Achtundzwanzig

Er würde es nicht schaffen. Er würde hier sterben. Den Kältetod. Erfroren in der Lagerhalle der globalen Samenbank. Was für ein Scheißtod. Was für ein Scheißleben. Nichts, rein gar nichts hatte er aus seinem Leben gemacht. Dabei hatte es eigentlich ganz vielversprechend angefangen. Behütete Kindheit. Überbehütet manchmal, doch ohne große Schrecken. Der Vater Lehrer, altsprachlich, ein bisschen streng, ein bisschen klugscheißerisch, ansonsten ganz okay. Die Mutter verhuscht, aber liebevoll. Redete dem Vater nach dem Mund, solange er anwesend war, verwöhnte den kleinen Ulrich, sobald sie allein waren. Ulrich, das Einzelkind. Intelligent, schwächlich, von seinen Klassenkameraden gehänselt, in Maßen neurotisch, ein Einzelkind eben. Für Geschwister fehlte das Geld. Es gab Wichtigeres. Ein neues Auto, Sparen für ein Eigenheim, der jährliche Italienurlaub. Drei Wochen Riviera. Cesenatico, ja, so hieß der Ort. Eine Pension, in der man Deutsch sprach. Sand, Hitze, Langeweile. Der kleine Ulrich baute Sandburgen und spielte mit anderen Kindern. Die Eltern tranken italienischen Rotwein, mittags, abends. Der Vater erzählte vom Krieg, Schützengraben am Wolchow in Russland, fröhliches Schießen zwischen Deutschen und Russen. Nach Rotwein und Krieg gingen die Eltern aufs Zimmer. Ulrich musste draußen bleiben und noch eine Runde spielen. Erst später verstand er, was die Eltern machten, wenn sie ihn nicht dabeihaben wollten. Eine behütete Kindheit eben. Man sprach nicht über Sex. Statt Aufklärung ein Aufklärungsbuch, das ihm die Mutter verschämt zusteckte. Über Geld redete man umso mehr. Für was es reichte und für was nicht. Die Nachkriegszeit war vorbei, man wollte leben. Für ein Kind reichte das Geld. Gymnasium, Studium, der Junge sollte es besser haben. Und Ulrich bemühte sich, bestand die Prüfungen mit Bestnoten. Alle waren der Überzeugung, dass aus ihm ein exzellenter Wissenschaftler würde. Hochschulkarriere, Professur, Renommee, Privilegien. Ein größeres Eigenheim als die Eltern, eine hübsche Frau, mindestens zwei Kinder. Das perfekte Leben. Dann war es anders gekommen.

Ulrich Vogtländer schloss die Augen. Nur jetzt nicht einschlafen. Noch nicht. Einschlafen war der Tod. Er würde nicht mehr aufwachen.

Sie hatten ihn vor der ersten Stahltür eingeholt, die beiden Männer und die Frau. Das Tor am Eingang war nicht schnell genug eingerastet. Schon im Tunnel hatte er ihre Schritte hinter sich gehört. Schnelle, dynamische Schritte. Er dagegen tapste kraftlos. Aber die Panik hatte ihn angespornt. Und so hatte er die erste Stahltür der Kühlkammer vor ihnen erreicht. Seine letzte Hoffnung bestand darin, rechtzeitig die Tür hinter sich zu verschließen. Im Korridor vor der eigentlichen Lagerhalle würde er überleben, den Schlüssel-Code der Tür konnten seine Verfolger nicht knacken. Doch dann hatte er einen Schwächeanfall erlitten. Ausgerechnet in dem Moment, als sich die Tür öffnete, war er zusammengebrochen. Sie hatten ihn hochgezogen, ins Innere geschleift, getreten. Geredet hatten sie auch, die Frau vor allem. Vogtländer hatte nicht verstanden, was sie sagte. Es spielte auch keine Rolle, er wusste ohnehin, um was es ging. Und was sie von ihm wollten: seinen Tod.

Sie hatten ihn durch die Kälteschleuse in die Lagerhalle gebracht, erneut geschlagen und getreten und ihn dann liegen gelassen. Bei achtzehn Grad minus. Ein gesunder Mensch hielt das ohne Thermokleidung ein paar Stunden aus. Aber er war nicht gesund, er war todkrank, verletzt und erbärmlich schwach. Trotzdem hatte er es versucht. Noch einmal aufzustehen und sich in den Korridor zu schleppen. Es ging nicht. Er hatte keine Kraft mehr.

