9
Elise schob die Decken beiseite. Die Morgenkühle im Zimmer vertrieb den letzten Rest von Schlaftrunkenheit. Es war so kalt, daß ihr der Atem vor dem Mund stand. Der Schneeregen der vergangenen Nacht war auf den Fensterscheiben gefroren, die nun im Licht der aufgehenden Sonne glitzerten. Aber die Sonne vermochte kaum den Raum zu erwärmen. Elise überlegte, ob sie blitzschnell zum Kamin laufen sollte, um frische Scheite auf die Glutstücke zu legen, aber die Kälte schreckte sie ab, und sie wünschte sich sehnlichst Bedienstete herbei, die kommen und Feuer machen würden.
»Und alles nur, weil dieser schwachköpfige, liebestolle Tölpel es sich in den Kopf gesetzt hat, seine Angebetete zu entführen! Er wird dafür bezahlen, und zwar teuer. Und was die Misshandlungen betrifft«, klagte sie ihr Leid den Wänden, »so hätten die Radbornes von diesem Kerl noch lernen können.«
Prüfend streckte sie einen Fuß aus dem Bett, zog ihn aber gleich wieder zurück, als sie den kalten Steinboden berührte. Wieder faßte sie sich ein Herz. Sie ließ die Felldecke fallen, sprang heraus, schnappte sich im Laufen ihre Sachen, die auf einem Hocker neben dem Kamin lagen, und stürzte zurück ins Bett. Die Kleider fühlten sich auf ihrer nackten Haut kalt an, als sie sich unter der Decke anzog. Schließlich stand sie auf. Sie hob ihr Gesicht der Sonne entgegen, um einen wärmenden Sonnenstrahl zu erhaschen, während sie sich mit den Fingern durchs Haar fuhr, um es einigermaßen in Ordnung zu bringen. Eine sorgfältigere Toilette war erst möglich, wenn sie Wasser für ein Bad erwärmen konnte. Ein verschmitztes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
In ihren weichen Lederschuhen eilte Elise an den Kamin und prüfte die Temperatur des Wassers im Eimer, den ihr Fitch am Vorabend gebracht hatte. Es war so kalt, daß es auch den tiefsten Schläfer aus dem Schlaf gerissen hätte.
Mit dem Eimer in der Hand ging sie an die Tür und lauschte. Da sie nichts Ungewöhnliches hören konnte, schob sie vorsichtig den inneren Riegel zurück und trat hinaus. Von unten drang das laute Schnarchen von Fitch und Spence herauf. Von oben kam kein Laut. Leise begann sie, die Treppe hochzusteigen, und schlich auf Zehenspitzen zum Schlafgemach des Lords. Mit angehaltenem Atem spähte sie an den zersplitterten Brettern vorbei in den Raum, in den die blasse Wintersonne durch die Fenster und durch die Öffnung im Dach eindrang. Über den hölzernen Betthimmel hatte man als Schutz gegen die Zugluft eine Art Zelt drapiert. In dem riesigen, mit reichem Schnitzwerk verzierten Bett lag ihr Widersacher in tiefem Schlaf. Das hübsche Gesicht mit den dunklen Wimpern war ihr zugekehrt. Eine Felldecke bedeckte ihn bis zur Mitte und ließ den Oberkörper frei. Etliche alte Narben an Brust und Schultern waren augenscheinlicher Beweis, daß er seinen Gegnern oft getrotzt hatte.
Elise ließ alle Skrupel fallen. Der Kerl verdiente nichts anderes… Sie hob den Eimer und schüttete den ganzen Inhalt über Maxim Seymour aus.
Brutal wurde der Ahnungslose aus dem Schlaf gerissen. Erschrocken fuhr er hoch und starrte sie wütend an. Als er seine Decke beiseite schleuderte, um auf sie loszugehen, war sie beim Anblick der völlig nackten männlichen Gestalt wie gelähmt. Dieser Anblick – das Bild eines goldenen Apolls – sollte sich auf ewig in ihr Gedächtnis graben! Dennoch – dies war kein marmorner Gott, sondern ein Mann aus Fleisch und Blut, lebendig und wirklich, kühn und männlich, und es war ein erzürnter Mann.
Elise drehte sich um und rannte los. Ihre Füße flogen förmlich dahin, als sie hinaus auf den Gang lief und die Treppe halb taumelnd, halb gleitend hinuntergelangte. Die Schritte ihres Verfolgers kamen immer näher. Mit letzter Kraft erreichte sie die Tür ihres Schlafgemachs und schob den Riegel vor. Bebend und nach Luft schnappend, lehnte sie sich an die Tür. Sie war in Sicherheit! Doch gleich fuhr sie wieder zusammen, als er mit der flachen Hand heftig gegen die Tür schlug.
