27
In London herrschte große Unruhe. Wenn schon nicht vor, so ganz gewiß nach der Gefangennahme des Hansekapitäns und seiner Besatzung, die man nach Newgate in den Kerker schaffte. Und wenn auch nicht in der ganzen Stadt, so ganz gewiß in jenem kleinen Bereich des Hafens, wo Elise Andrew Sinclair zurechtwies und ihrer Empörung über die zu ihrem angeblichen Schutz begangene Ungerechtigkeit lautstark Luft machte. »Ihr seid nicht mein Beschützer! Ihr seid ein Verleumder ehrenhafter Männer! Ich werde nicht ruhen, bis Kapitän von Reijn und seine Leute wieder auf freiem Fuß sind und Ihr Euch entschuldigt habt, das könnt Ihr mir glauben! Und wenn ich bis zur Königin gehen muß, um dieses Unrecht aus der Welt zu schaffen!«
In ungezügeltem Zorn entriss sie ihm ihren Arm, als Sinclair sie zu einem wartenden Boot geleiten wollte. »Von Euch will ich nichts außer der Freilassung von Reijns! Laßt mich in Ruhe!«
Mangels beschwichtigender Argumente blieb Sinclair nichts anderes übrig, als sie der Obhut des Bootsführers zu übergeben und peinlich berührt zu warten, bis Spence einen Seemann gefunden hatte, der Eddy und die Stute nach Bradbury bringen würde, während Fitch das Gepäck der Dame ins Boot schaffte. Die zwei Diener ließen sich hinter der aufgebrachten Elise nieder und wagten den so Gescholtenen kaum anzusehen, während sie ihren Gedanken nachhingen und überlegten, wie weit jemand wohl gehen mochte, um einen Unschuldigen in den Kerker zu bringen. Nur gut, daß Lord Seymour die Überfahrt nicht mit ihnen gemacht hatte, denn für sie stand fest, daß man ihn auf der Stelle in Ketten gelegt und ohne Verzug in den Tower gebracht hätte.
Es verging einige Zeit, bis die Segelbarke an den Uferstufen festmachte, die zum Anwesen Sir Ramsey Radbornes führten. Das Gepäck wurde ausgeladen und der Fährmann bezahlt. Dann trug man die Kisten zur Tür. Captain Sinclair hatte Elise eröffnet, daß ihr Onkel mit seiner gesamten Familie gegenwärtig das Haus bewohnte. Sie nahm diese Nachricht gelassen auf; sie war fest entschlossen, die Sache ihres Mannes rasch vor die Königin zu bringen, damit Maxims Ehre wiederhergestellt würde und er seinen Besitz wieder zugesprochen bekäme.
Beklommen näherte Elise sich dem Haus, aus dem sie einst in wilder Panik geflüchtet war. Wäre eine Audienz bei Elizabeth nicht so dringend erforderlich gewesen, sie wäre nach Bradbury Hall weitergereist, ohne sich erst im Stadthaus aufzuhalten. Fitch und Spence bedeuteten einen gewissen Schutz für sie, und sie wollte Cassandra keine Gelegenheit geben, sie wieder gewaltsam festzuhalten.
Die geräumige Halle war hell erleuchtet. Leises Gemurmel drang aus dem großen Gemach im Erdgeschoß, und einen Augenblick lang glaubte Elise, einige Worte ihres Onkels herauszuhören, doch war alles zu leise und zu undeutlich.
»Meiner Seel! Die junge Herrin ist da!« Der Ausruf kam von einer älteren Hausmagd, die am oberen Treppenabsatz innehielt.
Die Dienerschaft kam von überall herbeigelaufen und versammelte sich staunend in der Halle. Scheu blickten sie Elise an. Niemand wagte, sich ihr zu nähern. Elise, der diese Zurückhaltung zu denken gab, ging langsam durch die Halle. Das Gespräch im großen Gemach war verstummt, und jetzt fühlte sie sich von allen Seiten aufmerksam beobachtet. Schließlich war es die kleine, alte Haushälterin Clara, die gebückt auf sie zu humpelte und sie begrüßte.
