Vierundzwanzig

Wütend knallte Helene ihr Notebook zu. Dieser gottverdammte sentimentale Scheißkerl!

Über zwanzig Jahre hatte Ujo die Klappe gehalten, und ausgerechnet jetzt, kurz vor seinem Abgang, musste er seinem inneren Gutmenschen Zucker geben. Das hatte ihr, bei allem Ärger, mit dem sie sich ohnehin schon herumschlug, gerade noch gefehlt. Ujos Beichte würde eine öffentliche Schlammschlacht sondergleichen auslösen, so viel war sicher. Man würde ihre wissenschaftliche Qualifikation in Frage stellen, ihr menschliches Versagen vorwerfen, sie vielleicht sogar vor Gericht zerren. Die Lizenz für Bochera und damit der ökonomische Erfolg von Lambert-Pharma standen ebenso auf dem Spiel wie ihr persönliches Schicksal. Eine Katastrophe. Vermutlich wandten sich sogar die Chinesen von ihr ab und schoben ihr die alleinige Schuld für die damaligen Ereignisse in die Schuhe.

Helene trat an die Balkontür und schaute aufs Meer hinaus. Glücklicherweise hatte sie noch diesen letzten Trumpf im Ärmel gehabt. Den ultimativen. Den Trumpf, den sie eigentlich nie hatte ausspielen wollen. Aber in diesem Fall hätte nichts anderes gestochen, das war ihr sofort klar gewesen. Die Taktik, mit der sie normalerweise bei Verhandlungen ihr Ziel erreichte, eine Mischung aus Einschmeichelung und Einschüchterung, fruchtete nicht bei einem Mann, der den Tod bereits vor Augen hatte. In den vielen Jahren, in denen sie die Firma leitete, hatte sie ein feines psychologisches Gespür für ihre Gesprächspartner entwickelt. Und so hatte sie instinktiv erkannt, dass bei Ujo nur noch eines half: ein Schuss ins Herz, ins Zentrum der Gefühle.

Das Bewusstsein, nicht allein auf der Welt zu sein, sondern einen Sohn zu haben, würde ihn eine Zeitlang verwirren. Und diese Zeit musste Helene nutzen, die Dinge in ihrem Sinn zu regeln.

Im optimalen Fall konnte sie Ujo dazu bringen, die Berichte und die Baba-Samen freiwillig zu vernichten. Notfalls galt es, dafür zu sorgen, dass das belastende Material bis zu Ujos Tod unter Verschluss blieb. Danach würden sich schon kreative Lösungen finden lassen.

Einen Haken gab es bei der Sache jedoch: Sie kam nicht darum herum, Frederik einzuweihen. Ohne seine Hilfe würde sie bei Ujo auf Granit beißen. Und dieser Teil ihres Plans lag Helene besonders im Magen. Denn Frederik hatte nicht die geringste Ahnung, dass Ulrich Joachim Vogtländer sein Vater war. Mit keiner Silbe hatte Helene diese Möglichkeit jemals auch nur angedeutet. Frederik würde toben, ihr schwere Vorwürfe machen, keine Frage. Aber zur Aussprache existierte keine Alternative. Und letztlich würde Frederik einsehen, dass es im Sinn der Familie, in seinem ureigensten materiellen Interesse war, sich mit Vogtländer zu arrangieren.

Jemand klopfte an die Kabinentür.

«Wer ist da?», rief Helene.

«Rike.»

Was wollte diese Schnepfe von ihr? Eine Aussprache unter Frauen? Für so einen Quatsch hatte Helene jetzt keine Zeit. Sie musste darüber nachdenken, wie sie bei Frederik am besten vorging.

Genervt stapfte Helene durch den Wohnzimmerteil ihrer Suite. Zu unfreundlich durfte sie mit dem Luder auch nicht umgehen, sonst rannte das Mädchen heulend zu Frederik.

Mit Schwung riss Helene die Tür auf. «Was gibt es denn?»

«Darf ich reinkommen?» Rike lächelte künstlich. Sie trug eine verwaschene Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover, über ihrer linken Schulter hing eine Art Strandbeutel im typischen Schlabberlook, den Helene so hasste.

«Im Moment passt es nicht so gut. Ich bin sehr beschäftigt.»

«Es ist aber wichtig.» Die Studentin gab nicht auf.