»Ich reiße diese Tür aus den Angeln, wenn du das jemals wieder machst, du Weibsstück!« schrie er wutschnaubend.
Erst nach der Mittagsstunde fand Elise den Mut, sich hinauszuwagen, in der Hoffnung, der Marquis habe die Burg verlassen. Sie stand noch mitten auf der Treppe, als sie ihn in der Halle am großen Tisch sitzen sah. Ein halbvolles Tablett stand vor ihm, er hatte sein Mittagsmahl am wärmenden Kamin eingenommen. Sie wollte sich diskret zurückziehen, da durchschnitt seine Stimme die Stille der Halle.
»Kommt und leistet mir Gesellschaft, Mistreß Radborne«, rief er kühl, auf den Platz am anderen Ende der Tafel weisend. »Ich möchte Euch lieber vor mir sehen als im Rücken fühlen.«
Widerstrebend schritt sie die restlichen Stufen herab, von der Ahnung drohenden Unheils erfüllt. Sein Blick ließ sie nicht los, als sie sich steif im Armsessel am anderen Ende des Tisches niederließ. Maxims Missvergnügen war offensichtlich. Er schwieg, und die Stille wurde immer beklemmender.
»Wie ich sehe, Mistreß Radborne, seid Ihr ein wenig verärgert über mich…«, begann er schließlich.
»Ein wenig? Wie soll ich das verstehen?«
»Nun, dann muß ich mich korrigieren. Ihr seid also sehr verärgert über mich.«
»Auch das wäre noch eine Untertreibung«, gab Elise zurück.
Maxim nahm ihre Erwiderung gelassen zur Kenntnis. »Ich glaube, ich darf annehmen, daß Ihr mich für ein abscheuliches, widerwärtiges Ungeheuer haltet, weil ich Euch in diese unangenehme Lage gebracht habe.«
»Bis ich eine passender Bezeichnung für Euch finde, wird diese ausreichen«, bemerkte Elise trocken.
Wieder nickte Maxim zustimmend. »Unbestritten hegt keiner von uns viel Sympathie für den anderen, doch ich fürchte, daß wir beide in der Falle sitzen. Ich kann Euch aus einleuchtenden Gründen nicht zurückschicken, und Ihr wollt nicht bleiben. Daher schlage ich vor, daß wir ein Abkommen treffen.«
»Meine einzige Bedingung ist, daß Ihr mich mit dem nächsten Schiff zurückschickt. Andernfalls gehe ich keine Verpflichtung ein.«
Maxim sah sie offen an. »Dennoch möchte ich in Frieden in meinem eigenen Haus leben…«
»Dann laßt mich gehen.«
»Die Vorstellung eines ständigen Kampfes zwischen uns…«
»Ihr müßt mich nicht festhalten.«
»Ich halte mich für einen Gentleman…«
»Diese Meinung kann ich nicht teilen.«
»…für einen Gentleman, dem das Wohlergehen edler Damen am Herzen liegt.«
»Wie Ihr bewiesen habt, indem Ihr mich entführen ließet?«
»Ein fehlgeschlagener Versuch, um die Heirat eines Edelfräuleins mit einem adeligen Schurken zu verhindern.«
»Ihr könnt mich jederzeit gehen lassen«, beharrte Elise.
»Kann ich eben nicht!« Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Wieso seid Ihr so halsstarrig?«
»Dann befinden wir uns im Kriegszustand«, erwiderte sie eisig.
»Elise…«, versuchte es Maxim nun in sanftem Ton, »die Elbe wird bald ganz zufrieren, und die Nordsee ist im Winter besonders tückisch. Denkt an Eure Sicherheit. Auch die erfahrensten Seeleute warten günstigere Witterungsbedingungen ab.«
»Könnte man nicht über Land bis Calais fahren? Von dort finde ich vielleicht eine Gelegenheit, nach England zu kommen.«
»Das wäre eine lange und gefährliche Reise über Land. Ich kann Euch nicht begleiten und erlaube auch nicht, daß ein anderer es tut.«
»Wie freundlich von Euch, Taylor.« Süffisant legte sie besonderen Nachdruck auf seinen Vornamen.
Ein heruntergefallener Scheit ließ einen Funkenregen aufsprühen, und Maxim stand auf, um nachzulegen. Prüfend sah Elise ihm nach. Obschon dezent gekleidet, wirkte er ausgesprochen männlich. Die Ärmel seines dunkelgrünen Samtwamses und die gebauschte Hose wiesen Schlitze auf, deren Kanten mit Seide eingefasst waren. Die steife weiße Hemdkrause ragte hoch über dem Hals auf. Ähnliche weiße Krausen waren an den Manschetten des Wamses, das seine breiten Schultern hervorhob und sich eng um die schmale Taille schmiegte. Die hohen Stiefel, die er über dunklen Strümpfen trug, ließen die Muskeln seiner Beine ahnen.