Elise erwiderte ihre herzliche Begrüßung. Sie wußte nur zu gut, daß diese schmächtige Person oft Leib und Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um ihr gegen Cassandra und ihre Söhne zu helfen. »Sind mir Hörner und ein Schweif gewachsen?« fragte Elise erstaunt. »Was ist denn mit euch allen?«
»Ach, es ist Eure Tante Cassandra«, flüsterte Clara. »Sie wohnt jetzt hier mit Eurem Onkel… als seine Gemahlin.«
Bestürzt wich Elise zurück und starrte in das verhunzelte Gesicht der Alten. Edward Stamford konnte nicht so töricht gewesen sein, sich mit Cassandra zu vermählen. »Clara, sag, daß das nicht wahr ist.«
»Doch, es ist die Wahrheit«, versicherte ihr die Haushälterin. »Die beiden haben sich nach Eurer Entführung vermählt. Euer Onkel wurde bei der Königin vorstellig, um den Marquis von Bradbury der Entführung anzuklagen und auf seine Gefangennahme zu drängen. In dieser Zeit besuchte Cassandra Euren Onkel, und nachdem sie ein Auge auf seine Reichtümer geworfen hatte, dauerte es nicht lange, und die Hochzeit fand statt.«
Elise kannte die verschiedenen Gesichter Cassandras nur zu gut. Sicher war es Cassandra nicht schwer gefallen, den alten Mann mit ihrem Charme zu bezaubern. Dank ihrer Schönheit war sie sehr wohl imstande, auch Jüngere zu betören. Ein einsamer Witwer war da gewiß der letzte, der ihr allzu viel Widerstand entgegensetzte.
Elise erstarrte, als sie hinter sich ein spöttisches Lachen vernahm. Sie drehte sich um und sah sich der schlanken, wohlgeformten Gestalt ihrer Tante gegenüber, die sich im Eingang zum großen Gemach abzeichnete. Im Schatten hinter ihr bemerkte Elise die höhnischen Gesichter ihrer Söhne, darunter die zornigen dunklen Augen von Forsworth Radborne.
»Sieh an, wenn das nicht unsere kleine Elise ist«, sagte Cassandra mit sarkastischem Lächeln. »Bist du zurückgekommen, um uns mit einem Besuch zu beehren?«
Beim Anblick ihrer alten Widersacher stockte Elise der Atem, und sie hatte das Gefühl, jemand würde ihr die Kehle zudrücken. Die furchtbaren Erinnerungen an das vergangene Jahr überfielen sie, und sie erschauderte bei dem Gedanken, daß sich alles wiederholen könnte.
Cassandra, die ihre Macht über das Mädchen ebenso spürte wie das Gesinde, genoß die Situation. Es lag auf der Hand, daß das Mädchen völlig schutzlos war, denn an der Hörigkeit des Hausgesindes hatte sich nichts geändert. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie an das Versteck des Schatzes und Ramsey Radbornes Besitztümer herankam.
Elise sammelte sich und faßte den Entschluß, diese prächtig gekleidete, habgierige Frau baldmöglichst aus ihrem Haus zu vertreiben. Sich zu Fitch und Spence, die das Geschehen noch nicht ganz erfasst hatten, umwendend, winkte sie die beiden zu sich, damit sie an ihrer Seite blieben, und schickte Clara in die Küche. Für alle drei sollte ein Imbiss zubereitet werden. Unter Cassandras amüsierten Blicken befahl Elise zwei kräftigen Dienern, die Kisten in ihre Gemächer zu schaffen.
»Dort wohnt aber Mr. Forsworth«, platzte ein junges Hausmädchen heraus, als ob dadurch die Anordnung hinfällig würde.
Elise bedachte die junge Schöne mit einem fragenden Blick und spürte gleich, daß das junge Ding guten Grund hatte, Forsworths Schlafgemach zu kennen. So wie sie ihren Vetter einschätzte, hatte er es verstanden, sich das Mädchen gefügig zu machen. »Dann zieh sein Bett ab, und packe seine Sachen zusammen«, wies sie das Mädchen an.
