Vier
Bastian stand in dem brennenden Haus. Er sah die Frau und den Jungen. Für beide reichte seine Kraft nicht, er würde sich entscheiden müssen. Die Frau oder den Jungen. Er blickte sich um, der Qualm kratzte in seinem Hals. Es gab nur noch einen Weg, der aus dem Haus führte: einen tunnelartigen Gang, der an einem Fenster endete. Auf allen anderen Seiten loderten Flammen. Er musste sich bald entscheiden, sonst war es zu spät. Die Frau trug ein Kopftuch und ein blaues Kleid, der Junge Jeans und T-Shirt. Beide waren bewusstlos und lagen auf niedrigen Holzbänken. Die Frau oder den Jungen? Warum konnte er sich nicht entscheiden? Seine Füße waren wie festgenagelt, er spürte die Hitze im Gesicht. Mühsam hob er den rechten Fuß, machte einen Schritt auf den Jungen zu. Er hatte sich entschieden, endlich. Plötzlich kippte die Bank mit dem Jungen nach hinten und verschwand im Fußboden. Der Junge war weg. Bastian wandte sich um. Dann eben die Frau. Er keuchte vor Anstrengung. Auf einmal öffnete sie ihre Augen und schaute ihn vorwurfsvoll an. Er brachte es nicht fertig, sie hochzuheben, er schaffte es einfach nicht. Die Bank mit der Frau kippte ebenfalls und verschwand im Fußboden. Wie das Bühnenbild eines Theaters. Bastian spürte den Kloß im Hals. Er hatte versagt. Jetzt blieb ihm nur noch, sich selbst zu retten. Das Fenster am Ende des Gangs war fast vollständig von Flammen umschlossen. Er musste losrennen, sofort. Und er rannte. Aber er kam dem Fenster keinen Schritt näher. Es fühlte sich an wie ein Hundertmetersprint im Treibsandbecken.
Bastian wachte auf und schnappte nach Luft. Schweiß lief ihm über das Gesicht und die nackte Brust, nach ein paar Sekunden normalisierte sich die Herzfrequenz. Er kannte den Traum, früher hatte er ihn jede Nacht geträumt, inzwischen nur noch drei- oder viermal in der Woche. Manches variierte, die Inneneinrichtung des Hauses, seine Fähigkeit, sich zu bewegen, die Zeit, die er brauchte, um sich zu entscheiden. Aber die Frau und der Junge blieben gleich.
Bastian richtete sich auf, draußen war es schon hell und das Bett neben ihm leer. Hatte er verschlafen? Er suchte nach seinem Handy und fand es in der Hose, die er auf dem bunt gemusterten Teppich vor dem Bett verloren hatte. Yasi liebte offenbar Farben, ihre Wohnung war eine einzige Farbenexplosion. Bastian schaute auf das Display. Kurz nach sieben. Zeit genug, um zu duschen und einen Kaffee zu trinken.
Während er die Boxershorts anzog, dachte er an die letzte Nacht. Die beste seit undenklichen Zeiten, vielleicht seine beste überhaupt. Yasi war unglaublich. Wie konnte es sein, dass so eine Frau keinen Freund oder Ehemann hatte? Sie war schön, sie war intelligent, sie war humorvoll, und vor allem war sie entschlossen, sich das zu nehmen, worauf sie Lust hatte. Und gestern Abend hatte sie Lust auf ihn gehabt. Definitiv. Bastian hätte niemals den Mut aufgebracht, schon nach dem ersten Glas vorzuschlagen, gemeinsam ins Bett zu gehen. Aber bei Yasi hatte es wie eine logische Konsequenz geklungen. Warum Zeit vergeuden und bis zum zweiten oder dritten Date warten, wenn beide wussten, dass es darauf hinauslaufen würde?
