Sechzehn

Helene Lambert hing über der Toilette und spuckte Krabbenfleisch in die schlicht designte Plastikschüssel. Daran, dass sich die MS Albertina sanft auf und ab bewegte, lag es nicht, dass ihr übel war. Der Kreuzfahrtdirektor, der mit seiner einschmeichelnden, leicht schwäbelnden Stimme jeden Tag mindestens zwei Mal über die Lautsprecheranlage zu den Passagieren sprach und dabei die neuesten Wettermeldungen zum Besten gab, hatte die Seegangstärke mit drei bis vier angegeben. Das war fast nichts, da hatte Helene auf kleineren Schiffen schon ganz andere Stürme überstanden. Nein, die Ursache ihres Unwohlseins besaß acht lange, staksige Beine. Die verdammten Königskrabben, von deren köstlichem, in Meerwasser gekochtem Fleisch sie viel zu viel verschlungen hatte, bereiteten ihr Magenschmerzen.

Helene Lambert zog sich am Waschbecken hoch und schaute in den Spiegel. Mein Gott, sie sah wirklich furchtbar aus. Dunkle Ringe unter den Augen und Falten so tief, dass kein Make-up sie verschlucken konnte. Diesen Anblick mochte sie niemandem an Bord zumuten, das vereinbarte Treffen mit Frederik würde sie notgedrungen absagen müssen.

Erneut stieg eine Übelkeitswelle aus dem Magen hoch. Helene unterdrückte den Brechreiz. Was genug war, war genug, sie wollte sich nicht noch einmal übergeben. Mit langsamen Schritten, dabei tief einatmend, durchquerte sie das Wohnzimmer. Vorsichtig streckte sie sich auf dem Sofa aus. Ja, so ließ es sich aushalten. Wenn’s sein musste, bis zum Morgen. Hinter den großen Panoramafenstern stand die Sonne tief am Horizont. Vielleicht sorgte die Passage der Bäreninsel, die der Kreuzfahrtdirektor versprochen hatte, noch für ein kleines nächtliches Highlight. Seit ein paar Tagen, seit die Sonne gar nicht mehr unterging, hatte Helene ohnehin Schlafprobleme. Die Helligkeit, die sich auch mitten in der Nacht an den Vorhängen vorbei in die Kabine stahl, durchlöcherte ihren chronisch fragilen Schlafrhythmus. Also konnte sie genauso gut hier liegen bleiben und unentwegt auf die Schaumkronen des Nordmeers starren. Was für ein armseliges Ende eines Tages, der so hoffnungsvoll begonnen hatte.

Endlich einmal hatte ein echtes Erlebnis auf dem Programm gestanden: Fahrt mit RIB-Booten zu den Reusen, in denen Königskrabben gefangen wurden, und anschließender Verzehr der frischgekochten Riesenkrabben in einem traditionellen Sami-Zelt. Während das gemeine Volk von Honningsvåg aus, wo die MS Albertina ankerte, in Bussen zum Nordkap gekarrt wurde, um zusammen mit vielen anderen Schaulustigen das karge Ende Europas zu bestaunen, waren Helene und Frederik sowie das aufrechte Häuflein der anspruchsvolleren Passagiere zu einem kleinen Fischereihafen gepilgert. Dort hatten sie Schutzanzüge und Schwimmwesten erhalten und waren in die großen Schlauchboote gestiegen, die mit ihren starken Außenbootmotoren bis zu 35 Knoten machten und immer wieder von der geriffelten Wasseroberfläche des Magerøysundes abhoben. Helene bewunderte die blonden, rotwangigen Norwegerjungs, die in ihren grellbunten Gummihosen hinten an den Motoren hockten und die Boote lenkten. Doch noch mehr genoss sie es, direkt neben dem kurzhaarigen Burschen zu sitzen, der ihr am Vortag erstmals aufgefallen war. Geschickt hatte sie sich zwischen ihn und die Blondine gedrängt und ihm beim Einsteigen in das Boot den Arm entgegengestreckt. Dem Jüngling war gar nichts anderes übrig geblieben, als Helene zu helfen – und schon saß sie neben ihm, Bein an Bein. Die Blondine hatte das klaglos hingenommen und sich neben Frederik auf eine andere Bank gesetzt. Was Helenes Vermutung erhärtete, dass es sich bei den beiden nicht um ein Paar handelte.