»Aber… aber… wohin soll ich sie bringen?« stammelte die Kleine mit einem hilfesuchenden Blick zu Forsworth hin. Da sie erst seit kurzem im Haus war, wußte sie noch nicht, welche Autorität Elise hier zukam.
»Zunächst muß das Zeug aus meinen Räumen«, sagte Elise kurz angebunden, »nachher können wir uns den Kopf zerbrechen, wohin damit.«
Cassandra lachte höhnisch auf. »Wer bist du denn, daß du verfügst, wohin mein Sohn zieht?«
Elise hielt ihrem herausfordernden Blick stand und antwortete ganz ruhig: »Cassandra, du magst meine Ansprüche leugnen, aber ich bin noch immer die einzige Herrin dieses Hauses. Daher wird meinen Anweisungen Folge geleistet. Ich brauche deine Erlaubnis nicht.« Dann wandte sie sich zu dem Mädchen und sagte barsch: »Lauf und tu, was ich dir aufgetragen habe. Sofort!«
Das Mädchen knickste andeutungsweise und lief davon, worauf auch die übrige Dienerschaft sich zerstreute. Sie sahen eine Auseinandersetzung zwischen der Herrin und ihrer Tante heraufziehen und wollten sich vorher aus dem Staub machen.
Kühl wandte Elise sich Cassandra in Erwartung eines Wortwechsels zu, doch diese machte eben Edward Platz, der durch die Tür schlurfte. Elise war schockiert. Sie konnte es kaum fassen, daß der ausgemergelte Alte mit dem struppigen Haar, der nun auf sie zukam, der beleibte, vor Gesundheit strotzende Mann sein sollte, den sie ihr Leben lang gekannt hatte. Die Veränderung, die er in ihrer Abwesenheit durchgemacht hatte, war geradezu gespenstisch.
»Onkel Edward?« Sie faßte nach seiner knochigen Hand und drückte sie. Wortlos starrte sie in sein Gesicht. Verschwunden die kräftigen Backen und straffen Züge der letzten Jahre. Seine glanzlosen Augen lagen in tiefen Höhlen, umschattet von bläulichen Ringen in scharfem Kontrast zur teigig-weißen Haut.
»Elise, mein Mädchen…« Sein mühsamer Versuch zu lächeln offenbarte seine Gebrechlichkeit. »Ich bin so froh, dich wieder zu sehen. Arabella brauchte deine Gesellschaft. Sie ist jetzt Witwe…«
Diese Eröffnung versetzte Elise einen neuen Schlag. Von Mitleid erfüllt, umarmte sie ihren Onkel, der gerührt ein Schluchzen unterdrückte. Auch die kleinsten Zeichen von Zuneigung waren für ihn eine Seltenheit geworden, was ihn besonders demütigte.
»Onkel Edward, es tut mir ja so leid«, flüsterte Elise fassungslos. »Das wußte ich nicht. Arme Arabella… sie muß untröstlich sein.«
Edward, um Fassung ringend, berichtete nun, was vorgefallen war. »Vor etwa einem Monat fand man Reland nach einem Ausritt tot im Fluss. Sicher hat sein Pferd gescheut und ihn abgeworfen. Er muß mit dem Kopf hart aufgeschlagen sein, weil er ertrank, ehe er zu sich kam.«
»Wo ist Arabella? Ich würde sie gern sprechen«, sagte Elise und ließ den Blick durch die Halle schweifen.
»Sie ist auf Besuch bei einer Freundin«, antwortete Cassandra vom Eingang her. »Sie wird sicher später kommen – sie klatscht zu gern mit ihrer Freundin.«
Edwards Miene verzerrte sich, als ihn ein Krampf überfiel. Er hielt sich den Bauch, Schweiß trat ihm auf die Stirn. Elise nahm seinen Arm, um ihn zu einem Sessel zu führen, aber er lehnte kopfschüttelnd ihre Hilfe ab, und gleich darauf war der Schmerz vorbei. Mühsam richtete er sich auf. »Ich gehe jetzt hinauf ins Bett. In letzter Zeit fühle ich mich gar nicht gut und bin sehr müde.«
»Onkel… ich muß dich etwas fragen…« Elise sah Edward in die glasigen Augen und hatte beinahe Angst, diese Frage zu stellen, da in ihr ein furchtbarer Verdacht aufstieg… »Woran leidest du? Als ich dich zuletzt sah, warst du gesund und wohlauf. Was sagen die Ärzte?«
»Ach die!« winkte Edward müde ab. »Die kratzen sich bloß die Köpfe. Dieser bohrende Schmerz… er fing wenige Wochen nach deiner Entführung an. Meine liebe Cassandra pflegt mich, seitdem es mir so elend geht. Die Ärzte gaben mir ein widerliches Gesöff, und meine liebe Frau versichert mir, daß es hilft… aber ich werde immer schwächer…« Damit schlurfte er davon.