Nur nicht entspannen. Auch wenn es verlockend war. Nicht mehr kämpfen müssen. Nachgeben. Den Tod akzeptieren. Vogtländer spürte die Kälte nicht mehr. Genauso wenig wie seine Beine und Arme. Ihm war jetzt ganz warm.

Er dachte an Helene. An ihren glatten, außerirdisch schönen Körper. An ihre Haare, die auf seiner Brust lagen. Damals, in Münster, in ihrem Studentenapartment. Sie hatten sich geliebt, die ganze Nacht lang. Sie waren so jung und gierig gewesen. Gierig nach Leben, nach Sex, nach Erfolg. Helene hatte ihn mitgerissen, hatte ihn in ihre Welt geholt. Eine Welt, in der andere Maßstäbe herrschten. Helenes Gesetze. Helenes Moral. Helenes Logik. Es hatte vor und nach Helene andere Frauen in seinem Leben gegeben. Aber keine war auch nur annähernd an ihre Klasse herangekommen. Und an ihre eiskalte Entschlossenheit.

Sie hatte ihn geformt und zu ihrem Geschöpf gemacht. Und ihn verstoßen, als er anfing, wieder eigenständig zu denken. Er hatte sich gefühlt wie ein Taucher, dessen Luftschlauch plötzlich durchgeschnitten wird. Von einem Tag auf den anderen war die Verbindung gekappt. Helene hatte ihn zurückgelassen – als seelischen Krüppel.

Es gab Affären, hier und da. Mal dauerten sie ein paar Tage, mal ein paar Monate. Sie halfen ihm, die Leere in seinem Leben zu verdrängen. So wie der Alkohol. Die glorreiche Hochschulkarriere, die ihm bevorgestanden hatte – nur noch eine bröckelnde Ruine. Er hangelte sich von einem Forschungsprojekt zum nächsten, angewiesen auf Christians Gnade. Dabei wusste er, dass Christian ihm nur half, weil Helene dafür sorgte. Noch immer hing er an Helenes Fäden. Sie wachte über ihn. Schließlich war er ein wandelndes Risiko, das ihr wachsendes Imperium zerstören konnte.

Spitzbergen war seine Rettung gewesen. Seine Flucht aus der Welt. Eine Existenz als Einsiedler. Ohne Frauen, ohne Alkohol, ohne Zwang, etwas beweisen zu müssen. Viele Jahre vergingen in erträglicher Halbdepression. Bis sich Bo meldete und die Zweifel zurückkamen. Der Drang größer wurde, reinen Tisch zu machen. Sich als das zu outen, was er war: ein Lügner, ein Betrüger, ein Verbrecher. Jeden Tag focht er diesen Kampf aus.

Und dann kam der Krebs. Vielleicht hing beides zusammen. Vielleicht war auch dafür Helene verantwortlich. Hatte sie ihm nicht das Gift injiziert, das sein Leben zersetzte? Und am Ende seinen Körper?

Zumindest eines hatte er Helene zu verdanken: dass er hier lag, dass er hier sterben würde. Ohne ihre Ankunft in Longyearbyen hätte er noch einige Tage oder Wochen länger geatmet. Was für ein lächerlicher Gedanke. Nein, er hatte dieses Ende verdient. Das beschissene Ende eines beschissenen Lebens.

Er dachte an seinen Sohn. Frederik. Wie alt mochte er jetzt sein? Zweiundzwanzig? Dreiundzwanzig? Kein Kind mehr, ein Mann. Wem er wohl ähnlicher sah, Helene oder ihm, seinem Vater? Wie gern hätte er Frederik wenigstens einmal in den Arm genommen, mit ihm über alles geredet, was sie verband und trennte. Vielleicht hätten sie sich verstanden, vielleicht hätten sie zusammen gelacht und geweint, vielleicht … Zu spät.

Die Gedanken verschwammen. Er begann zu träumen. Flog mit dem Schneemobil über das bläulich schimmernde Eis. Der schwarzblaue Februarhimmel. Keine Menschenseele. Nur Eis und Berge. Ein Licht am Horizont. Gleißend hell.

Vogtländer fuhr darauf zu. Bald würde ihn das Licht umhüllen. Um ihn herum tanzten Gestalten aus Nebel. Sie griffen nach seinen Armen und Beinen. Hoben ihn hoch und trugen ihn fort.

Mitten ins Licht.