten wirklich.

Eine Woche war vergangen, seit Samson und Donald sich in der Wüste verirrt hatten und von Ray gerettet worden waren. Ray hatte sich auf die Suche gemacht, die Straße abgefahren, bis er Samsons schmale Gestalt auf den Asphalt treten sah. Während der Rückfahrt zum Labor war Donald still gewesen, eine Plastikflasche Wasser auf dem Schoß, aus der er alle paar Minuten gierig trank, schauernd, als wäre es Whiskey. Mit Dreckstreifen im Gesicht, wirkte er gedämpft und geläutert wie jemand, der gerade dem Tod ins Auge gesehen hat. Er blieb noch einige Tage in Clearwater, um zu Ende zu bringen, was immer sie im Labor von ihm wollten, verstört und bei jedem Husten sichtlich von Schmerzen geplagt. Als er Ende April an einem klaren, blauen Freitag schließlich abreiste, versicherte er, Samson könne sich darauf verlassen, dass alles in Ordnung sei, solange er nicht von irgendwelchen Rechtsanwälten höre. Sollte er plötzlich ins Gras beißen, würde Samson es sofort erfahren, weil er dann kommen und seinen Anspruch auf das Grundstück geltend machen müsste. Samson sagte ihm, er rede Unsinn, aber Donald packte ihn einfach und drückte ihn an seine Brust, so kräftig, wie es sein geschwächter Zustand kaum vermuten ließ.

«Guter Junge. Tu mir ’n Gefallen, Sammy, mir geht was durch den Kopf. Sorg dafür, dass meine Schwester mich nicht auf einem dieser Steinäcker mit lauter Greisen begraben lässt. Und wo ich schon beim Thema bin, Einäscherung, das wär’s. Ganz natürlich, die Asche in alle vier Winde verstreut. Glaubst du, du kannst das arrangieren?»

«Hör auf mit dem makabren Zeug», sagte Samson in Donalds Hawaiihemd.

«Du bist mein nächster Verwandter, Sammy. Wer sonst, wenn nicht du?»

Donald entließ ihn aus der ungestümen Umarmung, rollte den lustigen kleinen Koffer über den Weg und stopfte ihn ins Taxi, dann salutierte er zu Samson hin und verbeugte sich in alle Himmelsrichtungen. Samson stand auf den Stufen vor dem Badehaus, Donalds verknickte Geschäftskarte mit einer Adresse in Phoenix und der Nummer einer Mailbox in der Hand, und fühlte sich elend, während er das Taxi über die staubige Zufahrt holpern und auf die Teerdecke abbiegen sah.

 

Mit nichts oder fast nichts neu anfangen, und doch, ein Anfang musste sein. Zum ersten Mal, seit er im Krankenhaus erwacht war, verspürte Samson den Wunsch, zu beenden, was er begonnen hatte. Nicht, dass Ray ihn eingelullt oder ihm sein Einverständnis abgenötigt hatte; es gab Gründe, warum er sich freiwillig für den letzten Teil des Versuchs zur Verfügung stellen wollte. Einmal schmeichelte ihm Rays Anfrage und gab ihm ein wenig das Gefühl, etwas Besonderes zu sein: ein kleiner Teil der Geschichte, auf unbekannten Wegen, die nie ein Mensch gegangen war. Und er wusste mit dem gleichen traurigen Bedauern, das ein Kind bei seinem ersten Vergessen empfinden mochte, dass neue Erinnerungen – Erinnerungen an alles, was seit seinem Erwachen im Krankenhaus geschehen war – schon begonnen hatten, auf die Leere in seinem Gehirn überzugreifen: er war im Begriff, sie zu verlieren, jeden Tag ein bisschen mehr. Doch zu guter Letzt willigte er hauptsächlich deshalb ein, weil er bereits beschlossen hatte, keinen Rückzieher zu machen: ihre Gespräche zu Ende zu bringen.

Sie waren noch Jahre von der Möglichkeit entfernt, ein ganzes Gedächtnis von einem Gehirn in ein anderes zu verpflanzen, aber Ray erklärte, sie seien zu diesem frühen Zeitpunkt immerhin in der Lage, etwas Einfaches zu übertragen. Vielleicht würden es nur statische Fragmente sein oder der Schwindel erregende Eindruck, sich an ein Gedächtnis zu erinnern, das jemand anderem gehört habe. Als Ray ihn schließlich unumwunden fragte, ob er sich als Freiwilliger für die erste, wenn auch dürftige und unvollständige Übertragung zur Verfügung stellen wolle, wussten sie beide, dass die Frage bereits überflüssig war.

