21

Die Sonne ging im Westen an einem stumpfgrauen Abendhimmel unter, vor dem sich die Umrisse der hohen Türme und Spitzgiebel abzeichneten. Windstöße aus dem Norden führten so bittere Kälte heran, daß der Rest an Wärme, die der Tag gebracht hatte, rasch verflog. Schneefall setzte ein.

Elise trat von dem Fenster in ihrer Kammer zurück. Sofort fror der Kreis auf der Scheibe, den sie blank gewischt hatte, wieder zu. Das Dachgebälk ächzte unter dem anschwellenden Wind.

Elise seufzte bekümmert und begann, in ihrer engen Kammer auf und ab zu gehen. Die Bemerkungen, die Nikolaus über Hillert gemacht hatte, ängstigten sie. Hillert war zweifellos ein Mann, in dessen Macht es stand, mit Maxim auf beliebige Weise zu verfahren. Wenn er nur endlich käme! Aber auch dann war noch die Sache mit Nikolaus zu bereinigen. Sie war entschlossen, ihm die Wahrheit selbst zu sagen, bislang aber hatte sie keine Möglichkeit gehabt, denn Nikolaus hatte es vermieden, nach Hause zu kommen.

Plötzlich klirrte es auf dem Dach, und kurz darauf kam ein splitterndes Geräusch von der Straße unten. Ein neuer Windstoß erschütterte das Haus. Erschrocken flüchtete Elise nach unten, wo sie Nikolaus' Mutter und Katarina über eine Stickerei gebeugt antraf. Justin kam kurz nach ihr in die Stube.

»Der Wind muß einen Ziegel vom Dach gerissen haben«, sagte er. Er drückte das Gesicht an eine Scheibe und spähte angestrengt durch die blankgeriebene Stelle hinaus, als ein undeutlicher Schatten sich dem Haus näherte. Der Mann kämpfte gegen den Sturm, während er rutschend und balancierend auf die Haustür zuhielt.

»Da kommt jemand«, rief Justin aufgeregt. »Ein Fremder.«

Wieder seufzte Elise auf und warf einen Blick zur Tischuhr hin. Es war kurz vor acht. Maxim hätte längst zurück sein müssen.

»Öffne die Tür, Justin, ehe der Ärmste erfriert«, wies Thérèse ihn an.

Justin lief in den Vorraum an die Tür und riß sie just in dem Moment auf, als der Fremde anklopfen wollte. Erschrocken starrte er den Jungen an, die Faust erhoben; dann schob er die schneebedeckte Kapuze zurück und räusperte sich verlegen.

»Mein Name ist Sheffield Thomas«, stieß er bibbernd vor Kälte hervor. »Ich bin gekommen, um Mistreß Elise Radborne in einer bestimmten Angelegenheit zu sprechen. Lord Seymour ließ mich wissen, er habe bei Hillert etwas Wichtiges zu erledigen. Anschließend wollte er sich mit mir in meiner Herberge treffen. Da er nicht erschien, dachte ich, daß er vielleicht hier ist.«

»Lord Seymour ist nicht da, aber Mistreß Radborne. Wollt Ihr nicht eintreten und Euch am Feuer aufwärmen, während ich sie hole?« Der Mann, dem Justin den Mantel abnahm, trat ein und ließ sich in einen kleinen Empfangsraum führen, in dem ein Feuer brannte. Kurze Zeit später führte Justin Elise herein.

»Darf ich Euch mit Mistreß Radborne bekannt machen?« sagte Justin.

Der nicht mehr junge, glatzköpfige Mann machte eine steife Verbeugung. »Es ist mir ein Vergnügen.«

»Ihr habt für mich eine Nachricht?« fragte Elise leise. Ihre Stimme rief in ihm die Erinnerung an England wach. »Ja, Lord Seymour bat mich, Euch von einem Vorfall zu berichten, den ich vor Monaten beobachtet habe. Wie ich hörte, ist Lord Seymour nicht da.«

»Er wurde aufgehalten«, murmelte Elise und versuchte ihre Angst zu unterdrücken. Dieser Fremde brachte ihr vielleicht Nachricht von ihrem Vater, oder er konnte ihr sagen, wo sich ihr Vater aufhielt.

Justin schloß die Tür und forderte den Mann auf, sich zu setzen. »Mistreß Radborne hat mich eben gebeten, ich solle als Zeuge zugegen sein. Ist Euch das recht?«

»Aber gewiß.« Sheffield lehnte es ab, den angebotenen Stuhl zu benutzen, und ging näher ans Feuer, um seine Hände zu wärmen. »Ich bin Engländer und Kaufmann. Vor einiger Zeit lief ich mit meinem Schiff Bremen an und reiste dann weiter nach Nürnberg und zur Messe nach Leipzig, weil ich ausländische Waren kaufen wollte. Hillert lud mich nach Lübeck ein. Ich sollte mir vor der Rückkehr nach England seine kostbaren Lagerbestände ansehen. So kam ich vor etwas mehr als vier Monaten nach Lübeck, um mit ihm Handelsbeziehungen zu knüpfen. Ich führte reiche Ladung mit und besaß Schätze, um die Könige mit mir gefeilscht hätten. Ich war überzeugt, Hillert und ich würden gut ins Geschäft kommen, aber leider brannte mein Schiff ab. Es war in der Nacht, nachdem ich ein paar Warenmuster mitgenommen hatte, die ich Hillert zeigen wollte.« Die Erinnerung stimmte ihn merklich traurig. »Ich verlor den Kapitän und ein ganzes Dutzend Seeleute, die das Schiff bewachen sollten; am nächsten Morgen ragten nur mehr die versengten Reste eines Mastes aus dem Wasser. Der Hafenmeister mußte das Schiff herausziehen und mit Enterhaken auseinander reißen.« Verbittert fuhr er fort: »Aber das waren nicht die Reste meines Schiffs. Und nicht ein einziges Stück meiner kostbaren Ladung war unter den verkohlten Bruchstücken auszumachen. Es war, als hätten die Schurken mein Schiff entführt und einen leeren, alten Kahn verbrannt.«

