Dreizehn
Unterschicht, dachte Helene Lambert. Sie stand auf dem Balkon der Royal-Suite der MS Albertina und schaute hinunter auf die Gangway, über die ihre Mitreisenden auf das Kreuzfahrtschiff zurückkehrten. Leute ohne Stil und Chic, mit unmöglichen Frisuren und billigen Mänteln. Übergewichtige, die sich nur noch watschelnd fortbewegen konnten und am Abend wieder über alles herfallen würden, was das Buffet hergab. Unterschicht eben, die sich zu zweit oder zu dritt in die winzigen Kabinen der unteren Decks quetschte. Zum Glück waren kaum Kinder an Bord, und die wenigen, die Helene gesehen hatte, waren bereits dem Krabbelalter entwachsen. So blieb ihr zumindest das Gekreische von mit Rasseln und Brei um sich werfenden Kleinkindern erspart.
Dabei hatte Helene bewusst ein kleines, hochklassiges Kreuzfahrtschiff und eine Nordroute bis an den Rand des arktischen Eises gebucht. Lediglich fünfhundert Passagiere fanden auf der MS Albertina Platz, kein Vergleich zu den schwimmenden Monstern, die mit dreitausend oder noch mehr Vergnügungssüchtigen auf dem Mittelmeer oder in der Karibik kreuzten. Und natürlich hatte sich Helene für die teuerste und größte Kabine entschieden, die Royal-Suite mit ihren auf zwei Räumen verteilten rund siebzig Quadratmetern, ein absoluter Luxus, dessen Gegenwert für die zweiwöchige Reise einem Mittelklassewagen entsprach. War es da zu viel verlangt, auch außerhalb der Kabine etwas mehr Exklusivität zu erwarten? Stattdessen musste sie im Restaurant zusammen mit dem gemeinen Volk dinieren. Warum verfügte die MS Albertina nicht über ein eigenes Restaurant für die Gäste der Gold- und Silberkategorie, also diejenigen, die sich die Suiten auf den beiden oberen Decks teilten? Oder wenigstens einen abgetrennten Bereich, in den nur hineinkam, wer Abendgarderobe trug? Tagsüber nahm Helene bei den Mahlzeiten den Kabinenservice in Anspruch, aber am Abend wollte sie sich an Bord zeigen. Wozu sonst hatte sie fünf Koffer mitgenommen? Und neben ihr gab es immerhin eine ermutigende Schar von Menschen, Frauen wie Männer, die Abendkleider, Anzüge und Krawatten anlegten, bevor sie sich an den Tisch setzten. Menschen, deren Aussehen sich wohltuend von dem an Bord üblichen Gammel-Look abhob. Wo man auch hinblickte, überall sah man verwaschene Jeans, schlabbrige Fleece-Jacken und beigefarbene Blousons.
Der junge Typ da unten machte keine Ausnahme. Zu Beginn der Reise war er Helene gar nicht aufgefallen. Dabei sah er mit seinen kurzen blonden Haaren gar nicht mal so übel aus. Wenn sie Zeit und Lust gehabt hätte, ihn unter ihre Fittiche zu nehmen, dann hätte sie aus ihm einen schnuckeligen Burschen machen können, etwas fürs Bett, mit dem sich ein paar nette Stunden verbringen ließen.
Helene verwarf den Gedanken sofort wieder. Zu kompliziert. Nicht dass sie mit ihren einundfünfzig Jahren keine Chancen bei jungen Männern gehabt hätte. Sie sah für ihr Alter recht gut aus, die Haut straff, der Bauch glatt. Sie ernährte sich gesund und in Maßen, den Rest erledigte der Stepper, auf dem sie sich fit hielt. Und sie wusste genau, auf welche Knöpfe sie bei den Männern drücken musste, jung wie alt, da waren sie doch alle gleich. Mit Charme und Klasse kriegte sie jeden rum. Bei den jüngeren Männern kam noch hinzu, dass sie die Erfahrung einer reifen Frau schätzten. Ältere Frauen wie sie verzichteten auf Gezicke und Hingehalte, die Frage nach einer langfristigen Beziehung stand gar nicht erst im Raum, da ging es um Sex pur, wild und hemmungslos. Anschließend ging jeder seiner Wege.
Wäre Helene allein auf der MS Albertina gewesen, hätte sie eine Affäre in Betracht gezogen. Sie überlegte, ob ihr Favorit mit der blonden Frau an seiner Seite liiert war oder ob die Blonde mit dem zweiten Mann des Trios ins Bett ging. Vielleicht waren die drei auch bloß Freunde oder Geschäftspartner. So voneinander distanziert, wie sie über den Kai zur Gangway schlenderten, sahen sie nicht aus wie ein Liebespaar mit Begleitung.