»Armes Kind, für dich muß es eine böse Überraschung sein, daß es mit Edward so bergab gegangen ist«, bemerkte Cassandra und ging auf Elise zu. Als sie ihr die Wange tätscheln wollte, wich ihre Nichte angewidert zurück, was Cassandra lächelnd überging, um mit übertriebener Besorgtheit fortzufahren: »Wir alle sind seinetwegen in großer Sorge.« Sie warf einen Blick über die Schulter, um sich der Zustimmung ihrer Söhne zu versichern. »Wir haben unser Bestes getan, um ihm zu helfen.«
»Ja, unser Bestes«, bestätigte Forsworth und grinste. »Niemand kann uns einen Vorwurf machen.«
Cassandra zog gleichmütig die Schultern hoch. »Er wird das Jahr nicht überleben.«
»Sicher hast du für den Fall seines Ablebens bereits Vorkehrungen getroffen«, gab Elise giftig zurück.
Wieder umspielte ein selbstzufriedenes Lächeln ihre Lippen. »Natürlich. Am Tag unserer Hochzeit unterschrieb Edward einen Ehevertrag. Er verpflichtete sich, alle meine Schulden zu zahlen und mir im Falle seines Todes sein gesamtes Vermögen zu vermachen. Sollte er von uns gehen, der Ärmste, dann werde ich eine reiche Frau sein.« Cassandra warf den Kopf zurück und musterte ihre Nichte. »Mir scheint, liebe Elise, du hast dich verändert. Ich muß sogar zugeben, daß du schöner geworden bist. Oder vielleicht nur reifer.«
»Hoffentlich bin ich jetzt eher imstande, dich zu durchschauen, Cassandra«, gab Elise schlagfertig zurück.
Als hätte sie diese Bemerkung überhört, fuhr Cassandra fort: »Über diesen ruchlosen Schurken Seymour waren so wilde Gerüchte im Umlauf, daß die Hoffnung, er möge dir nichts angetan haben, wahrscheinlich vergeblich ist. Im Gegenteil, ich glaube fast, daß er deine Gefangenschaft ausgenützt hat.« Als Cassandra Elises Erröten bemerkte, schlug sie weiter in diese Kerbe. »Ein so betont männlicher Mann wie er und ein junges Mädchen… Einfach unvorstellbar, daß nichts passiert sein soll.«
Elise hatte sich rasch gefaßt. »Ich wußte nicht, daß du dich in denselben Kreisen bewegst wie Lord Seymour und zu wissen meinst, wie er wirklich ist. Soviel ich weiß, war er in der Wahl seiner Gefährten und Freunde immer heikel und hat sich nie mit Dieben und Mördern abgegeben.«
»Hört! Hört! Der Mann hätte schon längst wegen seiner Verbrechen hängen sollen«, erwiderte Cassandra unbeirrt. »Ich bin sicher, daß die Königin eine Belohnung auf seinen Kopf aussetzen wird. Sei ganz beruhigt, meine Liebe, er wird hängen.«
»Unter Lord Seymours Schutz wurde mir jedenfalls größte Fürsorge zuteil«, konterte Elise. »Im Gegensatz dazu denke ich höchst ungern an eine Zeit in diesem Haus zurück, als ich guten Grund hatte, um mein Leben zu fürchten.«
»Elise, da hättest du eben dein Gesinde wirklich strenger behandeln sollen«, sagte Cassandra. »Ihr fortgesetztes Ungeschick könnte jeden zu Tod erschrecken.«
Elise hatte längst gelernt, daß es zwecklos war, sich mit dieser Frau anzulegen. Cassandra besaß das Talent, jedes Wort zu ihren Gunsten zu wenden. Sie mußte anders vorgehen. Plötzlich wandte sie sich abrupt an ihre Diener und sagte laut: »Bewaffnet euch mit allem, was dazu taugt, und bewacht mich, solange diese Frau und ihre Söhne in meinem Haus sind.«