Gedankenverloren starrte Sheffield ins Feuer. »Am nächsten Morgen«, sagte er nach einer Pause, »wurde der Rest der Besatzung in einer Schenke stockbetrunken entdeckt. Keiner hatte von den Ereignissen der Nacht etwas mitbekommen, obwohl sich diese Burschen sonst kaum unter den Tisch trinken ließen. Und als ich den Bürgermeister von Lübeck zur Rede stellte, brachte er nur ein paar flüchtige Entschuldigungen hervor. Er behauptete, er würde sich der Sache annehmen, bis jetzt aber habe ich weder von meinem Schiff noch von der Besatzung etwas zu sehen bekommen.« Sheffields Geschichte fesselte die Zuhörer ungemein. »Inzwischen habe ich die deutsche Sprache einigermaßen gelernt und da und dort erfahren, daß englische Seeleute in Ketten auf Hillerts Schiffe geschafft wurden.« Sein Blick schien in die Ferne zu schweifen. »Aber wenn ich versuchte, weitere Fragen zu stellen, dann wich man mir aus.«

»Master Thomas, es tut mir leid, daß Ihr einen so großen Verlust erlitten habt«, sagte Elise. »Aber was hat dies mit meinem Vater zu tun?«

»Tja… also… vor einigen Monaten, da kam ich auf die Idee, Hillerts Schiffe zu beobachten, beim Einlaufen oder beim Beladen… weil ich hoffte, zufällig ein Stück meiner verschwundenen Waren zu entdecken. Dabei wurde ich Zeuge einer sonderbaren Szene, und ich dachte zuerst, einer von meinen eigenen Leuten sei darin verwickelt. Hillerts großes Schiff ›Grauer Falke‹ war eben aus London eingelaufen«, berichtete er weiter. »Aus sicherer Entfernung beobachtete ich, daß ein Mann, den man in schwere Ketten gelegt hatte, vom Schiff gebracht wurde.«

»Und dieser Mann war Engländer?« fragte Elise.

»Das war er.«

»Woher wollt Ihr das wissen?« fragte nun Justin.

»Später kehrte ich in einer Schenke ein und erkannte einen der Bewacher. Dem zahlte ich ein paar Bierchen und fragte ihn dann über den Mann aus. ›Ich hörte, daß ihr eine Meuterei hattet‹, sagte ich zu ihm, worauf der Kerl mich fast mit den Blicken durchbohrte. ›Die ganze Stadt schwirrt von Gerüchten‹, sagte ich weiter. ›Und ich hörte, daß ihr einen der Meuterer mitgebracht habt, damit er gehängt wird…‹, schwindelte ich. ›Da habt Ihr was Falsches gehört‹, zischte der andere. ›Auf Hanseschiffen gibt es keine Meuterei, niemals. Wir schafften nur einen englischen Tölpel an Land, den Hillert beim Spionieren in den Stilliards ertappt hat.‹ ›Ihr werdet noch Drake und seine Leute auf den Hals kriegen, wenn ihr Engländer aus ihrem Land entführt‹, sagte ich. ›Ach was‹, höhnte der Mann. ›Die merken ja doch nie, daß er weg ist.‹ Mehr wollte der Mann nicht sagen und verdrückte sich.«

Elise war auf die Kante ihres Stuhls vorgerutscht. »Was ist Euch an dem Gefesselten aufgefallen? War er groß? Schlank? Dunkelhaarig? Hatte er ebenmäßige Züge?« Dies alles konnte Sheffield bejahen, und Elise begann Hoffnung zu schöpfen. »Sagt mir, habt Ihr zufällig gesehen, ob der Mann einen auffallenden Ring mit einem Onyx trug?«

Sheffield überlegte und schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht sagen. Er hielt die gefesselten Hände vor sich, und soweit ich mich erinnere, trug er gar keinen Ring.«

Elise wurde wieder unsicher. Der Ring wäre ein sicheres Erkennungsmerkmal gewesen.

»Gewiß hat man ihm den Ring abgenommen«, brachte Justin vor.

»Natürlich, so ist es«, stimmte Sheffield zu.

»Falls mein Vater wirklich dort ist… und noch lebt« – Elise sprach die Worte ganz langsam aus, als müßte sie gegen die übermächtigen Zweifel ankämpfen –, »dann ist sein wahrscheinlicher Aufenthaltsort ein Verlies der Hanse.«

»Nikolaus könnte ihn vielleicht finden«, meinte Justin.

In ihre blauen Augen trat ein wachsamer Zug. Maxim hatte sie davor gewarnt, Nikolaus in die Affäre hineinzuziehen, und sie mußte sehr vorsichtig sein, damit Justin nichts in dieser Richtung unternahm.

»Könnt Ihr mir sonst noch etwas sagen, Master Thomas?«

»Nein.« Sheffield schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte Euch mehr Grund zur Hoffnung geben, denn was ich Euch sagen konnte, ist herzlich wenig.«

Elise faßte in eine Falte des Kleides und holte einen Sovereign hervor. »Da, nehmt«, forderte sie Sheffield auf. »Für die Zeit und Mühe, die es Euch kostete. Und weil Ihr Euch an diesem eisigen Abend aus dem Haus gewagt habt.«

»Nein, nein, Mistreß. Ihr wollt mich beschämen«, wehrte Sheffield heftig ab, »es wäre nicht recht, wenn ich Geld nähme. Was ich Euch geben konnte, war nur ein schwacher Hoffnungsschimmer. Dafür durfte ich mich an Eurem Feuer wärmen und eine Stimme aus der Heimat hören. Ich wünsche Euch einen guten Abend, Euch, Mistreß, und Euch, Sir. Nun muß ich mich auf den Weg machen.«

Justin brachte den Mann an die Haustür, und als er wiederkam, blieb er an den Rahmen der Zimmertür gelehnt stehen. Elise starrte ins Feuer. Er sah ihr an, daß sie gegen eine Flut von Hilflosigkeit und Zweifeln ankämpfte.

»Elise, was überlegt Ihr?« fragte er leise.

Elise blickte zu ihm auf und sah zum ersten Mal hinter der Fassade des Knabengesichts den besorgten jungen Mann. »Es gibt Augenblicke, lieber Justin, da muß eine Frau ihre Gedanken und Überlegungen für sich behalten«, lächelte sie schwach.