Werden Sie es tun?, fragte Ray, und die ganze Wüste wartete darauf, die unvermeidliche Antwort zu empfangen. Ja, antwortete Samson, ja.

Irgendwann war der Punkt erreicht, wo es nur noch das offensichtliche Ende seiner Zeit in der Wüste war. Der Abschluss eines Jahres, auf das er vielleicht als ein Scharnier, einen Angelpunkt zwischen zwei Leben zurückblicken würde. Oder nicht: Vielleicht würde er irgendwann einmal, wenn genug Zeit vergangen war, sein ganzes Leben als eine Serie logischer und zusammenhängender Ereignisse betrachten.

 

An diesem Maimorgen wachte er früh von dem aufs Dach trommelnden Regen auf, und innerhalb von Minuten kam es sturzartig herunter. Samson stolperte aus dem Bett und öffnete die Tür. Das Licht wirkte metallen, Blitze durchzuckten den Himmel, erleuchteten die Wüste. Der Donner prallte an den Bergen ab und kam rollend als Echo zurück. Da der Boden die Regenmenge nicht so schnell aufnehmen konnte, bildeten sich Rinnen, die das Wasser rasch in Speicher tief unter der Oberfläche abführten. Samson dachte an die Jugendlichen, die zweihundert Kilometer weiter nördlich in unterirdischen Becken getaucht hatten und nicht wieder aufgetaucht waren, an die Verzweiflungstränen der Freundin des einen, als die Retter tiefer und tiefer tauchten, aber den Grund nicht fanden. Dann hörte der Regen ebenso plötzlich auf, wie er begonnen hatte. Die Sonne kam heraus, und der Himmel spiegelte sich wie Quecksilber in den Pfützen, für einen Moment lang stand die schockierte Wüste still.

Eine Stunde später lag Samson voll verdrahtet in der Dunkelheit. Die Drogen, die sie ihm gegeben hatten, sickerten ihm langsam ins Blut, obwohl er nicht sagen konnte, ob seine Gedanken dadurch angeregt oder verschwommener wurden. Ab und zu kam Rays Stimme über den Kopfhörer und sagte ihm, sie seien fast fertig, fragte, wie er sich fühle, plauderte über das Wetter draußen. Die Stimme klang von Mal zu Mal ein wenig ferner, als müsste sie eine immer größere Distanz überwinden, um ihn zu erreichen, und die Worte verloren ihre Bedeutung, bevor Samson sie gar nicht mehr hörte. Es fühlte sich an, als löste sich sein Geist von ihm, als ließe er ihn fahren, und etwas in ihm wehrte sich dagegen, ein kleiner Teil, der laut gegen solche Verlassenheit protestieren wollte. Aber der Rest von ihm fühlte sich warm und schläfrig, gab zufrieden nach, als sein Geist zurückwich. Es war wie ein Traum mit offenen Augen: die Wüste, eine Straße, ein durch den weiten Raum fahrendes Auto.

Und dann, aus dem Bildergewirr: Annas Gesicht. Blass und leuchtend, mit der kleinen Narbe über der Lippe, die sich, wenn sie sprach, auf der rechten Seite etwas höher hob und den ganzen Winter spröde gewesen war. Ein Gesicht, das er unter so vielen anderen ausgewählt hatte, es jahrelang anzuschauen, anzustarren. Es in jeder Lebenslage zu beobachten, bei der Arbeit oder im Schlaf, krank oder gesund, obgleich solche Wachsamkeit nichts hergab außer Fürsorge und Verwunderung. Ungeheure Freude durchströmte ihn. Wenn er gekonnt hätte, wenn er noch in der Lage gewesen wäre, seine Glieder zu finden und zu bewegen, wäre er auf die Knie gefallen. Es war ein Moment erstaunlicher Klarheit, und dann verfiel sein Geist in eine Verwirrung, die kein Ende nahm, bis die Explosion alles wegsprengte.

Kommt ein Mann ins Zimmer
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