»Du sprichst von deinem Haus?« flötete Cassandra. »Meine liebe Elise, muß ich dich eigens daran erinnern, daß du als weibliche Nachkommin den Besitz deines Vaters nicht ohne ausdrückliches Dekret der Königin erben kannst? Und ein solches Dokument, das dir ein Recht über seinen Besitz einräumt, gibt es nicht. Daher sind meine Söhne die einzigen rechtmäßigen Erben von Besitz und Vermögen der Radbornes. Was du hier siehst, steht ihnen zu. Meine Liebe, so wie ich die Lage einschätze, bist du eine Bettlerin… ohne Dach über dem Kopf, ohne Besitz, auf den du Anspruch erheben könntest.«
Elises Lippen verzogen sich zur Andeutung eines Lächelns, als sie in den Beutel griff, den sie an ihrem Gürtel trug. Sie holte den Ring ihres Vaters hervor und hielt ihn Cassandra hin. »Erkennst du das?« Sie wartete, bis die Frau zögernd nickte, und eröffnete dann ein Spiel, von dem sie sicher war, daß es enthüllen würde, was ihre Tante von der Entführung ihres Vaters wußte. »Dann weißt du, daß mein Vater niemals ohne diesen Ring gesehen wurde?« Cassandra nickte, und Elise fuhr fort: »Diesen Ring kannst du als Beweis dafür ansehen, daß ich weiß, wo sich mein Vater befindet. Mein Vater ist am Leben!« Über das schöne, wenn auch nicht mehr ganz junge Gesicht ihrer Tante huschte ein Ausdruck der Verwirrung. Elise sah dies als Zeichen, daß Cassandra zumindest an seiner Entführung unschuldig war. »Und du kannst ganz sicher sein, daß er es nicht dulden wird, wenn du oder deine Söhne sich sein Eigentum aneignen wollen. Daher schlage ich vor, du suchst dir eine andere Bleibe… so rasch wie möglich.«
»Das ist nur eine List!« erklärte Forsworth und trat mit finsterem Blick vor. »Sie lügt! Andernfalls wäre Onkel Ramsey gemeinsam mit ihr hier!«
Elise forderte ihn mit überlegenem Lächeln heraus. »Forsworth, du warst immer schon schwer von Begriff. Warum wartest du nicht, bis mein Vater kommt? Sicher wird er dir die Prügel verpassen, die du verdienst.«
In seinen dunklen Augen blitzte es zornig auf. »Du verlogene Schlampe! Du verschwindest einfach irgendwo ins Ausland und gibst dich dem wollüstigen Vergnügen eines Hochverräters hin. Immer schon wolltest du einen Mann mit Titel. Jetzt hast du dich selbst übertroffen. Man bedenke: ein Verräter an der Krone! Kein geringerer als ein Marquis! Mittlerweile trägst du vermutlich schon seinen Bankert aus.«
Elises Schlag traf ihn unvorbereitet, und Forsworth sah momentan nur Nebel vor den Augen. Benommen schüttelte er den Kopf, doch bevor er gegen das Mädchen ausholen konnte, sah er sich unvermittelt Spence gegenüber, der seine massige Gestalt zwischen die beiden gedrängt hatte.
»Ihr werdet sie nicht anrühren.« Spence sagte es ganz ruhig. »Sonst werdet Ihr es bereuen.«
»Du wagst es, mir zu drohen!« brüllte Forsworth los, aufgebracht, daß ein einfacher Diener sich einzumischen wagte. »Aus dem Weg!«
Spence schüttelte den Kopf. »Mein Herr sagte, ich solle die Lady beschützen, und wenn es mich mein Leben kostet. Ihr werdet ihr nichts tun, solange ich da bin.« Spence stieß ihm mit dem Finger gegen die Brust, so daß er rücklings ins Taumeln geriet.