Justin sah, wie sie sich abwandte. Ihre Unrast schien gebannt, als sie die Hände im Schoß faltete. Beide hingen ihren Gedanken nach.

Hillert hatte durch die Hanse zweifellos die Würdenträger der Stadt Lübeck in der Hand. Also war es zwecklos, sich durch die Behörden der Stadt Gerechtigkeit verschaffen zu wollen. Justin wußte das schon seit langem. Um so stärker wuchs in ihm Tag für Tag das Verlangen, Hillert die Klinge ans Herz zu setzen, denn die Hoffnung, Hillerts Kopf in der Schlinge oder auf dem Richtblock zu sehen, hatte er längst aufgegeben.

Elise schreckte aus ihren Gedanken hoch und betrachtete Justin verstohlen. Wie er so vor dem Kamin stand, die Hände im Rücken verschränkt, konnte sie keine Ähnlichkeit mit dem stets gut gelaunten und zu Scherzen aufgelegten jungen Mann entdecken, als den sie ihn kennen gelernt hatte. Sie konnte sich des Verdachts nicht erwehren, daß Justins Auftreten als unbeschwerter Jüngling eine Verstellung war; dadurch hatte er sicher seine Vorgesetzten getäuscht, so daß ihm ungehindert überall Zutritt gewährt wurde. Er wußte erstaunlich viel über die Hanse, zumindest was Lübeck und Hillert betraf, ganz gewiß mehr, als ein flüchtiges Interesse vermuten ließ.

»Was meint Ihr, aus welchem Grund Maxim sich mit Hillert trifft? Ob er ihm Fragen nach Eurem Vater stellt?« fragte Justin plötzlich.

Elise begegnete seinem Blick mit einem Achselzucken, entschlossen, das unbedarfte junge Mädchen zu spielen. »Vielleicht, aber ich kann beim besten Willen nicht sicher sagen, daß sein Besuch diesem Zweck dient. Er nannte mir keinen Grund, und ich sah keine Notwendigkeit, ihn zu fragen.«

Justin sah, daß sie den Tränen nahe war. »Verzeiht, Elise, es war nicht böse gemeint«, sagte er mitfühlend. Und wie in Gedanken fuhr er fort: »Hillert schenkt nur denjenigen seine Zeit und Gunst, die ihm nützen können. Aber was hätte er von Maxim zu erwarten?«

»Sehr wenig, könnte ich mir denken«, erwiderte sie vorsichtig. »Maxim hat Grundbesitz und Vermögen verloren. Er ist so gut wie mittellos und, soweit ich weiß, sämtlicher Verpflichtungen ledig, bis auf die eine – nämlich seine Ehre wiederherzustellen.«

»Und doch hat Hillert ihn zu sich kommen lassen. Nur um seine Fragen über Euren Vater zu beantworten? Nein, da muß mehr dahinterstecken.«

»Vielleicht könnt Ihr mich darüber aufklären, Justin«, erwiderte Elise gereizt. »Ihr scheint Hillert selbst sehr gut zu kennen. Was glaubt Ihr, weshalb er Maxim zu sich kommen ließ?«

Justin ließ sich auf einem Stuhl ihr gegenüber nieder. Er prüfte ihr ernstes Gesicht, aus dem höchste Wachsamkeit sprach, ehe er antwortete. »In letzter Zeit häuften sich Hillerts Tobsuchtsanfälle, weil Drake ihm seine Schiffe raubt. Elizabeth stattete Drake mit Kaperbriefen aus und duldet somit Piraterie auf hoher See. Und plötzlich bittet Hillert einen Engländer zu sich… Natürlich handelt es sich um einen seiner Rechte beraubten Lord… doch immerhin um einen Mann, der bei Hof Zutritt hatte. Nun frage ich Euch, Elise, was Ihr von einer Zusammenkunft der beiden haltet.«

Elise reckte beleidigt das Kinn, da ihr die Zielrichtung seiner Schlussfolgerungen nicht behagte. »Wie kommt es, daß Ihr Hillert so gut kennt? Solche Schlüsse könnt Ihr nur ziehen, wenn Ihr mit diesem Mann auf vertrautem Fuß steht.«

Justin, der ihren Unmut heraushörte, lächelte nachsichtig. Vom ersten Moment ihrer Begegnung an hatte ihre Schönheit ihn beeindruckt, doch zugleich hatte er gespürt, daß zwischen Elise und dem Marquis eine gewisse Beziehung bestand. War dieser Mann, wegen Hochverrats verurteilt, vielleicht in eine Sache verwickelt, die weitaus schlimmer war, als sie beide es sich vorstellen konnten? »Ich kenne Hillert, weil ich ihn schon seit Jahren aufmerksam beobachte. Gewisse Umstände deuten darauf hin, daß zwischen ihm und dem Tod meines Vaters ein Zusammenhang besteht. Ich bin überzeugt, daß entweder Hillert selbst oder sein Handlanger, dieser Gustav, den Mord an meinem Vater begangen hat.«

Nach dieser Enthüllung tat sich Elise keinen Zwang mehr an. »Dann werdet Ihr meine Sorgen verstehen.«

»Nur zu gut, fürchte ich.« Justin hielt den Blick zu Boden gerichtet. Der Tod seines Vaters machte ihm nach all den Jahren immer noch zu schaffen. »Hillert hat für lebendige Engländer wenig Verwendung. Was immer Maxims Absicht sein mag, er begibt sich auf gefährliches Terrain.«

»Ihr meint, er könnte schon tot sein?« rang Elise verzweifelt die Hände.

»Meinen Vater fand man ertränkt in einem Weinfass«, eröffnete Justin ihr finster.

