Sechs

Was für ein schöner Abend. Im weichen Licht der orangefarbenen Sonne erholten sich die Pflanzen von der Mittagshitze, braune Pferde mit blonden Mähnen standen träge auf den Weiden und glotzten den wenigen Autos hinterher, und am Horizont thronten die grünen Kegel der Baumberge über der flachen Parklandschaft. Professor Weigold hatte den Weg über Roxel genommen. Er summte den Popsong im Autoradio mit und fühlte sich zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder unbeschwert. Vielleicht sogar glücklich, das kam auf die Definition von Glück an. Falls man unter Glück eine Augenblicksaufnahme verstand, eine flüchtige Mischung aus unbändiger Lebenslust und Selbstzufriedenheit, hätte er unterschreiben können, glücklich zu sein.

Und das alles nur, weil etwas fehlte. Vordergründig die beiden jungen Männer, die sich seit gestern nicht mehr hatten blickenlassen. Viel mehr ins Gewicht fiel allerdings, dass seine Angst verschwunden war, diese Schraubzwinge, die ihm den Lebensmut aus dem Leib gepresst hatte. Es war vorbei. Ulrich Vogtländer hatte recht gehabt, die Typen wollten lediglich ein perverses Spiel mit ihm treiben, es gab keine Verbindungen zu Mergentheim und der Vergangenheit, alles Zufall.

Dass der Spuk aufhörte, dafür hatte Weigold selbst gesorgt. Er war mit Max zur Polizeistation nach Nottuln gefahren, hatte den Beamten von den zwei verdächtigen Männern erzählt und Anzeige gegen unbekannt erstattet. Auch wenn er sich wenig Hoffnung machte, dass man die Burschen festnehmen würde – allein die Tatsache, dass er sich wehrte, brachte die Wende. Die Polizeibeamten in Nottuln hatten ihm versprochen, sein Haus im Auge zu behalten. Und genau das war geschehen, gleich zwei Mal hatte Weigold am späten Abend einen Polizeiwagen in langsamer Fahrt auf der Landstraße gesehen. Falls seine Verfolger nicht von allein begriffen, dass er eine rote Linie gezogen hatte, dann machte ihnen das spätestens die Anwesenheit der Polizei klar: Bis hierhin und nicht weiter.

Karin, seiner Frau, erzählte er natürlich nichts davon. Warum die Pferde scheu machen? Ihre geliebten Baumberge, in denen sich in ihrer Vorstellung Fuchs und Hase gute Nacht sagten, hätten sich plötzlich unheilvoll hinter dem Gartenzaun aufgetürmt.

Weigold überlegte, ob er Karin anrufen und ihr vorschlagen sollte, essen zu gehen. In dem hübschen Landgasthaus mit der großen Gartenterrasse, wo man ihm neulich dieses vorzügliche Schnitzel serviert hatte. Ein Abendessen unter freiem Himmel wäre die Krönung des Tages. Andererseits mochte Karin keine spontanen Veränderungen ihres Tagesablaufs. Und garantiert standen schon die Töpfe auf dem Herd. Besser, er verschob den Vorschlag auf das Wochenende.

Weigold drosselte die Geschwindigkeit vor der Radarfalle am Stift Tilbeck. Gleich danach kam Schapdetten. Er sollte mal wieder mit dem Fahrrad zum Institut fahren, so wie er das im Sommer vor drei Jahren gemacht hatte. Mehr als ein paar überflüssige Pfunde konnte er dabei nicht verlieren, seiner Fitness würde es jedenfalls guttun, ein bisschen Sport zu treiben.

Als er am Friedhof vorbeifuhr, sah er sein Haus in der Sonne liegen. Westhang Baumberge. Vor elf Jahren, als er das Grundstück erworben hatte, war die Aussicht das schlagende Argument gewesen. Nur die Ballonfahrer in ihren Körben hatten einen schöneren Blick auf das Münsterland.