Herrgott noch mal, dachte Helene. Was konnte so verdammt wichtig sein? «Falls Sie mit mir über unsere gestrige Begegnung reden wollen …»

«Nein, das ist es nicht.»

«Was dann?»

«Das Thema ist Schuld und Vergeltung. Wie damals, vor vielen Jahren, im Land der Mosuo.»

Helene spürte, wie ihre Gesichtszüge entglitten. Sie musste sich verhört haben. Es konnte einfach nicht sein, dass dieses unscheinbare, blasse Etwas über ihre, Helenes, Vergangenheit Bescheid wusste. «Wie?»

«Sie haben mich schon verstanden.» Rike trat näher und schob einen Fuß über die Türschwelle.

Vor der Entschlossenheit der jungen Frau wich Helene zurück. Ein entscheidender Fehler, wie sie sofort bemerkte, denn die Besucherin nutzte die Gelegenheit, um die Kabine zu betreten und die Tür hinter sich zu schließen.

«Verlassen Sie meine Suite!» Helene versuchte, ihre Autorität zurückzugewinnen. Sie brauchte Zeit. Und eine verdammte Strategie, wie sie die Situation in den Griff kriegen sollte.

Rike steckte ihre rechte Hand in die Umhängetasche. «Setzen Sie sich auf den Sessel.»

«Sie befinden sich in meiner Kabine», fauchte Helene. «Also benehmen Sie sich gefälligst auch so.»

Die rechte Hand der Studentin kam wieder zum Vorschein. Und mit ihr eine Pistole, deren Lauf auf Helene zielte.

«Ich sagte: Setzen Sie sich auf den Sessel.»

Obwohl das niemand verlangt hatte, hob Helene die Hände. Endlich begriff sie. Warum hatte sie bloß die Warnungen dieses Kommissars aus Münster in den Wind geschlagen? Sie hätte es doch ahnen können: Rike war gar nicht an Frederik interessiert. Sie hatte ihn nur angebaggert, um an Helene heranzukommen. Das blond gefärbte Luder und die beiden maulfaulen Typen, die sie begleiteten, hatten wahrscheinlich auch Carl Benedikt Mergentheim und die Weigolds auf dem Gewissen. Deshalb war das Trio erst in Tromsø an Bord der Albertina gekommen, es hatte ja noch ein paar Morde zu erledigen.

«Setzen Sie sich.» Rike fuchtelte mit der Waffe. «Oder ich schieße Ihnen eine Kugel in Ihr hübsches Knie.»

Helene machte ein paar unbeholfene Schritte rückwärts und plumpste auf den Polstersessel. Die Gedankenspirale in ihrem Kopf drehte sich weiter. Was Rike vorhatte, war nicht schwer zu erraten. Nach Mergentheim und Weigold war sie nun an der Reihe. Auf einen harmlosen Ausgang des Überfalls zu hoffen, wäre also naiv. Es gab nur eine Möglichkeit: Sie musste selbst eine Lösung finden.

Streng dich an, dachte Helene, benutz deine Intelligenz, auf die du immer so stolz bist.

Das Handy lag auf dem Tisch. Viel zu weit entfernt, um es unbemerkt in die Hand zu nehmen.

«Ich weiß, wer Sie sind und was Sie beabsichtigen.»

«Tatsächlich?»

«Sie wollen mich töten.» Helene staunte über die Gelassenheit, mit der sie den Satz aussprach. «So wie Sie Carl Benedikt Mergentheim, Karin und Christian Weigold getötet haben.»

Rike sagte nichts.

«Drei Menschenleben. War es das wert? Ich nehme an, Sie denken, dass die Welt dadurch gerechter geworden ist. Aber das ist sie nicht. Sie haben nur neue Schuld auf alte gehäuft und sich dabei selbst ins Unglück gestürzt.»

Rike stieß Luft durch die Nase aus. Ein Geräusch zwischen Entrüstung und Belustigung.

«Ja, wir haben Fehler gemacht», redete Helene weiter. «Ich will gar nichts beschönigen. Wir hätten diese Experimente nicht durchführen dürfen. Und wir hätten darauf dringen müssen, dass die Mosuo an den Gewinnen beteiligt werden. Heute sehe ich das anders als damals. Doch versetzen Sie sich einen Moment in unsere Lage. Wir waren junge Wissenschaftler, die unter extremen Bedingungen in einem kommunistischen Land gearbeitet haben. Man erwartete von uns Erfolge. Um jeden Preis. Und wir wollten selber Erfolge, um das Leben der Menschen zu verbessern. Das hat dazu geführt, dass wir Grenzen überschritten haben, die wir nicht hätten überschreiten dürfen.»