»Hört auf!« rief Elise aufspringend und sah ihn aus tränenumflorten Augen an. »Es ist Euch ein Vergnügen, mich zu ängstigen! Das halte ich nicht mehr aus!«

»Beruhigt Euch, Elise«, besänftigte Justin sie. Er trat an ihre Seite und hätte ihr zu gern den Arm um die Schulter gelegt. »Vergebt mir. Ich wollte Euch nicht weh tun.«

»Was soll ich nur tun«, schluchzte sie. »Nikolaus sagte, heute finde eine Hanseversammlung statt. Gewiß wird auch Hillert anwesend sein. Das Gespräch mit Maxim müßte längst beendet sein.«

Justin trat ans Feuer. Daß dieser Maxim dem Mädchen den Kopf verdreht hatte, war offensichtlich. Aber auf welcher Seite stand er? Von Nikolaus' begeisterten Schilderungen abgesehen, wußte Justin von dem Mann so gut wie nichts. Das unerschütterliche Vertrauen Elises in Maxim weckte so etwas wie Eifersucht in ihm. Daneben plagte ihn ein anderer Verdacht…

Justin verbeugte sich knapp und fragte: »Würdet Ihr mich jetzt entschuldigen? Ich muß kurz fort.«

»Aber wohin?« fragte sie ängstlich. An einem kalten Winterabend wie diesem wagte sich niemand hinaus, wenn es nicht eine dringende Angelegenheit erforderte.

Justin hielt inne und überlegte, was er antworten sollte. Daß er sich Einlass ins Kontor der Hanse verschaffen wollte, um hinter Maxims wahre Absichten zu kommen, konnte er ihr nicht sagen. »Es gibt Dinge, meine teure Elise, die ein Mann lieber für sich behält«, sagte er und lächelte dünn.

Elise horchte seinen Schritten nach, als er sich in seine Kammer begab. Dann drehte sie sich um und blickte in die Flammen. Ein Schatten glitt über ihre Stirn, denn sie wurde den Verdacht nicht los, daß sein plötzlicher Aufbruch für Maxim nichts Gutes verhieß. Sein Misstrauen gegenüber Maxim hatte sie deutlich gespürt.

Elise lief aus der Stube und stürmte mit hochgerafften Röcken die Treppe hinauf. Sie hatte einen Entschluß gefaßt und würde sich durch nichts davon abbringen lassen. Sie mußte Justin folgen, um herauszufinden, was er vorhatte. In Justins Schlafkammer, die Maxim derzeit bewohnte, hatte sie eine Truhe mit abgelegten Kleidungsstücken gesehen, von denen sie einige für ihr Vorhaben zu verwenden gedachte.

Eilig zog Elise sich aus und versteckte ihre eigenen Sachen in der Truhe. Sie drückte ihre Brüste mit einem Tuch, das sie fest um sich wickelte, ganz flach. Hastig schlüpfte sie in ein loses Hemd, über das sie einen wollenen Kittel zog. Zwei Lagen dicker Strümpfe und ein Paar loser Kniehosen halfen die weiblichen Rundungen ihrer Hüften zu verbergen und boten zugleich Schutz gegen die Kälte. Ihr Haar stopfte sie unter eine knapp anliegende Lederkappe, deren Bänder sie unter dem Kinn zusammenknotete. Ihre alten, abgetragenen Lederstiefel waren für ihre Absichten genau das richtige.

Im angrenzenden Raum wurde eine Tür geöffnet. Wie erstarrt lauschte Elise, als sie das Knarren der Dielenbretter unter den vorsichtigen Schritten des Eindringlings hörte. Maxim konnte es nicht sein. Er hatte keinen Grund, heimlich in seine Kammer zu schleichen.

Leise schlich sie an die Verbindungstür und öffnete sie einen Spaltbreit. Ihr stockte der Atem, als sie einen alten Mann erblickte, dem ein paar graue steife Strähnen unter der flachen Kopfbedeckung hervorstanden. Erst als er sich umdrehte und eine Kerze auf den Tisch stellte, erkannte sie im Gegenlicht Justins Profil. Ein dunkelroter Fleck, aus dem graue Haarbüschel wucherten, zog sich auf der linken Gesichtshälfte von der Schläfe bis zum Kinn. Bartstoppeln verdunkelten Kinn und Oberlippe. Sein Mund schien ständig zu einer verächtlichen Grimasse verzerrt. Als er sich bewegte, wirkte er steif und zog das linke Bein nach.

Justin holte ein Holzkästchen aus dem Schrank, stellte es auf den Schreibtisch und klappte den Deckel auf. Er entnahm dem Kästchen die verknoteten Enden einer dünnen Schnur, an der ein Bronzesiegel hing, und steckte es ein. Dann schwang er einen Mantel um die Schultern und verließ den Raum.

Elise nahm sich einen kürzeren Umhang aus Justins Truhe und beeilte sich, ihm zu folgen. Vor der Haustür hielt sie kurz inne. Der Wind hatte sich gelegt, Justin war nirgends zu sehen. Allein seine Fußabdrücke waren im frisch gefallenen Schnee zu erkennen.

Elise hatte sich auf der Suche nach ihrem Vater so oft in verrufene Gegenden gewagt, daß sie inzwischen gelernt hatte, sich geschickt durch die Straßen einer dunklen Stadt fortzubewegen. Sie huschte dahin wie ein Gespenst, ständig die Fährte des Verfolgten vor Augen. Jäger und Gejagter. Immer weiter, und immer mit äußerster Vorsicht. Elise hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden und wohin sie gingen. Als sie aus einer dunklen Gasse hervortrat, bemerkte sie, daß die Spuren endeten. Hastig verfolgte sie ihre eigenen Spuren zurück und stieß dabei auf mehrere schmale Pfade, die von ihrem Weg abzweigten. Aber auf keinem waren Spuren zu sehen. Es war, als hätte Justin sich in Luft aufgelöst.

Das Herz schlug ihr bis zum Halse, als drei Gestalten die Gasse betraten und ihr den Rückweg abschnitten. Vorsichtig tastete sie sich rückwärts, auf der verzweifelten Suche nach einem Versteck. Plötzlich legte sich eine Hand über ihren Mund und zerrte sie in völlige Finsternis.

»Keinen Laut! Wir sind in Gefahr!« zischte ihr eine vertraute Stimme ins Ohr.

Als sie Justin erkannte, ließ ihr Zittern nach. Die drei Gestalten kamen näher, während Elise und Justin in atemloser Stille warteten. Der vorderste blieb mitten auf der Gasse stehen, eine imponierende, furchteinflößende, fremdartige Erscheinung. Der Mann schien kurz zu lauschen, ehe er weiterging. Sie hörte das Knirschen seiner Schritte im Schnee, als er an ihrem Versteck vorüberkam. Am Ende der Gasse blieb er abermals stehen und wartete auf seine Gefährten. Dann traten die drei hinaus auf eine breitere Straße.