Sie waren zu ihr gefahren, ins Erphoviertel. Yasis Wohnung unterschied sich in der Größe kaum von seiner eigenen, allerdings kam es ihm so vor, als hätten sie irgendwo zwischen Hafen und Erphoviertel den Äquator überquert. Bastmatten, bunte Tücher, Buddha-Statuen, überall Kerzen und Blumen und der Geruch von Räucherstäbchen. Ein Tempel oder eine Lasterhöhle oder das Wunschbild einer anderen Welt. Falls es in Yasis Heimat so aussah, würde er dort gerne eine Weile verbringen.
Etwas wahrgenommen von der Einrichtung hatte Bastian jedoch erst, als sie später wieder aufstanden, um eine Kleinigkeit zu essen. Gleich nachdem sie die Wohnung betreten hatten, waren sie übereinander hergefallen, hatten sich die Kleider vom Leib gerissen und waren stolpernd und lachend in dem großen Bett mit Baldachin gelandet. In das Bett kehrten sie nach dem Zwischenstopp in der Küche wieder zurück, kein bisschen müder als vorher.
Bastian hörte Geklapper aus der Küche. Yasi trug Jeans und eine schlichte Bluse, ihre Arbeitskleidung, vermutlich.
«Hi!»
«Guten Morgen.» Sie stellte den Teller auf den Tisch, kam zu ihm und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mund. «Wie geht’s dir?»
«Gut. Sehr gut. Darf ich duschen?»
«Nein.»
«Was?»
«Ich möchte, dass du gehst.»
«Sofort? Bist du in Eile?»
«Nein. Ich will nicht, dass du zum Frühstück bleibst.»
«Ach. Und warum nicht?» Er fand selbst, dass er wie ein beleidigter Junge klang, den die große Schwester nicht zum Spielplatz mitnehmen will.
«Sieh mal, Bastian, eine Liebesnacht ist das eine, ein Frühstück danach hat etwas viel Intimeres. Noch dazu im Haus der Frau. Du könntest auf die Idee kommen, dass wir eine Beziehung haben, dass wir verpflichtet sind, darüber zu reden, wo und wie und mit wem wir die Abende und Nächte verbringen.»
Er begriff immer noch nicht, was da gerade ablief. «Entschuldige, habe ich irgendwas verkehrt gemacht? Habe ich etwas gesagt oder getan, das dir nicht gefallen hat?»
«Nein, hast du nicht.» Sie strich mit dem Handrücken über seine Wange. «Es war schön mit dir, eine tolle Nacht. Und vielleicht wiederholen wir sie irgendwann. Wenn ich Lust dazu habe. Und du auch.»
«Schön. Vielleicht erklärst du mir dann ja, was mit dir los ist.» Bastian drehte sich um, marschierte in seinen Boxershorts ins Schlafzimmer zurück, zog sich hastig an und verließ die Wohnung ohne ein Wort des Abschieds. Das Knallen der Tür dröhnte ihm noch in den Ohren, als er auf der Straße stand. So nackt und gedemütigt wie in diesem Moment hatte er sich zuletzt gefühlt, als er von seinem Erdkundelehrer beim Onanieren auf der Schultoilette erwischt worden war. Was sollte das? War Yasi eine Nymphomanin, die für jeden abgeschleppten Kerl eine Kerbe in ihr Teakholzbett ritzte? Vielleicht wiederholen wir das Ganze. Wenn ich Lust dazu habe. Na toll. Rufen Sie nicht uns an, wir rufen Sie an. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn eine solche Nacht keinen Haken gehabt hätte.
Er schloss sein Fahrrad auf und fuhr nach Hause. Wenn er sich beeilte, schaffte er es, zu duschen und zu frühstücken, bevor Susanne aufkreuzte, um ihn abzuholen. Mit viel Glück würde er bis dahin seine Fassung zurückgewonnen haben und sich nichts anmerken lassen.
Susanne war schon da. Eine halbe Stunde zu früh. Saß in ihrem Wagen, der halb auf dem Bürgersteig parkte, und spielte mit ihrem Handy. Eine Sekunde später klingelte Bastians Gerät in der Jackentasche.