»Du…!« zischte Forsworth und sagte drohend zu Elise: »Du wirst schon noch kriegen, was dir gebührt.«
»Ach, wie tapfer du bist, wenn du es mit Frauen zu tun hast!« spottete Elise, Cassandras übertrieben süßen Ton nachahmend. »Hör gut zu… ich werde mir von dir nichts mehr gefallen lassen. Das ist mein Vaterhaus, und ich möchte, daß ihr alle verschwindet! Unverzüglich!«
Wieder wollte Forsworth mit geballter Faust auf Elise losgehen, doch Spence hielt ihn am Handgelenk fest. Nicht genug, daß ihm der eine Diener Paroli geboten hatte, jetzt machte sich, einen Schritt hinter dem Großen, auch der andere bemerkbar.
»Wenn meine Herrin sagt, Ihr sollt Euch trollen, dann solltet Ihr das beherzigen«, forderte nun Spence den hitzigen Forsworth auf. Als sich seine Brüder auf ihn stürzen wollten, griff er schnell nach der Pistole, die Fitch ihm zusteckte. Diesem war es vor dem Verlassen des Schiffes gelungen, sich unbemerkt zwei Pistolen anzueignen, für den Fall, daß es Schwierigkeiten geben sollte. Und diese waren früher eingetreten als erwartet. Spence richtete die Pistole auf die drei Brüder. »Wer einen Schritt tut, den durchlöchere ich«, warnte er. »Wen ich treffe, ist mir einerlei.«
Cassandra wollte auf die beiden zugehen, doch Spence hatte sie ebenso im Auge wie ihre Söhne. »Mylady, bleibt, wo Ihr seid. Ich möchte die Teppiche meiner Herrin nicht mit Blut beflecken.«
»Das ist die Höhe!« stieß Cassandra wütend hervor, sich an Elise wendend. »Ich bin deine Tante, und du läßt zu, daß mich dieser Tölpel bedroht?«
Ein leeres Lächeln umspielte Elises reizvollen Mund. »Ich kann mich an eine Zeit erinnern, da gabst du deinen Söhnen den Befehl, mich zu schikanieren. Ich ermächtige diese Männer zu tun, was sie tun müssen, um mich vor dir und deinen Söhnen zu schützen. Ich weiß nicht, wie du meinen Onkel herumgekriegt hast, damit er dich zur Frau nahm, doch ist offensichtlich seine Gesundheit in ernster Gefahr… und ich muß das Schlimmste befürchten. Ich erinnere mich: Vor langer Zeit, als ich noch ein Kind war, da brabbelte eine Frau aus der Dienerschaft, hochbetagt und angeblich wirr im Kopf, ununterbrochen, sie habe beobachtet, wie du erst meine Mutter und dann deinen Mann vergiftet hast.« Elise bemerkte sehr wohl, wie ihre Tante zusammenzuckte. »Und jetzt scheint Edward an deiner Pflege zugrunde zu gehen. Ich werde dafür sorgen, daß du für deine Untaten vor Gericht gestellt wirst.«
Cassandra richtete sich mit angeschlagenem Stolz auf. »Ich bleibe keine Sekunde länger in diesem Haus und lasse mir diese schäbigen Beschuldigungen nicht gefallen!«
»Ja, sieh zu, daß du dich sputest«, spottete Elise. »Laufe um dein Leben, denn ich werde dich mit Bluthunden hetzen! Geh! Verlasse auf der Stelle mein Haus!«
Wie benommen tat Cassandra ein paar Schritte und gab dann ihren Söhnen mit einem matten Kopfnicken zu verstehen, sie sollten ihr folgen. Aller Hochmut war von ihr abgefallen. Sie hatte es plötzlich eilig, dieser rachedurstigen Furie zu entkommen, die zu einer gefährlichen Gegnerin geworden war.