Justin stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Ostländer aus Nowgorod«, erklärte er Elise im Flüsterton. »Es heißt, daß jüngst eine ganze Horde gekommen sein soll. Ich selbst habe nur ab und zu einige im Kontor gesehen. Es sind wilde Menschen, die meist unter sich bleiben und vor denen sogar Hillert Respekt hat. Die hier sollen Bojaren sein, aus Nowgorod vertrieben, als Zar Iwan vor einigen Jahren die Stadt verwüstete. Seit dem Tod des Zaren im Vorjahr sind sie bestrebt, ihre Macht in Nowgorod zurückzuerobern. In den Ostseehäfen, die nur darauf lauern, mit ihnen die Handelsbeziehungen wiederaufzunehmen, werden sie äußerst wohlwollend aufgenommen.«

»Und wohin gehen sie?« flüsterte Elise.

»Zur Versammlung im Kontor… um sich dort umzusehen und zuzuhören.«

»Und Ihr… Ihr wollt auch dorthin?« fragte Elise halblaut.

»Ja, das ist meine Absicht, doch kann ich Euch hier nicht allein lassen. Die Zeit, Euch zurückzubegleiten, habe ich aber auch nicht. Was soll ich mit Euch anfangen?«

»Könnte ich nicht mitkommen… oder Euch folgen wie zuvor?«

Justin runzelte die Stirn und dachte eine Weile nach. »Mir scheint, mir bleibt nichts anderes übrig, als Euch mitzunehmen.« Er faßte nach ihrem Arm. »Also kommt.«

Zu zweit liefen sie ans Ende der Gasse, wo sie wieder geduckt innehielten, um zu beobachten, wie die drei Ostländer einem massiven Bau mit schmuckloser Vorderfront und einer breiten, zu einem großen Portal führenden Treppe zustrebten. Vor dem Eingang hielt ein hoch gewachsener Posten Wache, der vor den Ostländern großen Respekt zeigte und Haltung annahm. Er bedeutete dem Anführer und seinen Begleitern einzutreten, ohne dem Siegel, das ihm gezeigt wurde, mehr als nur flüchtige Beachtung zu schenken.

»Wenn ich mein Siegel vorweise, dann werde ich immer sehr gründlich kontrolliert«, sagte Justin verärgert und warf Elise einen Seitenblick zu. »Sollte Euch jemand nach Eurem Namen fragen, dann sagt einfach, Ihr seid Du Volstads Lehrling. Aber zieht die Kapuze ins Gesicht, und senkt den Blick, falls Euch jemand ansieht. Als Junge seid Ihr nicht sehr überzeugend.«

Justin wollte unbedingt vermeiden, daß der Posten am Eingang das Mädchengesicht deutlich zu sehen bekam; deshalb gab er, als er sein Siegel vorzeigte, Elise zornig fluchend einen Fußtritt, so daß sie zur großen Belustigung des Wachpostens fast kopfüber durch den Eingang katapultiert wurde. Er nickte beifällig und machte ein paar abfällige Bemerkungen über die Qualität der neuen Lehrlingsgeneration. Die Kontrolle des Siegels blieb auf einen flüchtigen Blick beschränkt.

Elise rieb sich ihre Kehrseite und bedachte Justin mit einem finsteren Blick, als er sich den Weg in die überfüllte, von Fackeln erhellte Halle bahnte. Der Geruch von Rauch, Gebratenem, Schweiß und Bier stieg ihr in die Nase. Nachdem sie ihren Mantel neben den Justins gehängt hatte, folgte sie ihm mit hochgezogenen Schultern, den Blick meist auf den Boden gerichtet. An dichtbesetzten Schragentischen wurde geschmaust und getrunken, während andere Hanseaten sich abseits der Tische zu Gruppen zusammengefunden hatten und sich lautstark unterhielten.

Auf einem Podium saß eine Gruppe kräftiger Männer an einem langen Tisch. Obgleich Elise Karl Hillert noch nie im Leben zu Gesicht bekommen hatte, erkannte sie ihn auf den ersten Blick. Er thronte in der Mitte. Seinen Rang, seine Macht und seine Autorität trug er mit lässiger Arroganz zur Schau. Um seinen Hals hing eine massive Goldkette, an der sein Amtssiegel, das Schild der Hanse, hing. Unweit von Hillert stand ein Mann mit ungewöhnlich breiten Schultern und muskulösen Armen, der sich von dem geselligen Treiben fernhielt und den Saal beobachtete. Seine Aufgabe war es offenbar, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Das Schwert an seiner Seite und der Krummdolch in seinem Gürtel bestätigten Elises Vermutung.

Zimbelklänge, schallendes Gelächter und Gesänge aus rauen Männerkehlen vermischten sich zu tollhausähnlichem Getöse, aus dem Elise Männerstimmen heraushörte, die laut zählten. Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, sah sie einen Jüngling, der zwischen zwei Reihen brüllender Männer, die mit kurzen, vielschwänzigen Geißeln auf ihn einschlugen, dahintaumelte und sich ans Ende der Gasse schleppte.

Befremdet sah Elise weg. Sie ahnte, daß es sich um eines der Rituale handelte, die junge Anwärter vor der Aufnahme in die Hanse als Prüfung über sich ergehen lassen mußten.

Um nicht entdeckt zu werden, versteckte sie sich hinter den breitschultrigen Körpern, die eine schier undurchdringliche Wand um sie herum bildeten, und versuchte zwischen den Umstehenden hindurchzusehen. Dabei erspähte sie Nikolaus, der mit einer Gruppe Hanseaten in ein ernstes Gespräch verwickelt schien. Gleich darauf wurde ihr der Ausblick wieder versperrt, und sie mußte sich umdrehen und in die andere Richtung sehen.

Trotz des Halbdunkels und der verqualmten Luft konnte sie den hochgewachsenen Ostländer mit seinen Gefährten auf der entgegengesetzten Seite ausmachen. Seinen Mantel hatte er abgelegt. Er trug einen Kittel, der von einem bernsteinfarbenen Gürtel in der Mitte zusammengehalten wurde. Sein Degen hing griffbereit an seiner Seite.