Aus der Nähe sah der Junge mit den kurzen blonden Locken noch besser aus als von oben. Auf seinem Gesicht lag unter dem Dreitagebart ein melancholischer Schatten, er schien schon mehr und Schlimmeres von der Welt gesehen zu haben als die meisten seiner Altersgenossen. Helene bekam eine Gänsehaut. Der Typ strahlte etwas Brutales aus, dazu musste er sie nicht einmal mit diesem durchdringenden Blick anschauen. Und dass er zupacken konnte, sah man an der Art, wie er die Krabbenreuse vom Meeresgrund hochzog. Helene stellte sich vor, unter ihm zu liegen und seine groben Hände auf ihren Oberarmen zu spüren. Er würde sie hart anfassen, da war sie sich sicher, und sie würde es genießen. So lieb und kuschelig Rafael auch war, auf Dauer konnte der Blümchensex mit ihrem devoten Sekretär ziemlich langweilig werden. Rafael würde sich eher in die Hand beißen, als ihr mal einen Schlag auf den nackten Hintern zu verpassen.

Helene zündete die nächste Stufe der Annäherung. «Ich heiße Helene. Und Sie?»

«Julian», knurrte er aufs Wasser hinaus. Anscheinend kein Konversationsgenie.

«Wenn man mal von neunzig Prozent unserer Mitreisenden absieht, war die Fahrt bis jetzt recht amüsant, finden Sie nicht?»

«Ja.»

Himmel, der Junge war trockener als Mehlstaub. «Was reizt Sie denn an der Route? Spitzbergen? Oder doch die norwegischen Fjorde?»

«Keine Ahnung. Freunde haben mich eingeladen.»

Inzwischen waren die Krabbenfallen an die Wasseroberfläche gezogen und in die Boote ausgekippt worden. Kleine Monster mit Beinspannweiten von einem Meter und mehr schoben sich zwischen die Füße der Touristen, rissen dabei ihre Kiemenhöhlen auf, in denen ein verkümmertes fünftes Beinpaar einen seltsamen Tanz aufführte. Der Anblick erinnerte Helene an gruselige außerirdische Spinnentiere in schlechten Science-Fiction-Filmen. Ein besonders aufdringliches Exemplar, das mit seiner Beinschere an ihrem Schuh herumzwickte, beförderte Helene mit einem energischen Tritt an die Bordwand. Das Tier nahm die Attacke gelassen hin, wie sollte es auch ahnen, dass in dem Fußtritt eine gehörige Portion Frust steckte. Helene konnte einfach nicht fassen, dass ein männliches Wesen, dem sie ihre Aufmerksamkeit schenkte, sie derart eiskalt abblitzen ließ wie dieser maulfaule Julian. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Jedenfalls nicht, solange sie sich erinnerte.

Die Boote nahmen wieder Fahrt auf und steuerten auf eine Landzunge zu, an deren Ufer ein etwa zehn Meter hohes Sami-Zelt aufgebaut war. Der Stachel der Niederlage provozierte Helene zu einem letzten Versuch. Bei einer scharfen Rechtskurve fiel sie unbeholfen gegen Julians Schulter und legte Halt suchend ihre Hand auf seinen Oberschenkel. Doch auch diesmal zeigte der Junge keine Reaktion, nicht mal ein nervöses Zucken. Unbeirrt starrte er weiter aufs Meer hinaus, als gäbe es dort etwas zu sehen, das mit einer attraktiven Frau im besten Alter konkurrieren konnte. Entweder war der Typ stockschwul oder hohl wie ein Lüftungsschacht.

Vermutlich war die schlechte Laune, die Helene von diesem Moment an befallen hatte, auch dafür verantwortlich gewesen, dass sie später, als alle im Kreis in dem riesigen Zelt saßen und an Krabbenbeinen nagten, eine Unmenge von dem weißen, proteinhaltigen Fleisch vertilgt hatte. Irgendwie musste sie sich ja ablenken, nicht nur von Julian, sondern auch von dem Geschwafel des schweinsköpfigen Mannes an ihrer rechten Seite, der unentwegt von seinen unbedeutenden Reisen in noch unbedeutendere Weltgegenden erzählte. Helene stopfte Krabbenfleisch in sich hinein, verlangte nach rosa Pfeffer, den es in der primitiven Fischerküche natürlich nicht gab, und angelte sich ein neues Krabbenbein.

Irgendwann, ihr war schon ein wenig übel, entweder vom vielen Essen oder von der Mundgeruchaura des Schweinskopfs, fiel Helene auf, dass Frederik das Zelt verlassen hatte. Und nicht nur er, auch die blonde Freundin des schweigsamen Julian. Helene stand auf, drückte einem kräftigen norwegischen Mädchen ihr Holzbrett mit den Krabbenüberresten in die Hand und machte sich auf die Suche.