Aber davon abgesehen, ob der Kurzhaarige für ein Liebesabenteuer zu gewinnen war oder nicht – Helene Lambert reiste nun mal nicht allein, sie war in Begleitung ihres Sohnes Frederik und ihres persönlichen Assistenten Rafael van Meulen. Der Geschäftsbetrieb ihrer Firma in Lengerich machte keine Pause, und obwohl sie fähige Leute in der Leitung installiert hatte, wollte sie ständig informiert sein und wichtige Entscheidungen selbst treffen. Dafür brauchte sie Personal an Bord. Doch mehr als mögliches Gerede in der Firma fürchtete Helene die Missbilligung ihres Sohnes, falls sie sich mit einem Mann einließ, der kaum älter war als Frederik selbst. Frederik trauerte nun mal dem Mann nach, den er für seinen Vater hielt, darauf musste sie, wohl oder übel, Rücksicht nehmen.
Helene Lambert hob den Blick und schaute vom alten Hafen zur Innenstadt hinüber. Der Dom, eine Holzkirche aus dem neunzehnten Jahrhundert, überragte die Geschäftshäuser, stadtauswärts überspannte eine buckelförmige Brücke den Tromsø-Sund. Der dahinterliegende Hügel, auf dem die moderne, ganz in Weiß gehaltene Eismeer-Kathedrale stand, war von einer Wolke verdeckt.
Wo immer es sich vermeiden ließ, verzichtete Helene auf die vom Reiseunternehmen angebotenen Ausflüge. Sie verabscheute es, im Gänsemarsch an Sehenswürdigkeiten vorbeizupilgern, Smalltalk über das Wetter und die Landschaft zu halten oder sich im Bus von einheimischen Reiseführern heruntergeleierte Anekdoten über Land und Leute anzuhören. Und da Tromsø zwar die norwegische Nordmeermetropole, nach mitteleuropäischen Maßstäben aber nur eine kleine, mit dem Fahrrad einfach zu erkundende Stadt war, hatten sich Helene und Frederik zwei schiffseigene Räder geliehen und waren einige Stunden herumgefahren. Auf dem Markt in der Innenstadt kauften sie ein paar Mitbringsel, anschließend überquerten sie die lange Brücke, um sich die Eismeer-Kathedrale anzuschauen. Dort blieben sie allerdings nicht lange. Als eine Busladung ihrer Mitreisenden auftauchte, ergriffen sie spontan die Flucht.
Rafael, ihr Assistent, war unterdessen an Bord geblieben. Aus der Heimat kamen beunruhigende Nachrichten, da wollte Helene auf dem Laufenden bleiben. Erst vor ein paar Tagen hatte sich Mergentheim erhängt, und jetzt war auch noch Christian Weigold in seinem Haus verbrannt. Auf einen Schlag hatte Helene ihre beiden Mitgesellschafter verloren.
Mit Mergentheim, dem eitlen Selbstdarsteller, hatte sie sich oft gestritten. Trotzdem verdankte sie ihm den Aufstieg des Unternehmens. Andere Banken hatten damals abgewinkt, als sie ihnen die Geschäftsidee vorstellte. Kapital für etwas zur Verfügung zu stellen, das noch nicht aus dem Stadium der Forschungsarbeit herausgekommen war, erschien den phantasielosen Zahlenfetischisten zu riskant. Nur Carl Benedikt Mergentheim erkannte das Potenzial, das in ihrer Entdeckung steckte. Er hatte den Kreditausschuss der Münsterländischen Privatbank überzeugt, der Firma Lambert-Pharma eine großzügige Kreditlinie einzuräumen. Allerdings mit einer kleinen Geheimklausel, die nicht im offiziellen Vertrag auftauchte: Sollte sich Lambert-Pharma so entwickeln, wie Helenes Business-Pläne es vorsahen, würde Mergentheim ein Drittel der Unternehmensanteile zu einem festgelegten, sehr moderaten Preis erhalten. Persönlich.
Und so war es gekommen. Lambert-Pharma hatte sich mit seinem Nischenprodukt glänzend auf dem Markt behauptet, die Gewinne waren raketengleich nach oben geschossen. Konsequenterweise hatte Mergentheim seinen Anteil eingefordert. Dabei betrübte Helene nicht so sehr der Schnäppchenpreis, mit dem sich der Banker einkaufte, sondern seine anschließenden Versuche, sich in ihre Geschäftsführung einzumischen. Was Helene nämlich überhaupt nicht ausstehen konnte, war ein Mann, der glaubte, etwas besser zu wissen als sie selbst. Insofern hielt sich ihre Trauer über Mergentheims Tod in Grenzen.
Nur war leider für die Zukunft keine Besserung zu erwarten. Wie es aussah, würde die Führung der Münsterländischen Privatbank vom Vater auf den Sohn übergehen, sehr wahrscheinlich übernahm Veit Constantin Mergentheim ebenso die Verwaltung des Privatvermögens der Familie und damit die Anteile an Lambert-Pharma. Die wenigen Male, bei denen Helene diesem anzugtragenden Affen begegnet war, hatten in ihr die Gewissheit wachsen lassen, dass der junge Mergentheim noch nerviger sein konnte als sein Vater.
Anders verhielt es sich im Fall Christian Weigold. Er war mit seiner Frau im Haus verbrannt, und die einzige Tochter lebte – soweit Helene wusste – in den USA. Vermutlich würde es nicht allzu schwierig sein, der Alleinerbin ihre Firmenanteile abzukaufen, dann hätte Helene die Kontrolle über zwei Drittel von Lambert-Pharma und könnte die Ratschläge von Mergentheim junior von sich abperlen lassen. So gesehen steckte auch in dieser doppelten Tragödie eine positive Seite.