Er stellte das Fahrrad vor dem Haus ab und ging zu Susanne, die inzwischen ausgestiegen war. «Ich musste schnell noch was erledigen.»
Sie musterte ihn skeptisch. Wahrscheinlich fiel ihr auf, dass er dieselben Sachen wie am Vortag trug und sich nicht rasiert hatte. Frauen hatten einen Blick für so was.
«Wie heißt sie denn? Kenne ich sie?»
«Susanne!»
«Okay. Ich dachte, du bietest mir einen Kaffee an.»
«Lass uns unterwegs einen besorgen, ja?» Bastian ging zur Beifahrerseite und warf sich demonstrativ auf den Sitz. Das, was er jetzt am wenigsten brauchte, war eine Beichte. Zumal ohne Beichtgeheimnis. Die Nachricht, dass er die neue Rechtsmedizinerin gevögelt hatte, würde im Präsidium so schnell die Runde machen, dass sie am Abend schon am Schwarzen Brett hing. Unter der Rubrik Wussten Sie schon?.
Die ersten Minuten fuhren sie schweigend. Susanne guckte starr auf die Straße, als wäre zwischen Fahrer- und Beifahrersitz eine unsichtbare Scheibe hochgegangen. Als auf der rechten Seite eine Tankstelle auftauchte, sagte Bastian: «Halt mal an, ich hole uns zwei Kaffee.»
Bastian dachte sogar daran, dass Susanne ihren ohne Milch und Zucker trank. Das taute die Stimmung im Wagen ein wenig auf, wenngleich bis Nordwalde kein Frühling ausbrach. Bastian war froh, als sie endlich den kleinen Ort nördlich von Altenberge erreichten.
Mergentheims Putzfrau, die ihnen bei der Arbeitsaufteilung am Vortag zwecks einer erneuten Befragung zugeteilt worden war, wohnte in einem kleinen Klinkerbau an einer vielbefahrenen Straße.
Die Putzfrau stammte aus Polen, lebte aber schon so lange im Münsterland, dass sie sich nur noch gelegentlich in deutschen Satzkonstruktionen verhedderte. Die Polizisten fragten, ob ihr in letzter Zeit mal eine Frau in Mergentheims Haus begegnet sei.
«Nein. Begegnet nicht.»
Bastian schaute die Frau auffordernd an. Da kam doch noch was.
«Aber …»
«Ja?»
«Ich glaube, dass eine Frau war da. Oder mehrere. Verschiedene, meine ich.»
«Wie kommen Sie denn darauf?»
«Weil da so ein Geruch nach Frau war im Haus, vor allem im Schlafzimmer von Herrn Mergentheim. Sie wissen schon, Körpergeruch und Parfüm. So ein Parfüm, das Herr Mergentheim nicht benutzt. Süßlicher.»
«Wie oft haben Sie diese Gerüche bemerkt?», fragte Susanne.
«Oh, nicht oft. Vielleicht einmal im Monat.»
«Und Sie denken, dass es sich um unterschiedliche Frauen handelte?»
«Ja, das denke ich. Nur so ein Gefühl.»
«Und warum haben Sie davon bei Ihrer ersten Befragung nichts erwähnt?», hakte Bastian nach.
«Weil Ihr Kollege mich nicht danach gefragt hat.»
Das kaufte ihr Bastian ohne weiteres ab. Udo Deilbach war nicht dafür bekannt, dass er andere als die naheliegendsten Fragen stellte.
«Gut», sagte Susanne. «Kommen wir zum gestrigen Morgen, als Sie Herrn Mergentheim tot aufgefunden haben. Haben Sie da etwas bemerkt? Einen Geruch oder etwas anderes?»
Die Frau knetete ihre Hände. «Nein. Aber ich konnte auch nicht. Ich hatte gleich Alarm.»