Wie ein Fürst stand er da, aufrecht und mit straffen Schultern. Elise starrte ihn wie gebannt an. Die herabhängenden Schnurrbartenden, die andeutungsweise schräggeschnittenen Augen und die dunkle Haut verliehen ihm ein fast mongolisches Aussehen. Aber nur fast. Sie konnte es sich nicht erklären, doch selbst im Halbdunkel der Halle wurde sie das Gefühl nicht los, daß sie ihm bereits begegnet war.

Ein Ellbogen traf Elise im Rücken, so daß sie gegen den Rücken des vor ihr Stehenden prallte, der ins Schwanken geriet, sich wieder fing und wütend umdrehte, um ihr eine schallende Ohrfeige zu versetzen. Elise glaubte Sterne zu sehen und schwankte momentan wie betäubt.

»Gib acht, du Dummkopf!« hörte sie eine laute Stimme rufen.

Die Worte hallten ihr noch in den Ohren, da packte sie eine derbe Hand am Arm. Sie versuchte sich loszureißen, vergeblich; der Mann schob sie einfach durch den Raum, bis er eine freie Stelle erreichte. Vor ihr verschwamm alles, als sie in einem großen Kreis durch die Luft gewirbelt wurde. Brüllend vor Lachen schwang der Mann eine Geißel, während er Elise mit einer Hand am Kragen festhielt und sie kräftig beutelte. Plötzlich wurden ihr Kittel und das Hemd darunter am Rücken aufgerissen, und im nächsten Augenblick erscholl ein lauter, eindeutig weiblicher Schreckensschrei. Schlagartig trat Stille ein, und alles starrte verwundert zu ihr hin. Elise versuchte krampfhaft, die rutschenden Kleidungsstücke oben zu halten, doch ihre glatten weißen Schultern schienen das spärlich vorhandene Licht geradezu magnetisch auf sich zu ziehen. Plötzlich starrte Elise in die blaßblauen Augen Nikolaus von Reijns, die sich vor Staunen weiteten, als er langsam die Situation erfasste. Das von der knappen Lederkappe eingerahmte Gesicht war ihm nur allzu vertraut, doch was machte sie hier und in dieser Aufmachung? Wie versteinert stand Nikolaus da und kämpfte mit sich. Was sollte er tun?

Wieder faßte der stämmige Mann nach ihrem Arm und drehte Elise um. Mit der freien Hand riß er ihr die Lederkappe vom Kopf und löste damit ihre brünette Haarflut, die ihr nun ungehindert auf die Schultern fiel. Er schnappte nach Luft, ehe es mit ohrenbetäubender Lautstärke aus ihm hervorbrach: »Was haben wir da? Ein junges Mädchen?«

Hillert schnellte mit einem Satz hoch und stützte sich auf seinen baumstammartigen Armen über den Tisch vor. »Ein Mädchen?« Er lief puterrot an, als sein Blick das schlanke Mädchen erfasste. Mit ausgestrecktem Zeigefinger brüllte er: »Ergreift sie!«

Erbost über ihr freches Eindringen, gingen die Männer auf sie los, und Elise sah mit Entsetzen voraus, daß sie nicht davor zurückschrecken würden, sie zu töten. Sie biss die Zähne zusammen und stellte sich der Meute entgegen, entschlossen, sich nicht kampflos zu ergeben. Dem Mann, der sie festhielt, versetzte sie einen Fußtritt in den Leib und kam frei, als er vor Schmerz vornüber zusammenklappte. Dann holte sie aus und hieb einem anderen Mann in die Kehle, duckte sich und versuchte, den von allen Seiten zugreifenden Händen zu entgehen. Stück für Stück wurden ihr Hemd und Kittel vom Leib gerissen, bis nur mehr ein paar Fetzen über der Bandage hingen, mit der sie ihre Brust flachgebunden hatte. Justin wollte ihr von der anderen Seite her zu Hilfe kommen – vergeblich, angesichts des dichten Getümmels. Es fehlte nicht viel, und Elise wäre in Tränen ausgebrochen, als sich Finger in ihre nackte Schulter gruben und ein aufgedunsenes, fleckiges Gesicht sich so nahe an sie herandrängte, daß es ihr Blickfeld ausfüllte. Doch wie von Zauberhand blitzte plötzlich eine Klinge auf, und auf der Wange des Mannes erschien ein blutroter Strich. Wieder blitzte die Klinge und bohrte sich bedrohlich in die Kehle des schreienden Mannes, dessen Blick angstvoll die Länge des Stahls und dann einen dunkelumhüllten Arm entlangglitt, bis er auf das Antlitz des hochgewachsenen Ostländers traf. Der Aufschrei blieb Elise im Halse stecken, als sie die grünen, blitzenden Augen erkannte, die ihren Bedränger zu durchbohren schienen. Es war Maxim! »Wenn du deine Freunde heute nicht zu deinem Begräbnis einladen willst, solltest du die Dame so schnell wie möglich loslassen, mein Freund!« herrschte er ihn an.

Erschrocken gab er Elise frei. Sofort nahm sie Deckung hinter Maxim, dessen zwei Begleiter sich schützend um sie scharten und in Kampfstellung gingen.

Wie eine Woge drängten die Hanseherren heran. Metall klirrte auf Metall, und die Ostländer stachen und hieben und hielten die Masse der Vordrängenden in Schach.

Nikolaus, der dem Getümmel zunächst tatenlos zugesehen hatte, verwünschte sich, weil er gezögert hatte, Elise zu retten. Jetzt wollte er verhindern, daß Elise in die Hände der Hanseleute oder der Ostländer fiel. Er bahnte sich einen Weg durch die Masse der Leiber, stieß jeden beiseite, der ihm im Weg war. Die Leute fielen unter seinem zupackenden Griff um wie die Kegel. Einem letzten nahm er die Waffe ab und hob den Degen, um den großen Ostländer anzufallen. Verdutzt hielt er inne, als er in die flammenden grünen Augen blickte.

»Maxim!«

»Nun, Nikolaus, auch du willst meinen Tod?« keuchte Maxim atemlos.