Jemand klopfte an die Kabinentür. Helene drehte sich widerwillig um. Für die Kanapees, die das Zimmermädchen immer vor dem Abendessen brachte, war es noch zu früh. Und mit Frederik hatte sie sich um einundzwanzig Uhr im unteren Restaurant auf dem dritten Deck verabredet. An ihrem Fensterplatz, den der Restaurantchef für sie frei hielt. Um diese Uhrzeit hatte das gemeine Volk den Saal schon weitgehend verlassen und vergnügte sich im Theater oder an den Bars. Auf solche Weise verschaffte sich Helene doch noch einen Hauch von Exklusivität.
Die Firmenchefin ging durch den Wohnraum der Suite und bemühte sich, die floralen Muster der Polstermöbel zu ignorieren. Wie eine Kreuzfahrtgesellschaft von internationalem Ruf ihre Luxuskabinen derart kitschig ausstatten konnte, war ihr jeden Tag erneut ein Rätsel. Es klopfte zum zweiten Mal.
«Wer ist da?», fragte Helene gereizt.
«Rafael.»
Sie öffnete die Tür. «Komm rein.»
Mit Rafael hatte sie nach ihrer Fahrradtour alle aktuellen geschäftlichen Dinge besprochen und ihm für den Rest des Tages frei gegeben. Allerdings galt das nur eingeschränkt, denn es konnte sein, dass sie am späteren Abend noch Lust auf ihn bekam. An Rafael schätzte Helene nämlich nicht nur seinen Uni-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften und den wachen Verstand, sondern auch seinen schlanken Körper, den bleichen Teint und die kohlrabenschwarzen, glänzenden Haare. Dafür, dass er ihr gelegentlich mit vollem Einsatz zur Verfügung stand, erhielt Rafael Boni, die denen der Vorstandsmitglieder in nichts nachstanden. Und Spaß bei ihren gemeinsamen Stunden hatte er obendrein, da war sich Helene sicher. Männer konnten in dieser Hinsicht nicht so gut lügen wie Frauen.
«Was gibt es?»
Rafael sah noch bleicher aus als sonst. Als hätte ihn etwas aufgewühlt. «Die Polizei in Münster hat angerufen.»
«Hier?»
«Zuerst in Lengerich. Dort hat man ihnen meine Nummer gegeben.»
«Und?»
«Sie sagen, Mergentheim ist ermordet worden.»
«Tatsächlich?»
«Nachträgliche Untersuchungen hätten das ergeben. Irgendwelche Substanzen in seinem Blut.»
«Interessant», sagte Helene.
«Du nimmst das ziemlich leicht», stellte Rafael fest. «Zusammen mit Christian Weigold und seiner Frau sind das schon drei Mordopfer in deinem Umfeld.»
Helene bemerkte das leichte Zittern in Rafaels Stimme. Zu ihrer eigenen Überraschung erregte sie seine Verunsicherung. Oder lag das daran, dass sie sich vorhin vorgestellt hatte, mit dem jungen Burschen im Bett zu liegen?
«Zweifellos ist das erschütternd», sagte Helene. «Aber so nah standen mir die drei nun auch wieder nicht. Oder sagen wir: nicht mehr.»
«Die Polizei sieht das anders.»
Nun wurde Helene hellhörig: «Was heißt das?»
«Der Polizist, ein gewisser Hauptkommissar Fahlen, hält es für möglich, dass eine Verbindung zwischen den Morden besteht.»
«Und die Verbindung soll Lambert-Pharma sein?» Helene dachte einen Moment nach und lachte dann laut auf. «Glaubt dieser Sesselfurzer vielleicht, ich habe Mergentheim und Weigold umbringen lassen, um meine Mitgesellschafter loszuwerden? Das ist doch absoluter Schwachsinn.»
«Ich würde die Geschichte nicht auf die leichte Schulter nehmen. Falls die Mörder es auf Lambert-Pharma abgesehen haben, könntest du ebenfalls auf ihrer Liste stehen.»
Jetzt verstand Helene, was Rafaels treuherziger Blick bedeutete. «Du machst dir Sorgen.» Sie legte ihre Hand an seine Wange. «Das ist süß.»
«An deiner Stelle wäre ich vorsichtiger.»
«Ach was. Ich denke, die Polizei reimt sich diesen Mist zusammen, weil sie ansonsten nichts vorweisen kann. In Wirklichkeit ist das purer Zufall.»
«Der Kommissar möchte unbedingt mit dir sprechen.»
«Ich rufe ihn morgen an. Das sollte genügen.» Helene schaute Rafael in die Augen. «Eigentlich wollte ich gerade duschen. Aber das könnte ich noch ein bisschen verschieben.»
«Ich weiß nicht, Helene, ich bin im Moment nicht in Stimmung.»
«Zieh dich aus», flüsterte sie. «Die Stimmung kommt mit dem Vorspiel.»