Helene lächelte traurig. Würde sie sich nicht so gut kennen – sie wäre von ihren eigenen Worten beeindruckt gewesen.

«Eine schöne Rede», sagte Rike mit beißendem Spott. «Leider erzählen Ihre Taten das Gegenteil. Sie reden wie diese Scheißpolitiker, die behaupten, sie würden etwas für die ärmsten Länder der Welt tun. Dabei geht es ihnen nur darum, Rohstoffe zu sichern und die Menschen auszubeuten. Woher stammt denn Ihr beschissener Reichtum? Womit bezahlen Sie diese Kackkabine hier? Mit Geld, das Ihnen nicht gehört. Das Sie gestohlen haben.»

«Einverstanden», sagte Helene. Ihr Mund war so trocken, dass ihr das Schlucken schwerfiel. Aber es schien, als sei sie auf dem richtigen Weg. Rike hatte angefangen zu reden. Und wer redete, schoss nicht. «Was in der Vergangenheit falsch war, muss in der Zukunft nicht falsch bleiben. Ich wäre bereit, einen Beitrag zu leisten und einen Teil meines Vermögens für einen guten Zweck zur Verfügung zu stellen.»

«Sie wollen verhandeln?», fragte Rike.

Natürlich wollte Helene verhandeln. Um ihr Leben. Ohne mit der Wimper zu zucken, hätte sie dafür eine Unsumme geboten. Zumindest auf dem Papier. «Wir können einen Vertrag aufsetzen, der Lambert-Pharma dazu verpflichtet, zukünftig einen Großteil seiner Gewinne an Organisationen oder Projekte abzuführen, die in Ihrem Sinne arbeiten. Ich lasse Ihnen da freie Wahl. Zum Zeichen meines guten Willens könnte ich hier und jetzt die Überweisung einer größeren Summe veranlassen. Auf jedes Konto, das Sie mir nennen.»

«Das wird nicht nötig sein.»

Das Grinsen, das über Rikes Gesicht huschte, beunruhigte Helene. Was hatte sie falsch gemacht? War ihr Angebot zu durchsichtig gewesen? Unterschätzte sie die Intelligenz dieser Mörderin? Oder steckte hinter den Verbrechen noch ein anderer Plan?

«Jetzt denken Sie nach, stimmt’s?», höhnte Rike. «Jetzt fragen Sie sich, wer auf unserer Seite ist? Wer uns unterstützt? Wer dafür gesorgt hat, dass wir auf diesem Bonzenschiff einchecken konnten?»

Doch nicht etwa … Nein, das konnte nicht sein. Doch nicht Frederik! Die Liebelei war nicht echt. Sie durfte einfach nicht echt sein. Rike hatte sich Frederik an den Hals geworfen und ihn verführt, um sich Zutritt zu verschaffen, anders war das nicht denkbar. Nie und nimmer würde sich Frederik darauf einlassen, mit einer Mörderin gemeinsame Sache zu machen.

Rike lachte. «Na, sind Sie auf der richtigen Spur? Zweifeln Sie langsam an Ihrem Sohn?»

Plötzlich schwankte die Kabine. Mit beiden Händen klammerte sich Helene an den Sessellehnen fest und hatte doch das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

«Frederik wird Lambert-Pharma in den Dienst der Sache stellen», sagte die Blonde. «Die Gewinne der Firma werden wir dazu nutzen, über die Ausbeutung der Natur und der Naturvölker durch den Kapitalismus aufzuklären. Ein Zeichen, das niemand übersehen kann.»

Helene verstand nichts mehr. Das sollte ihr Sohn versprochen haben? Derselbe Frederik, der schon als Grundschüler darauf bestanden hatte, nur Markenkleidung zu tragen? Der sich am liebsten mit teurem Spielzeug umgab? Der ihr zu seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag einen italienischen Sportwagen abgeschwatzt hatte?

«Das hat er Ihnen gesagt?»