Am Zufahrtsweg wuchsen die Gräser schon bis zur Höhe des Wagendachs. Weigold stellte den SUV im Carport ab und ging um das Haus herum zur Vordertür. Bienen summten im kleinen Vorgarten und übertönten beinahe die Geräusche der weit entfernten Lkw auf der A 43. Der Professor sog den Duft der Blumen und Kräuter ein. Pflanzen waren etwas Wunderbares – in jeglicher Hinsicht. Die Natur fand für jedes Problem eine Lösung, und bis jetzt hatten die Menschen erst einen Bruchteil davon entschlüsselt. Irgendwann würde man alle Baupläne kennen und für jede individuelle Krankheit ein maßgeschneidertes Medikament entwerfen. Per Knopfdruck, oder besser gesagt: per Computerprogramm. Aber bis dahin, sagte sich Weigold, wäre er längst tot.

Er nahm die fünf Stufen zur Haustür und schloss auf. «Karin?»

Stille. Aber eine andere Stille als draußen. Karins Wagen stand im Carport, sie war also nicht weggefahren. Machte sie mit Max einen Spaziergang? Um diese Uhrzeit? Das passte nicht zu ihr.

Er rief noch einmal: «Karin!»

Jetzt hörte er ein Geräusch. Es kam aus der Küche. Als ob etwas überkochen würde. Weigold spürte, wie sich seine Herzfrequenz erhöhte. Ihm wurde ein wenig schummrig, und er musste sich kurz an der Wand festhalten. Dann öffnete er die Küchentür. Tatsächlich, aus einem Topf quoll weißlicher Schaum auf den Herd und verdampfte zischend. Wo war Karin? Er zog den Topf von der Platte und rief erneut, diesmal etwas verärgert: «Karin! Wo steckst du?»

Keine Antwort. Doch da war noch ein anderes Geräusch. Ein leises Winseln. Es kam von der Sitzecke. Weigold schaute sich suchend um. Unter der Sitzbank zuckte eine blutverschmierte weiße Pfote.

«Oh mein Gott! Max!»

Der braun gemusterte Kopf des Foxterriers lag in einer Blutlache. Max atmete schwer, nur in seinen Augen war noch ein Hauch Leben.

«Ist ja gut, Max. Ich bin da.»

Der Hund versuchte sich zu bewegen. Weigold strich mit der Hand über das drahtige Fell. Es war sinnlos, das Tier zum Arzt zu bringen, sein Tod war nur noch eine Frage der Zeit. Doch Karin würde sicher darauf bestehen.

Karin! Weigold richtete sich auf, die Küche verschwamm vor seinen Augen. Der Kreislauf machte schlapp. Er musste sich mit beiden Händen auf der Tischplatte abstützen. Ruhig atmen!

Denk nach!, sagte er sich. Wo könnte Karin sein?

Zuerst das Haus durchsuchen. Ja, das sah nach einem Plan aus. Er schaute ins Wohnzimmer und in die Gästetoilette, den Keller sparte er sich für später auf. Dann stieg er die Treppe hinauf, sie hatten zwei Schlafzimmer, weil Karin meistens früh ins Bett ging, während er noch arbeitete oder vor dem Fernseher saß.

Aber nichts. Karins Bett war unberührt. Weigold schluckte hart. Er war so überzeugt gewesen, sie spätestens hier zu finden, dass er sämtliche Alternativen verdrängt hatte. Jetzt explodierten sie in seinem Gehirn: Karin entführt. Karin schwer verletzt. Karin … tot.

Er rannte hinüber zu seinem eigenen Schlafzimmer. Die letzte Chance. Karin legte sich nie in sein Bett. Bis auf den wöchentlichen Beischlaf blieben sie jeder lieber für sich. Aber vielleicht –

Da lag sie. Schlafend. Oder?

Ja, sie atmete. Er griff nach ihrem Handgelenk und fühlte einen schwachen Puls. Er musste den Notarzt rufen. Wo war sein Handy? Unten, in der Aktentasche, die er im Hausflur abgestellt hatte. Neben dem Festnetzanschluss.

Weigold hastete die Treppe hinunter und riss das schnurlose Telefon aus der Station. Kein Ton. Was war mit dem Telefon los? Und wer hatte die Kellertür geöffnet? Als er das Haus betreten hatte, war sie doch verschlossen gewesen.

Der Professor drehte sich um. Und dann wusste er, was ihm bevorstand.