»Ach, verdammt!« grollte Nikolaus enttäuscht. Ihm dämmerte, daß er im Spiel der Herzen gegen einen würdigeren Gegner verloren hatte. »Schaff sie hinaus!« brüllte er und schwang sein Schwert.

Maxim begegnete dem vorgetäuschten Stoß mit der eigenen Klinge und schlug Nikolaus die Waffe aus der Hand. Als diese klirrend zu Boden fiel, trat eine mächtige Gestalt vor. Alle wichen hastig zurück, als Gustav die Hacken zusammenschlug und sein gerades, zweischneidiges Rapier hob.

»So treffen wir uns wieder, Herr Seymour«, grüßte er von oben herab. Es war ihm nicht entgangen, daß Nikolaus Maxim erkannt hatte. »Gewiß wird es Herrn Hillert interessieren, wer unter dieser Verkleidung steckt. Er soll es von mir erfahren.« Mit selbstsicherem Grinsen schwang er die lange Klinge vor Maxim. »Ihr wart ein Narr, Euch des Mädchens wegen zu erkennen zu geben. Das bedeutet für Euch den sicheren Tod.«

Wieder klang Stahl auf Stahl, und Elise unterdrückte einen Schreckensschrei, als Maxim unter dem kraftvollen Angriff einen Schritt zurückwich. Die Hanseherren stießen einander schadenfroh an, während sie zurücktraten und einen Kreis bildeten, damit Gustav mehr Platz hatte und den Zweikampf bestimmen konnte. Neben seinen vielen anderen Talenten hatte er schon oft genug sein Geschick als Fechter bewiesen, so daß niemand daran zweifelte, daß er diesen dreisten Ostländer gebührend in die Schranken weisen würde.

Elise schlotterte vor Angst, als sie sah, daß Gustav dank seiner Stoß- und Hiebkraft Maxim allmählich in Bedrängnis brachte. Seine Klinge blockierte, parierte, griff an, aber es genügte nicht, um Gustavs heftiger Attacke zu widerstehen. Immer weiter drängte er Maxim zurück. Der Kreis der auf ein erregendes Spektakel erpichten Zuschauer war ständig in Bewegung, da man immer wieder ausweichen und Platz machen mußte.

Elise sah, wie Nikolaus Justins Arm ergriff und auf den Eingang deutete. Justin nahm ihre und die Mäntel der Ostländer vom Haken und begann sich durch das Gedränge zur Tür voranzukämpfen. Nikolaus hob den Kopf, fixierte die zwei Ostländer, die links und rechts von Elise standen, und machte eine Bewegung zur Tür hin. Elise verstand. Sie wollten mit ihr entfliehen.

»Nein«, stöhnte sie auf, als der eine ihren Arm packte. »Ich kann nicht ohne Maxim gehen.«

»Bitte«, hörte sie es direkt neben ihrem Ohr flüstern. »Wir müssen jetzt hinaus… Eurem Mann zuliebe.«

Elise brach in Schluchzen aus und setzte sich zur Wehr, als man sie fortzerren wollte. »Nein, ich kann ihn nicht verlassen!«

»Rasch, Elise! Mach, daß du fortkommst!« rief Maxim ihr über die Schulter zu.

Widerwillig fügte sich Elise.

Gustav, der immer mehr an Boden gewann, grinste selbstzufrieden. »Euer Liebchen mag gehen, Herr Seymour, aber sie entkommt mir nicht. Und Ihr auch nicht. Ihr seid am Ende.«

»Mag sein, Gustav. Aber vielleicht irrt Ihr Euch!« Ein Blick nach hinten zeigte ihm, daß Elise und ihre Begleiter die Tür fast erreicht hatten; da ging Maxim plötzlich mit einer Meisterschaft, die er bislang hatte vermissen lassen, zum Angriff über. Jetzt begnügte er sich nicht mehr mit Abwehr und Parade. Überraschung blitzte in Gustavs Augen auf, als dieser sich wiederholt zum Ausweichen gezwungen sah. Der erwachende Argwohn, daß sein Gegner mit ihm bislang nur gespielt hatte, beschleunigte seinen Puls. Seine Bewegungen wurden immer schneller. Ein Augenblick mangelnder Konzentration – und er spürte einen Schnitt auf der Wange.

»Gustav, eine Bagatelle. Keine Angst«, reizte ihn Maxim.

Elise, die an der Tür innehielt, sah verwundert die Wendung, die der Zweikampf genommen hatte. Nun war es Maxim, der mit seinem Gegner Katz und Maus spielte. Fast sah es aus, als wäre sein Rückzug von vorhin nur eine Finte gewesen, um ihnen zu ermöglichen, sicher an den Eingang zu gelangen. Sie selbst hatte dies im Gegensatz zu Nikolaus und den anderen nicht sofort erfasst.

»Ich muß Euch bitten mitzukommen«, hörte sie eine Stimme an ihrer Seite, gleichzeitig wurde sie am Arm gefaßt. »Lord Seymour würde nicht wollen, daß Ihr dies mit anseht.«

Nicht allein die Kälte ließ Elise frösteln, als sie ins Freie trat. Sie ahnte, daß Gustav den Zweikampf nicht überleben würde. Justin wartete bereits am unteren Ende der Treppe, nachdem er den dösenden Posten außer Gefecht gesetzt hatte. Hastig warf er ihr den Mantel über.

Im Inneren der Halle tobte der Kampf weiter. Schweiß glänzte auf Gustavs Stirn, als Maxims Waffe vor ihm in flirrender Bewegung verschwamm, seine Verteidigung immer häufiger durchbrach und ihm schmerzhafte Schnitte und Stiche zufügte. Schon war seine Kleidung blutdurchtränkt, und seine Kräfte erlahmten. Als sein Gegner sich zu einem Angriff vorbeugte, erspähte er eine Lücke in der Deckung, hob den Arm und schwang den Degen mit aller Kraft. Doch seine Waffe wurde abgeblockt, und er sah ein Lächeln über Maxims Lippen huschen, ehe dessen Klinge an der seinen entlangglitt und die Spitze auf seine Brust zuschnellte. Er spürte einen heftigen Schmerz zwischen den Rippen, als sie tief eindrang.