«Da staunen Sie, was?» Rike schnitt eine höhnische Grimasse. «Ich will Ihnen was verraten, Helene: Frederik ist zu uns gekommen, nicht wir zu ihm. Er hat in Ihrer Vergangenheit geschnüffelt und uns erzählt, wie sehr ihn das ankotzt, was Sie und diese anderen Arschlöcher getan haben. Und dass Sie und die anderen noch heute von diesen Verbrechen profitieren und kein Gericht der Welt Sie dafür verurteilen wird. Gemeinsam sind wir dann zu dem Schluss gekommen, dass wir etwas unternehmen müssen.»

«Das ist nicht wahr», krächzte Helene. «Das würde Frederik niemals wollen.»

«Wahrscheinlich kenne ich ihn besser als Sie.»

«Sie haben da etwas völlig missverstanden. Mag sein, dass Frederik sich häufig über mich ärgert. Mag sein, dass er mich heftig kritisiert. Aber ich bin immer noch seine Mutter. Wenn Sie mich umbringen, werden Sie ihn verlieren. Und ganz bestimmt werden Sie nicht die Kontrolle über Lambert-Pharma erlangen!»

«Netter Versuch», sagte Rike. «Aber leider wirkungslos.»

Helene sah ein, dass die Diskussion zwecklos war. Wer sich derart in seine fixen Ideen verrannt hatte wie dieses fanatische Weib, war durch Argumente nicht erreichbar. Helene musste sich etwas anderes einfallen lassen. Aber was?

Die Blonde horchte zur Tür. Sie schien jemanden zu erwarten. Frederik vielleicht?

Krampfhaft überlegte Helene, wie sie die Situation wenden könnte. Bei Vogtländer hatte es doch auch geklappt. Den hatte sie doch auch rumgekriegt. Und womit? Mit seiner Vaterschaft. Warum also nicht dasselbe noch einmal probieren?

«Eines weiß allerdings auch Frederik nicht …»

Rike wandte Helene wieder ihre volle Aufmerksamkeit zu. «Was kommt jetzt?»

«Frederik hat einen Vater.»

«Der ist tot, soviel ich weiß.»

«Nein, ist er nicht», sagte Helene. «Frederiks richtiger Vater heißt Ulrich Vogtländer. In meinem Testament habe ich Ulrich als Treuhänder eingesetzt, Frederik kann erst über sein Vermögen verfügen, sobald er sechsundzwanzig ist.»

Rike musterte ihr Gegenüber, als suche sie nach Anzeichen für eine Lüge. «Das haben Sie sich gerade ausgedacht.»

«Fragen Sie Vogtländer selbst. Er wohnt auf Spitzbergen.»

«Denken Sie, wir kennen ihn nicht? Wir wissen, dass Vogtländer zur Expedition gehörte. Bislang stand er nicht auf unserer Liste, weil er sich kein Geld in die Taschen gestopft hat.»

«Dabei war er die treibende Kraft hinter allem», improvisierte Helene. «Wir anderen haben nur gemacht, was Vogtländer für richtig hielt.»

Das war zwar eine bodenlose Gemeinheit, aber in ihrer lebensbedrohlichen Lage mussten solche Notlügen erlaubt sein.

Die Blonde dachte nach. «Wie auch immer. Um Vogtländer kümmern wir uns später. Zuerst sind Sie an der Reihe.»

Ein Klopfen an der Tür.

Mit einer schnellen Bewegung sprang Rike hinter den Sessel und drückte Helene den Pistolenlauf an den Kopf. «Ein falsches Wort und Ihr Gehirn klebt an der Wand.»

Erneutes Klopfen.

«Sag was», zischte die Blonde in Helenes Ohr.

«Wer ist da?»

«Rafael», kam es dumpf aus dem Gang vor der Kabine.

Helene rechnete damit, dass Rike sie zwingen würde, den Assistenten wegzuschicken. Während sie noch überlegte, wie sie in einem scheinbar unverfänglichen Satz eine versteckte Botschaft unterbringen sollte, bemerkte sie, dass die Blonde zur Kabinentür ging. Noch überraschender als ihre Gelassenheit war das siegessichere Lächeln, mit dem die Mörderin die Tür öffnete.

Einen Moment später sah Helene die nackte Angst in Rafaels Augen. Die beiden jungen Männer, mit denen Rike auf die MS Albertina gekommen war, schoben den kreidebleichen Assistenten in die Kabine.

Die ganze Zeit hatte Helene vermieden, daran zu denken. Jetzt sah sie den Abgrund direkt vor sich.