Bastian kam das seltsam vor. «Wieso denn? Als Sie die Haustür aufschlossen, wussten Sie doch nicht, dass Mergentheim tot war. Oder sind Sie vorher ums Haus herumgegangen und haben durchs Wohnzimmerfenster geschaut?»
«Nein.» Die etwa fünfzigjährige Frau nahm ihre Brille ab und wischte sich über die Augen. Bastian wollte etwas sagen, doch Susanne stoppte ihn mit einem minimalistischen Kopfschütteln.
«Sie verstehen nicht. Wenn man so lange bei jemandem arbeitet, kennt man seine Gewohnheiten. Ich wusste gleich, dass Herr Mergentheim noch da war. Sein Autoschlüssel hing am Brett im Flur. Sonst ist er um diese Zeit immer weg, wenn ich komme, im Büro in Münster. Ich bin dann in die Küche und sehe, dass kein Frühstück auf dem Tisch steht. Herr Mergentheim lässt Sachen für mich stehen, damit ich wegräume. Ich denke, Herr Mergentheim ist vielleicht krank, und rufe nach ihm. Aber er antwortet nicht. Ich bin jetzt schon sehr a-larm…»
«Alarmiert», half Bastian.
Die Putzfrau nickte und strich imaginäre Falten aus ihrem Kleid. «Also will ich nach oben, um zu sehen, ob Herr Mergentheim vielleicht im Bett liegt und zu schwach ist für eine Antwort. Die Treppe ist gleich neben dem Wohnzimmer, und die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Heilige Maria.» Sie bekreuzigte sich. «Wie ich Herrn Mergentheim da hängen sehe, bin ich gleich nach draußen gerannt und habe die Hundertzehn gewählt.»
«Und Sie haben das Haus vor Eintreffen der Polizisten nicht wieder betreten?», vergewisserte sich Susanne.
«Nein. Nein. Bestimmt nicht.» Allein der Gedanke an den toten Mergentheim verursachte bei der korpulenten Frau ein heftiges Bibbern. «Ich hatte solche Angst.»
Kurz vor Altenberge standen sie vor der geschlossenen Bahnschranke und warteten auf die Regionalbahn nach Enschede.
«Unterschiedliche Frauen, etwa einmal im Monat. Weißt du, was ich denke?», fragte Susanne.
«Nutten», sagte Bastian. «Obwohl das bei Leuten wie Mergentheim sicher nicht so heißt. Auch die Frauen nennen sich vermutlich anders. Hostess. Callgirl, wie auch immer.»
«Wir haben Mergentheims Privatanschluss und sein Handy gecheckt. Er hat an dem Tag vor seinem Tod nur seinen Sohn, seine Sekretärin und einige Geschäftskunden angerufen.»
«Einer seiner Geschäftskunden könnte nebenbei eine kleine Agentur für spezielle Dienstleistungen betreiben. Oder Mergentheim hat eine E-Mail geschickt, ist auf eine entsprechende Homepage gegangen oder hat eines der Firmentelefone benutzt.»
Die Regionalbahn jagte mit einem schrillen Signalton über die Straße.
«Darum müssen sich die Kollegen kümmern, die die Bank beackern», meinte Susanne.
«Wir könnten Mergentheims Ex einen Besuch abstatten», schlug Bastian vor. «Möglicherweise kennt sie die Vorlieben des Bankers aus ihrer gemeinsamen Zeit.»
Die Schranke ging hoch, der Wagen quälte sich den Hügel hinauf.
«Da müssen wir erst Dirk Fahlen fragen», widersprach die Hauptkommissarin.
«Ach, komm schon, nur eine kurze Nachfrage. Gestern war unsere Enthüllung doch der Knüller.» Er betonte das Wort unsere, Susanne sollte sich als Teil ihrer kleinen verschworenen Gemeinschaft fühlen.
«Wenn ich mich recht erinnere, hielt sich die Begeisterung in Grenzen.» Aber ihr Lächeln verriet, dass sie den Widerstand aufgab. «Du bringst mich noch in Teufels Küche.»
