Dreiundzwanzig
«Du siehst beschissen aus, Ujo.»
Seit wie vielen Jahren hatte ihn niemand mehr Ujo genannt? Damals war er jedenfalls noch ein Mensch gewesen und kein Todeskandidat. Die drei blöden Buchstaben lösten eine Gefühlswelle aus, die Vogtländer unter sich zu begraben drohte. Verdammtes Selbstmitleid. Nur jetzt nicht heulen. Nicht vor diesem Kameraauge, das ihn bläulich anstarrte und jede seiner Gefühlsregungen auf Helenes Notebook übertrug.
«Ich fühle mich auch beschissen.»
Er hob den Kopf und schaute Helene trotzig in die Augen. Was für ein Unterschied zu seiner eigenen Erscheinung. Helene sah perfekt aus. So attraktiv, wie eine Frau um die fünfzig nur sein konnte. Und so kalt, wie eine erfolgreiche Geschäftsfrau sein musste.
Helene legte ihre Stirn in Falten. «Bist du krank?»
«Lungenkrebs. Endstadium.»
Es dauerte eine knappe Sekunde, bis sie die Antwort verdaut hatte. «Das tut mir leid. Ehrlich.»
Der Vorschlag, ein Videogespräch zu führen, war von Vogtländer gekommen. Nachdem Helene seine Ausreden nicht akzeptiert und ihn weiter mit SMS bombardiert hatte, war ihm klar geworden, dass er sich ihr nicht entziehen konnte. Und eine Begegnung im Internet schien ihm im Vergleich mit einem leibhaftigen Aufeinandertreffen das geringere Übel zu sein. So redeten sie nun miteinander, wobei er in seinem Haus in Longyearbyen saß und sie in ihrer superteuren Luxuskabine auf dem Fünf-Sterne-Kreuzfahrtschiff in der Barentssee.
«Von deiner Sorge um mich mal abgesehen, Hel», sagte Vogtländer ironisch. «Du hast doch etwas auf dem Herzen?»
«Du spielst immer noch den harten Hund, was, Ujo?»
Wieder stauten sich die Tränen in seinen Augen. Bestimmt lag es an den verfluchten Tabletten, die mit seinem Hormonspiegel Pingpong spielten, dass er heute so sentimental war. Es konnte jedenfalls nicht an dieser Frau liegen, die er vor zwanzig Jahren geliebt hatte und deren Kaltschnäuzigkeit ihm heute mehr als alles andere verdeutlichte, von welchem sinnlosen, unerheblichen Dasein er sich bald verabschieden würde.
«Komm zur Sache, Hel.»
«Hast du mitbekommen, dass Chris und Mergentheim ermordet worden sind?»
Vogtländer nickte. «Die Kripo in Münster hat sogar schon bei mir angerufen.»
«Offenbar hat es jemand auf Lambert-Pharma abgesehen.»
«Weißt du was, Hel?» Auf dem kleinen Bildschirmausschnitt, der die Projektion seiner eigenen Kamera zeigte, beobachtete Vogtländer, wie sich in seinem vom Tod gezeichneten Gesicht ein Grinsen abzeichnete. «Ganz kurz habe ich darüber nachgedacht, ob du selbst diese Morde in Auftrag gegeben hast. Immerhin befreien sie dich von zwei lästigen Mitgesellschaftern.»
«Sei nicht albern, Ujo», sagte Helene mürrisch. «Der Tod der beiden verschafft mir keinerlei Vorteile. Und ich mag zwar kein Engel sein, aber eine Mörderin bin ich auch nicht.»
«Ja, das habe ich mir dann auch gesagt.»
«Die Polizei in Münster geht davon aus, dass irgendwelche Ökoterroristen für die Morde verantwortlich sind. Jemand hat der Polizei gesteckt, dass der wirtschaftliche Erfolg von Lambert-Pharma auf Baba basiert. Aber noch wissen sie nicht, dass wir in China waren. Und vor allem nicht, was wir dort gemacht haben.»
Vogtländer dachte an die Mosuo-Frau, die vor seiner Tür gestanden hatte und dann unverrichteter Dinge wieder gefahren war. Und er dachte an die Andeutungen, die dieser Kriminalbeamte Matt bei seinem Anruf aus Longyearbyen gemacht hatte. Wieso wusste er mehr als seine Kollegen in Münster? Oder war das vielleicht gar kein Polizist, sondern einer der Mörder? Auf keinen Fall würde er ihn oder die Mosuo in sein Haus lassen.
Seltsam, wie er plötzlich an dem letzten Fetzen seines Lebens hing, der noch in ihm steckte.
«Was ist los, Ujo? Hörst du mir überhaupt zu?»
«Natürlich», sagte Vogtländer. «Du denkst, dass du deinen Arsch retten kannst?»
«Meinen und deinen Arsch, Ujo. Du hängst da mit drin.»
«Ich habe keinen einzigen Euro an Baba verdient.»
Helene lachte gehässig. «Und damit wäschst du deine Hände in Unschuld? Hast du vergessen, dass zwei, wahrscheinlich drei Mosuo-Frauen hopsgegangen sind? Aufgrund der Experimente, die wir gemeinsam durchgeführt haben. Zusammen mit unseren chinesischen Freunden.»