Lautstark und unter viel Aufhebens warfen Cassandra und ihre Söhne ihre Habseligkeiten in Truhen und schleppten mit, was sie befördern konnten. Stille senkte sich über das Haus, und erst jetzt wagten sich die Bediensteten hervor, um ihre Herrin gebührend willkommen zu heißen. Erleichtert machten sie sich daran, Elises Räume herzurichten und ihre Sachen auszupacken.
Körperlich und seelisch erschöpft, hatte Elise nicht mehr die Kraft, in die Halle zu gehen und etwas zu sich zu nehmen. Sie ging sofort hinauf in ihre Gemächer, wo sie sich ermattet aufs Bett fallen ließ. Als Clara ihr etwas zu essen brachte und ihr beim Auskleiden half, brachte sie nur noch ein paar gemurmelte Worte über die Lippen, ehe sie mit einem tiefen Seufzer im Bett die ersehnte Ruhe fand. Träume von Maxim stellten sich ein und wiegten sie in den Schlaf.
Viel später, schon während der frühen Morgenstunden, wachte Elise plötzlich auf. Irgendein Geräusch hatte sie geweckt. Elise schlüpfte in ihren Morgenrock und ging leise den Gang entlang zu den Gemächern, die Arabella bewohnte. Ein leises Klopfen blieb unbeantwortet, und Elise trat ein. Das Mondlicht fiel durch die Spitzengardinen ein und erhellte einen Boden, der mit Kleidungsstücken übersät war. Nahe der Tür lag ein nobles Satinkleid, daneben Unterröcke und ein Reifrock. Neben dem Bett sah sie einen weißen Barchent und Seidenstrümpfe. Die Bettdecke war zurückgeschlagen, das Bett zerwühlt. Jedes der beiden Kissen hatte einen Kopfabdruck, und Elise ahnte, daß derjenige, der hier geschlafen hatte, nicht allein gewesen war.
Nachdenklich schlich Elise zurück in ihr Zimmer, wo sie wieder zu Bett gehen wollte, als ein leises Gewieher sie innehalten ließ. Im Hof unten sah sie im Mondlicht Arabella in einem durchsichtigen Hauskleid neben einem Pferd, in dessen Sattel ein Mann saß. Er war in einen Umhang gehüllt, dessen Kapuze seine Züge verbarg. Er beugte sich zu Arabella hinab, und das Paar tauschte einen langen Kuß. Als der Mann sich wieder aufrichtete, glitt der Saum seines Umhangs nach unten. Irgendwie erinnerte er sie an Forsworth. Der Mann strich noch einmal liebkosend über Arabellas Wange, ehe er seinem Pferd die Sporen gab und davonsprengte.
Vorsichtig drückte Elise sich in die Dunkelheit, als Arabella sich umwandte und auf die Treppe zuging. Regungslos verharrte sie, als ihre Kusine die Stufen heraufkam. Erst als die Tür sich hinter Arabella geschlossen hatte, atmete Elise erleichtert auf.
Elise war fassungslos vor Staunen, als Arabella am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam und die trauernde Witwe spielte. Zugegeben, Arabella sah so aus, denn ihre Augen waren rot gerändert und von dunklen Ringen umgeben, die Wangen bleich und eingefallen. Nach der nächtlichen Szene im Hof konnte Elise sich indessen nur wundern, warum Arabella sich die Mühe machte, diese Rolle zu spielen. Noch erstaunter war sie, als Arabella ihr um den Hals fiel, sich an ihrer Schulter ausweinte und den Verlust Relands beklagte.