Die Annette-Allee war eine der nobelsten Adressen Münsters. Gerlinde Mergentheim wohnte in einem luxuriösen Penthouse, das zu einem mehrstöckigen Gebäudekomplex gehörte. Von der einen Seite ihrer Dachterrasse musste sie eine grandiose Sicht auf den Aasee haben, während sie auf der anderen Seite das Geschehen auf dem Zentralfriedhof verfolgen konnte. Bastian schätzte, dass die Wohnungsbesitzerin derzeit die Friedhofsseite favorisierte, sie hatte nicht nur den Namen ihres Exmannes beibehalten, sie trug auch Schwarz und tränenverschmierte Wimperntusche. Bastian und Susanne tauschten einen wissenden Blick aus: Vor ihnen stand eine Möchtegernwitwe, die die Scheidung anscheinend nie verwunden hatte.
Nur widerwillig erhielten die Polizisten Einlass, sie habe doch schon alles gesagt, murmelte Frau Mergentheim und verschwand erst einmal für ein Telefonat im Nebenraum.
«Ich glaube, wir machen einen Fehler», flüsterte Susanne.
Auch Bastian fühlte sich unbehaglich, mochte es aber nicht zugeben. «Ach was. Nur ein paar Fragen, dann sind wir weg.»
Als das Telefonat erledigt war, blieb die Trauernde so wortkarg wie zuvor. Nein, abgesehen von den Affären mit den Sekretärinnen, wisse sie nichts über das Liebesleben ihres Mannes. Und das, was die Dame und der Herr von der Polizei da andeuteten, dass Carl Benedikt professionelle Dienste in Anspruch genommen habe, das sei eine blanke Unverschämtheit.
Nachdem sie ein paar Mal auf ihre Armbanduhr und zur Wohnungstür geschaut hatte, war sich Bastian sicher, dass die Mergentheim jemanden zu ihrer Unterstützung herbestellt hatte. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis sich die Tür öffnete und ein etwa dreißigjähriger Mann mit hochrotem Kopf und Business-Anzug in die Gesprächsrunde platzte: «Wie kommen Sie dazu, meine Mutter zu überfallen? Falls es noch etwas zu besprechen gibt, melden Sie sich bitte vorher an. Wir werden dann unseren juristischen Beistand hinzuziehen.»
«Schon gut.» Susanne stand auf. «Wir werden Sie nicht länger belästigen.»
Veit Constantin stemmte seine rosigen Fäuste in die Hüften. «Das will ich hoffen.»
Das Macho-Gehabe des Prinzen wirkte lächerlich. Allerdings nur halb so lächerlich wie ihr eigener unrühmlicher Abgang, fand Bastian.
«Was für eine Scheiße», maulte Susanne, als sie aus dem Schattenreich des Hausflurs in die glühend heiße Mittagssonne traten. «Ich hätte mich nicht auf deine blöde Idee einlassen sollen. Das riecht nach Ärger.»
Der Ärger kam in Gestalt von Dirk Fahlen. Sie hatten gerade ihre Berichte abgeschickt, Bastian nutzte dazu einen verwaisten Schreibtisch im Büro seiner Kollegin, da stürmte der MK-Leiter ohne Vorwarnung herein: «Ratet mal, wen ich gerade am Telefon hatte?»
Susanne verdrehte die Augen: «Ich kann’s mir denken.»
«Den Rechtsanwalt der Familie Mergentheim. Und wisst ihr was? Der Mann hat sogar recht. Was hat euch das Gehirn vernebelt, die Frau mit so einem Mist zu behelligen?»
«Es war den Versuch wert», kam Bastian seiner Kollegin zu Hilfe. «Wir hatten Grund zu der Annahme …»
«Ach ja?», unterbrach der MK-Leiter. «Schön, dass ihr eure Annahmen sofort irgendwelchen Zeugen mitteilt. Soll ich dir den Dienstweg aufmalen, Matt? Zuerst informiert ihr mich. Und ich entscheide, was dann passiert.»