Maxim trat zurück. Seine Klinge war bis zur Hälfte in Blut getaucht. Gustav taumelte einen Schritt zurück, den Blick voller Entsetzen auf seine Brust gerichtet, auf der ein roter Fleck immer größer wurde. Sein Atem schien ihm in der gewölbten Brust steckenzubleiben. Gurgelnd holte er Luft, die Klinge entglitt seinen Fingern, und er brach zusammen.

Maxim nützte den Augenblick des Entsetzens, als die Menge den Toten anstarrte. Im Nu war er an der Tür, schlug sie hinter sich zu und verriegelte sie, obwohl er wußte, daß sie dem Ansturm der Menschenmassen nicht lange standhalten würde. Immerhin verschaffte er sich und den Freunden damit einen kleinen Vorsprung.

Der wartende Justin winkte Maxim, sich zu beeilen, dieser aber bedurfte dieser Aufforderung nicht, denn er lief bereits, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Bei den Freunden angekommen, fing er den Lammfellmantel auf, den Justin ihm zuwarf. Im Vorbeilaufen faßte er nach Elises Hand, und sie tauchten unter im Dunkel der Nacht.

Ein lautes Krachen hinter ihnen verriet, daß das große Portal des Kontors aufgebrochen worden war. Laute Rufe erklangen durch die Nacht, als die Hanseaten die Stufen hinunterliefen und sich in verschiedene Richtungen verteilten.

»Hier entlang!« rief Justin mit gedämpfter Stimme und deutete in die Richtung eines engen Gässchens. »Hier hängen wir sie leichter ab.«

Die Dunkelheit vertiefte sich, als der von Fackeln erhellte Bereich um den Kontor hinter ihnen zurückblieb. Nur das Knirschen des gefrorenen Schneematsches war gelegentlich zu hören, als die fünf Gestalten durch die gewundenen Straßen Lübecks wie durch ein endloses Labyrinth hasteten, dessen Ende nur Justin bekannt war. Elise versuchte tapfer mit den Männern mitzuhalten, schließlich aber sackte sie in einer dunklen Gasse an einer Mauer zusammen, völlig erschöpft und außer Atem. Auch Justin blieb, nach Atem ringend, stehen. Maxim lief ein paar Schritte weiter, um zu prüfen, wo die Gasse endete. Dann kam er zurück.

»Nun, Sir Kenneth, was sagt Ihr?« keuchte er, den Blick durch die Dunkelheit auf einen der Männer gerichtet. »Habt Ihr eine Ahnung, wo wir sind?«

»Ja, Mylord«, antwortete Kenneth. »Und ich habe eine Ahnung, was Ihr jetzt denkt, und ich gebe Euch recht. Es ist am besten, wenn wir uns trennen.«

»Dann nehmt Sherbourne, und lauft los. Ich brauche Justin, damit er mir hier weiterhilft. Wir sehen uns auf der Burg wieder.«

Sir Kenneth trat vor und drückte Maxim die Hand. »Sollte einer von uns die Burg nicht erreichen, dann solltet Ihr wissen, daß es mir eine Ehre war, an Eurer Seite zu kämpfen. Gute Nacht.« Er salutierte kurz und wandte sich an Elise. »Es war mir ein Vergnügen, Mylady. Ich wünsche Euch und Lord Seymour ein langes Leben.«

»Danke… für alles«, sagte Elise leise. Seufzend sah sie den zwei Davoneilenden nach, von einer schrecklichen Ahnung erfasst, daß sie durch ihre Unbesonnenheit alle in Gefahr gebracht hatte.

Justin war von Kenneths letzten Worten beunruhigt und sah das Paar im Halbdunkel fragend an. Doch Maxim ließ ihm keine Zeit, Fragen zu stellen. Er nahm Elises Arm und geleitete sie ein Stück weiter die Gasse entlang. Justin starrte ihnen nach.

»Warum bist du gekommen?« raunte Maxim Elise zu. »Warum hast du dich verkleidet ins Kontor geschlichen? Wusstest du nicht um die Gefahr? Hillert hasst Frauen, besonders Engländerinnen.«

»Ich machte mir deinetwegen Sorgen und wollte mich vergewissern, daß dir keine Gefahr droht«, sagte sie beschämt.

Da drang seine Stimme wie ein sanfter Flügelschlag an ihr Ohr. »Meine Geliebte, ich schwöre dir, daß ich dein Antlitz stets vor mir sehe; meine einzige Sehnsucht war, zu dir zurückzukehren und diese Nacht in deinen Armen als dein Gatte zu verbringen.« Er ließ den Mantel von den Schultern gleiten und gab ihn ihr. »Halte ihn, damit ich dir mein Hemd geben kann.«

Elise strich bewundernd über den Lammfellmantel. »Fast hätte ich dich darin nicht erkannt.«

»Fast hätte ich dich auch nicht erkannt«, lachte Maxim leise.

Maxim stellte sich vor Elise, als sie, vor Kälte zitternd, das Hemd rasch über den Kopf zog, ehe sie wieder die Wärme des Mantels suchte. Dann winkte Maxim Justin zu sich heran.

»Wir müssen gehen«, drängte er. »Hillert wird nicht ruhen, ehe er uns nicht gefaßt hat.«

»Aber wohin?« fragte Elise verzweifelt. »Zum Haus der von Reijns können wir nicht mehr, weil wir Nikolaus ganze Familie gefährden würden. Wird Hillert nicht alle Herbergen und Kneipen nach Fremden absuchen lassen?«

Da leuchteten Justins Augen auf. »Ich wüsste ein sicheres Versteck. Kommt, ich bringe Euch hin. Dort wird Euch niemand vermuten.«

Maxim war im Zweifel, ob er dem Jungen trauen sollte, doch kam er der Aufforderung nach.

Der Nebel verdichtete sich zusehends, als sie das Hafenviertel erreichten. In der nächtlichen Stille ächzten die unzähligen hohen Masten und die vom Eis umschlossenen Schiffsrümpfe. Vorsichtig schlichen die drei an den Pier, wobei sie ständig um sich blickten. Justin lief ihnen auf dem eisglatten Kai voran. Im Schutze der Dunkelheit kauerte er sich unter dem größten Schiff, das im Hafen lag, nieder und deutete mit breitem Grinsen auf den Namen. Es war Hillerts ›Grauer Falke‹.