Draußen herrschte Dämmerung. Jedenfalls kam es Helene so vor. Tatsächlich war der graue Himmel nicht dem Sonnenstand, sondern den Wolken geschuldet, die sich vor die Polarsonne geschoben hatten. Schwarz vor milchigem Hintergrund zeichnete sich eine Herde Rentiere ab, die über den Kamm einer Hügelkette jagte. Und neben dem großen Wasserbecken, in dem die Fischer die Königskrabben zwischengelagert hatten, bevor diese in kochendes Wasser geworfen wurden, standen Frederik und die Blondine. Helene kannte den Blick, mit dem die Blonde Frederik anschaute, und er gefiel ihr gar nicht. Was um alles in der Welt hatte Frederik getan, dass sich dieses überaus durchschnittliche Mädchen so schnell in ihn verliebte?

Während der Rückfahrt zum Hafen von Honningsvåg spürte Helene bereits, wie es in ihrem Magen rumorte. Schweigend erduldete sie die Luftsprünge des Schlauchbootes, um sich anschließend so schnell wie möglich ihrer Schutzkleidung zu entledigen und auf die Albertina zurückzukehren. Und dann hing sie auch schon über der Unterdrucktoilette in ihrem Badezimmer.

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Das Telefon klingelte. Helene hangelte nach dem Hörer. «Ja?»

«Ich bin’s, Frederik. Kommst du noch zur Party auf dem Achterdeck?»

Jeden Abend gab es eine Party. Gestern war die Polartaufe gefeiert worden, heute wurde der Abschied von Europa begangen. «Nein, ich glaube nicht, ich bin müde.» Sie schaute auf ihre Uhr: schon nach Mitternacht.

«Okay, wollte ich nur wissen.»

War das eine Frauenstimme im Hintergrund? Hatte sich die blonde Schlampe bereits in seiner Kabine einquartiert? «Frederik, alles in Ordnung?»

«Natürlich, Mama.»

«Bist du allein?»

Frederik lachte. «Wer soll denn bei mir sein?»

Lügen konnte er noch nie.

Helene legte auf und stellte die Füße auf den schwankenden Schiffsboden. Der Magen hatte sich einigermaßen beruhigt, sie schaffte es ohne Komplikationen bis zur Kabinentür. Kaum hatte sie die Tür einen Spaltbreit geöffnet, hörte sie auch schon Stimmen, die sich auf dem Gang entfernten: Frederik und die Blondine. Mit dem Anruf hatte sich Frederik nur vergewissern wollen, dass sie bei der Party nicht von seiner Mutter gestört wurden. Aber da hatte er sich verrechnet. Helene fand, dass es an der Zeit war, ein ernstes Wort mit ihrem Sohn zu reden.

Sie setzte eine große Sonnenbrille auf und schlang sich einen bunten Turban um den Kopf. Die Aufmachung war so auffällig, dass sie hoffentlich von dem erbarmungswürdig käsigen Gesicht darunter ablenken würde. Derart verkleidet marschierte Helene los, zuerst zur Treppe in der Mitte des Schiffs, dann hinunter auf das Prometheus-Deck. Auf der Außenfläche der Neptun-Bar am Heck des Schiffes standen große Lautsprecherboxen. Der DJ, der tagsüber den penetrant gutgelaunten Animateur gab, spielte mal wieder seine Lieblingsmusik: abgehangene deutsche Schlager. Schon in ihrer Studentenzeit hatte Helene diese seichten Melodien für hoffnungslos antiquiert gehalten, dabei war der DJ gerade mal ein paar Jahre älter als Frederik. Aber der scheute sich auch nicht, schwachsinnige Texte zu grölen und dazu mit seiner blonden Neuerwerbung herumzuhopsen.

Helene blieb stehen, das Gesicht ihrem einzigen Kind zugewandt. Nach einer Minute wurde sie von Frederik bemerkt. Zuerst entgleisten seine Gesichtszüge, dann fing er sich und lächelte in ihre Richtung. Helene lächelte nicht.

Frederik tippte Blondie, die immer noch ihre Mähne schüttelte, auf die Schulter. Das musste man ihm lassen, er machte nicht den Versuch, seine Zufallsbekanntschaft zu verheimlichen.

Wie zwei Schüler, die von ihrer Lehrerin beim Abschreiben erwischt worden waren, trotteten sie zu ihr.

Frederik schaute seine Mutter treuherzig an: «Ich dachte, du bleibst in der Kabine.»

«Ich hab’s mir anders überlegt.»