Bastian stöhnte innerlich und berichtete, was sie von der Putzfrau erfahren hatten.
Fahlen grinste gönnerhaft. «Das wissen wir längst, wir haben einen Tipp von einem ehemaligen Manager der Bank bekommen. Mergentheim hat nach ein paar Gläsern mal durchblicken lassen, dass er sich ab und zu eine Frau nach Hause bestellt. Ich bin sicher, wir werden die Prostituierte bald haben. Geräuschlos.» Der MK-Leiter ging zur Tür. «Übrigens, Matt: Noch so ein Alleingang und du bist schneller zurück in der K-Wache, als du bis drei zählen kannst.»
Fahlen verschwand grußlos. Und seine Drohung erschien Bastian fast wie eine Verheißung. Verglichen mit dem harschen Ton bei den Mordermittlern, war die K-Wache die reinste Kuschelgruppe.
«Ich bin mal für zwei Stunden weg», sagte Susanne und schnappte ihren Autoschlüssel von der Schreibtischplatte. «Meine Tochter hat einen Termin beim Gynäkologen.»
Bastian erinnerte sich, dass Susanne alleinerziehende Mutter war. «Wie alt ist sie denn?»
«Vierzehn. Und ich sage dir, die Pubertät bei Mädchen ist keine vergnügungssteuerpflichtige Veranstaltung. Lies die Akten, bis ich zurück bin, zur MK-Sitzung müssen wir auf dem aktuellen Stand sein.»
«Keine Angst», erwiderte Bastian. «Ich werde ganz brav sein.»
Kaum hatte Susanne den Raum verlassen, ging Bastian ins Internet. Etwas beschäftigte ihn schon den ganzen Vormittag. Er gab den Begriff Mosuo ein und las sich durch das, was ihm die Suchmaschine anbot. Viele Jahrhunderte lang, so erfuhr er, lebten die Mosuo fast völlig abgeschieden von der Außenwelt. Es gab einen Fürsten, der über die Bauern herrschte, doch in den Familien hatten die Frauen das Sagen. Bis in die heutige Zeit. Ob es sich deshalb bei der Mosuo-Kultur um ein Matriarchat handelte, war unter den Verfassern der verschiedenen Texte umstritten. Einig waren sich alle Autoren lediglich darin, dass Nachkommen immer in der Familie ihrer Mutter blieben und eine Frau als Familienoberhaupt anerkannten. Ehen zwischen Männern und Frauen existierten kaum, stattdessen etwas, das als Besuchsehe bezeichnet wurde: Männer besuchten ihre Partnerinnen in der Nacht und kehrten dann in ihre eigenen Familien zurück. Nicht mal den Kommunisten, die 1956 die Mosuo von ihrem «Feudaljoch befreien» wollten, war es gelungen, sie zur Aufgabe ihrer alten Sitten und Gebräuche zu bewegen. Nachdem der Spuk der Kulturrevolution vorüber war, kehrten die Mosuo zu ihrem gewohnten Leben zurück.
Bastian ging in den Sitzungsraum des KK 11 und zapfte sich eine Tasse Kaffee aus dem Kaffeespender. Einiges an Yasis Verhalten war ihm jetzt klarer. Anscheinend lebte sie noch immer nach den Vorstellungen ihres Volkes und betrachtete ihn als Besucher, der morgens wieder zu verschwinden hatte. Allerdings war sie schon so lange in Deutschland, dass sie wissen musste, wie deutsche Männer tickten. Wie konnte sie ihn derart vor den Kopf stoßen?
Auf dem Flur wäre Bastian beinahe mit einer älteren Frau zusammengeprallt.
«Ach, Herr Matt», sagte Anna Warmbier. «Wir sehen uns diese Woche noch, nicht wahr?»
«Ja», brachte Bastian heraus. Obwohl sie seit zwei Jahren miteinander redeten, schaffte es die Psychologin immer noch, ihn in Alarmstimmung zu versetzen.