»Habe ich nicht immer gesagt, daß ein Fluch auf mir liegt?« stieß sie schluchzend hervor. »Ich sage dir, ich bin vom Unheil verfolgt.«
Nachdenklich strich Elise ihr über den Rücken, ratlos, wie sie auf all das reagieren sollte. »Reland unternahm einen Ausritt, wie ich hörte«, murmelte sie. »War er allein?«
Arabella führte ein Taschentuch an ihre Nase. »Wir ritten zusammen, doch er galoppierte davon wie gewohnt, und ich mußte allein nach Hause reiten.«
»Wo ist es passiert?«
»In der Nähe von Bradbury.«
»Vor einem Monat?«
Arabella nickte, die Hand auf die Brust gedrückt, und der Kummer drohte sie wieder zu überwältigen. Dabei wurde Elises Aufmerksamkeit auf ein Halsband gelenkt, das Arabella trug – ein Irrtum war ausgeschlossen! Als ihre Kusine ihren Blick bemerkte, nahm sie schniefend das juwelenbesetzte Geschmeide ab. »Es hat mich so sehr an dich erinnert, Elise, ich mußte es tragen.« Sie legte es unter Tränen und Schluchzen ihrer jüngeren Kusine um den Hals. »Als ich am Abend meiner Hochzeit das Brautgemach betrat, fand ich die Kette zerrissen und die Perlen über den Boden verstreut vor. Ich war zu Tode erschrocken, als ich entdeckte, daß man dich entführt hatte; deswegen ließ ich die Kette wieder fassen und habe sie seither zur Erinnerung an dich getragen.«
»Ich danke dir für deine Mühe.«
Wieder brach Arabella in Tränen aus, und ihr Schluchzen nahm kein Ende, so daß Elise fast verzweifelte und gar nicht zum Frühstücken kam.
Schließlich wischte sich Arabella die Tränen ab. »Schrecklich muß es für dich gewesen sein. Einfach so mit Gewalt entführt zu werden. Alle Welt fragt sich nun, was passiert ist.«
»Ach, eigentlich war es wunderbar… und sehr romantisch«, versicherte Elise ihr mit einem boshaften kleinen Lächeln.
Arabella empfand einen Anflug von Eifersucht, als sie Elises entrückten Blick sah. »Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wen Maxims Leute eigentlich entführen sollten… und da du aus meinen Räumen entführt wurdest, bin ich zu dem Schluß gekommen, daß sie uns verwechselten. Ist das richtig?«
Elise nickte. »Seine Diener irrten sich.«
»Natürlich, ich dachte es mir. Maxim war so verliebt in mich, daß er zurückkam und mich holen wollte. Seine Enttäuschung muß sehr groß gewesen sein, als er entdeckte, daß anstatt seiner geliebten Braut ein anderes Mädchen entführt worden war.« Arabella seufzte, als könnte sie seinen Schmerz nachempfinden. »Wie ich ihn kenne, muß er außer sich gewesen sein vor Zorn.«
Nicht imstande, diese Bemerkungen zu widerlegen, wandte Elise ihr Gesicht ab, um einen Schmerz zu verbergen, über den sie nicht sprechen konnte. Arabellas Worte hatten sie an einer empfindlichen Stelle getroffen.
»Sicher plant Maxim seine Rückkehr, um den Irrtum wiedergutzumachen.« Arabellas graue Augen erfassten das feine Profil Elises, die den Blick gesenkt hielt. »Sagte er, wann er kommen will?«
»Maxim wurde als Verräter gebrandmarkt«, rief Elise ihrer Kusine in Erinnerung. »Kommt er zurück, droht ihm seine Exekution, falls ihn die Königin nicht begnadigt.«
»Und wenn dies geschieht, dann werde ich seinen Antrag annehmen«, murmelte Arabella mit einem Lächeln, aus dem die Vorfreude allzu deutlich sprach.
Elise war nahe daran, ihr alles zu sagen, doch sie hielt sich, plötzlich unsicher, zurück. Ihr verletzter Stolz ließ es nicht zu, Rechte auf Maxim geltend zu machen, ohne die Sicherheit zu haben, daß es in seinem Sinne war. Kehrte er zurück und sah er Arabella wieder, dann erwachte womöglich seine Liebe zu ihr von neuem, und er bereute das Ehegelübde, das er ihr in Lübeck gegeben hatte.
»Falls Maxim noch lebt, plant er, nach England zu kommen«, sagte Elise ganz leise.
Arabella drückte die Hand an den Hals. »Ist er denn in Gefahr?«
»Wann war er nicht in Gefahr?« entgegnete Elise.
»Sag mir, daß er in Sicherheit ist!« flüsterte Arabella. »Er muß in Sicherheit sein.«
Elise rang sich ein trauriges Lächeln ab. »Arabella, ich kann dir gar nichts versichern, am allerwenigsten, daß er in Sicherheit ist.«