«Das ist übrigens Rike.»

Helene sagte nichts und behielt ihre Hände in den Taschen der Windjacke. Die Blonde konterte mit einem giftigen Lächeln. Du kannst mich nicht einschüchtern, sollte das wohl bedeuten.

«Kann ich dich unter vier Augen sprechen, Frederik?»

«Hat das nicht Zeit bis morgen?»

«Nein.»

Helene wartete seine Reaktion nicht ab, sie wusste, dass Frederik ihr folgen würde. Über die Außentreppe stieg sie zum Sonnendeck hinauf. Hier oben unter freiem Himmel waren sie allein, der kräftige Wind hatte die übrigen Kreuzfahrtpassagiere längst auf die unteren Decks gespült. Helene fand eine windgeschützte Ecke zwischen Tages-Bar und Golfplatz.

«Was soll das?» Frederik gab seine Zurückhaltung auf und fauchte sie wütend an. «Ich bin kein Kind mehr. Ich bin erwachsen und kann tun und lassen, was ich will.»

«Natürlich kannst du vögeln, wen du willst. Von mir aus auch dieses blonde Flittchen.»

«Rede nicht so über sie.»

Helene lachte bissig. «Sonst was? Du hast sie erst vor einigen Stunden kennengelernt. War es nötig, sie gleich in deine Kabine mitzunehmen?»

«Das musst du gerade sagen.»

Diesen gehässigen Ton kannte Helene noch nicht. «Was soll das heißen?»

«Denkst du, ich habe nicht gesehen, wie du Rikes Bekannten angebaggert hast?»

Helene schnaufte vor Entrüstung. «Ich habe versucht, ein bisschen Smalltalk mit ihm zu machen. Das war alles.»

«Du hast ihn angegrapscht. Wie peinlich ist das, wenn man mit ansehen muss, wie die eigene Mutter jemanden angräbt, der so alt ist wie man selbst.»

«Dein Benehmen gefällt mir nicht, Frederik.»

«Und was hast du vor, dagegen zu unternehmen? Mich auf der nächsten Insel aussetzen, an der wir vorbeikommen?»

Helene spürte, wie ihr Magen revoltierte. Frederiks Renitenz war reines Gift für ihre gereizten Eingeweide. «Hör auf damit, Frederik. Das Einzige, um was ich dich bitte, ist, ein wenig Zurückhaltung zu üben. Ich möchte nicht vor den anderen Gästen kompromittiert werden. Also verzichte bitte darauf, dein Betthäschen zu unseren gemeinsamen Unternehmungen mitzubringen. Sie wird nicht mit uns zu Abend essen, das ist dir hoffentlich klar?»

«Das ist deine größte Sorge?», höhnte Frederik. «Von mir kompromittiert zu werden?»

«Vergiss nicht, wer die Reise bezahlt. Deine Kabine gehört zur zweithöchsten Kategorie.»

«Nein, das vergesse ich nicht, Mama. Bei dir definiert sich ja alles über Geld.»

«Im Gegensatz zu dir, wie?»

«Danke», parierte Frederik. «Immerhin benutze ich Geld nicht, um andere zu quälen. So wie du Papa gequält hast.»

«Lass deinen Vater aus dem Spiel.»

«Immer und immer wieder hast du ihm unter die Nase gerieben, dass du die Firma aufgebaut hast, dass du für den Wohlstand der Familie sorgst. Du hast ihn gedemütigt, wo du nur konntest. Selbst als es ihm gelang, mit seinen Bildern eine große Ausstellung zu organisieren, konntest du dir nicht verkneifen, ihn wissen zu lassen, dass er seinen Erfolg deinen Beziehungen zu verdanken hat.»

«Frederik …»

«Hast du vergessen, woran er gestorben ist?»

«Dein Vater ist an einem Herzinfarkt gestorben.»

«Nein, er ist daran gestorben, dass du ihm das Herz gebrochen hast.»

Den letzten Satz spuckte er ihr regelrecht ins Gesicht, bevor er sich umwandte. Für einen Moment glaubte Helene, die wehenden Haare von Rike zu sehen, als Frederik hinter dem mächtigen Schornstein verschwand. So hatte sie ihren Sohn noch nie erlebt. Sie musste sich dringend überlegen, welche Reaktion darauf angemessen war. Aber zuerst würde sie sich erholen und Kräfte sammeln. Aus dem Magen schwappte eine saure Flüssigkeit in ihren Mund. Helene unterdrückte den Impuls, die Säure auszuspucken, und schluckte sie tapfer wieder hinunter. Frederik würde sich noch wundern.