Nein, er hatte es nicht vergessen. Er dachte jeden Tag daran. Bo auch. Im letzten Jahr hatte der Chinese Vogtländer von seinen Albträumen erzählt, die ihm jede Nacht den Schlaf raubten. Der harte Bo. Vor zwanzig Jahren noch ein eiskalter Technokrat, trieb ihn sein schlechtes Gewissen heute zu einer Buß-Fahrt ins Land der Mosuo. Das war das Letzte, was Vogtländer von Bo gehört hatte, dass der Chinese an den Lugu-See reisen und die Dorfgemeinschaft, die sie damals heimgesucht hatten, um Verzeihung bitten wollte. Seitdem herrschte Funkstille. Bo. Ein Gedanke blitzte in Vogtländers Gehirn auf: Hatte der alte Chinese die Mordserie ausgelöst? Waren die Attentate eine Art tätige Reue für ihr kollektives Versagen? Aber warum stand er, Vogtländer, dann auch auf der Liste? Schließlich hatte er Bo zugesichert, seinen Teil zur Aufklärung beizutragen.
Der Biologe blickte zu den bereits adressierten, dicken Umschlägen, die neben dem Computermonitor auf dem Schreibtisch lagen. Ja, versprochen hatte er es Bo schon, bloß gehalten hatte er sein Versprechen bislang nicht. Das musste er unbedingt ändern. Gleich morgen früh würde er die Briefe zur Post bringen.
«Deshalb ist es wichtig, dass wir den Mund halten», redete Helene weiter, als ahne sie seine nächsten Schritte. «Solange wir nichts ausplaudern, kann uns niemand etwas nachweisen. Auf die chinesischen Behörden ist Verlass. Die werden einen Teufel tun, irgendwelche Informationen preiszugeben.»
«Ich mache reinen Tisch, Hel.»
«Was?»
«Die Veröffentlichung der unrühmlichen Geschichte unserer Expedition ist mein Vermächtnis. Sie geht morgen an zehn der wichtigsten biologischen Institute auf der Welt, zusammen mit einer Samenprobe Baba.»
Schweigen.
Nach einer Weile räusperte Helene sich. «Wo hast du die Samen her?»
«Von Bo.»
«Bo also!», spuckte Helene. «Er steckt dahinter?»
«Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Bo ist ein alter Mann, der Skrupel bekommen hat. So wie ich.»
«Und deshalb willst du verbrannte Erde hinterlassen?»
Vogtländer lachte. Oder versuchte es zumindest. «Ich bin am Ende, Hel. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Das Baba gehört den Mosuo, nicht dir. Und wenn sie schon nicht die Möglichkeit haben, davon zu profitieren, dann soll es wenigstens allen zur Verfügung stehen, denen der Wirkstoff helfen kann. Nicht nur den Auserwählten, die deine hohen Preise zahlen können.» Er richtete sich auf. «Das hätte ich schon längst machen sollen. Aber ich war zu feige.»
Die Rede hatte Vogtländer angestrengt. Er schnappte nach Luft und spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach.
Auch Helene schwieg. Für ihre Verhältnisse eine Ewigkeit. Dann sagte sie: «Ich verstehe, dass du mich hasst.»
«Ich hasse dich nicht.» Vogtländer hustete. «Ich …»
«Ich bin nicht fair zu dir gewesen. Ich habe mit dir gespielt.»
«Und wenn schon. Was spielt das für eine Rolle?»
«Bist du nach mir mit einer Frau glücklich geworden?»
Vogtländer schluckte. Seine Stimme wurde brüchig: «Was soll das, Hel? Die Mitleidsschiene zieht bei mir nicht.»
«Hast du Kinder, Ujo? Gibt es wenigstens einen Menschen, der sich um dich kümmert, wenn du stirbst?»
Er konnte es nicht verhindern, die Tränen liefen ihm über die Wangen. «Warum tust du das?», flüsterte er mit erstickter Stimme. «Warum quälst du mich?»
«Ich bin die einzige Frau, die du jemals geliebt hast?»
Er nickte. Wie ein treuherziger Idiot.
«Und wenn ich dir sage, dass du einen Sohn hast?»
«Du lügst.» Er schluchzte.
«Ich lüge nicht. Ich habe dir damals erzählt, dass der Mann, den ich geheiratet habe, der Vater von Frederik ist, weil ich nicht wollte, dass du dich in mein Leben einmischst. Aus demselben Grund weiß auch Frederik nicht, dass du sein Vater bist.»
«Und warum soll ich dir jetzt glauben?», fragte Vogtländer.
«Du musst mir nicht glauben», sagte Helene. «Ich bringe dir morgen ein Haar von Frederik mit. Sicher verfügst du über Geräte, mit denen du die DNA analysieren und mit deiner eigenen vergleichen kannst. Dann weißt du es.»
«Selbst wenn es stimmt», keuchte Vogtländer, «was ändert das?»
«Vieles», sagte Helene. «Falls du das tust, was du vorhast, zerstörst du nicht nur mein Leben, sondern auch das deines Sohnes. Ich bitte dich nur um eines, Ujo: Warte mit deiner Entscheidung bis morgen. Warte so lange, bis du deinem Sohn in die Augen geblickt hast.»
Die Verbindung brach ab.
Lange starrte Vogtländer auf den dunklen Bildschirm. Er war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Wieso hatte diese Frau eine solche Macht über ihn? Wie schaffte sie es, ein derartiges Chaos in ihm auszulösen? Warum musste sie ihn mit der Hoffnung demütigen, einen Sohn zu haben?
Vogtländer zog die Briefe zu sich heran und fuhr gedankenverloren mit der Hand darüber. Ja, er würde warten. Diesen einen Tag. Aber das würde nichts an seinem Entschluss ändern. Oder doch? Oh Gott, wie er sich für seine Schwäche hasste. Wie er die Sonne hasste, die unbarmherzig am Himmel stand und verhinderte, dass ihn die Dunkelheit verschluckte. Wie er es hasste, am Leben zu sein.