Elise kam sich plötzlich ganz klein und schwächlich neben ihm vor. Ihr ausgefranster Kittel ließ sie unvorteilhaft aussehen, und dieses Unbehagen verletzte ihren Stolz, als er sie musterte. Sie konnte sich gut vorstellen, welchen Anblick sie in dieser Aufmachung abgab. Wütend schnellte sie von ihrem Sitz hoch.
»Ihr steht hier wie der große Herr dieser Ruine, während ich diesen jämmerlichen Fetzen tragen muß, und behauptet, daß Ihr mich nicht nach Hause schicken könnt. Euch bedeuten die Gefühle einer Lady soviel wie das Stück Holz, das Ihr eben ins Feuer geworfen habt.«
»Sicher wisst Ihr, daß man mich in England steckbrieflich sucht«, erwiderte Maxim, »sollte ich jetzt zurückkehren, dann lande ich unverzüglich auf dem Schafott.«
»So, wie Ihr es verdient«, bestätigte Elise.
Maxim erhob sich von seinem Sitz und durchschritt die Halle wie ein böser Riese aus einer alten Sage. Fitch und Spence hatten sich den denkbar ungünstigsten Augenblick für ihr Erscheinen ausgesucht, doch als sie Seiner Lordschaft gegenüberstanden, erschraken sie sichtlich beim Anblick seiner Übellaunigkeit.
»Ich muß nach Hamburg«, eröffnete er ihnen. »Aber wenn ihr beide während meiner Abwesenheit schon sonst nichts Nützliches tut, dann kümmert euch um das Mädchen, und bringt die Tür zu meiner Kammer in Ordnung, wenn euch euer Leben lieb ist«, murrte er, »damit ich meine Ruhe vor den Anfällen dieser Wahnsinnigen habe!« Dabei deutete er mit dem Daumen über die Schulter.
»Und jetzt zu Euch!« Er drehte sich abrupt zu Elise um. »Es wäre angebracht, wenn Ihr diesen Taugenichtsen an die Hand geht und Euch ebenfalls nützlich macht. Wir alle haben etwas davon, wenn hier etwas getan wird.«
Er wandte sich zum Gehen. Elise aber hielt ihn mit anmutig erhobener Hand auf. »Mylord, das geht nicht, denn ich bin eine Gefangene, die sich auf ihr Gemach beschränken und nicht hinauswagen soll, damit meinen Bewachern peinliche Situationen erspart werden. Aber es wäre ratsam, wenn Ihr aus der Stadt wenigstens einen Koch mitbringen würdet und ein oder zwei Mädchen zum Putzen und Fegen. Ich fürchte, Eure zwei Gefolgsleute sind nicht fähig, ihren Haushaltspflichten auch nur annähernd nachzukommen.«
Wortlos drehte sich Maxim um, nahm seinen Umhang und schlug wütend das Portal hinter sich zu. Die Tür brach aus den Angeln und ließ eine dichte Staubwolke aufwirbeln, als sie krachend zu Boden fiel. Maxim fluchte vor sich hin und lief weiter zum Stall; wenig später, als er im Sattel seines schwarzen Hengstes über den Hof sprengte, kämpften seine zwei Getreuen noch immer mit der Tür, die es wieder einzuhängen galt.
***
Hans Rubert blieb in seinem direkt am Kai gelegenen Laden an jenem Samstag länger als bis Mittag, um ein paar Eintragungen in den Geschäftsbüchern nachzuholen. Auf einem hohen Hocker vor dem Schreibtisch sitzend, ließ er den Federkiel bedächtig über das Pergament gleiten, als er von hinten einen Luftzug spürte und das Schlagen der Ladentür einen Kunden ankündigte. Da man in dieser Gegend nicht genug vorsichtig sein konnte, faßte er nach einem dicken Eichenknüppel, ehe er sich umdrehte.
Sein Kunde war ein hochgewachsener Mann, der ihm irgendwie bekannt vorkam, wenngleich das Gesicht von der tiefgezogenen Kapuze halb verhüllt wurde. Der Mann trat Schnee und Matsch von den Sohlen seiner feinen Lederstiefel, und Rubert ließ sich, getäuscht von der vornehmen Kleidung des Mannes, beruhigt vom Hocker gleiten.
»Verzeihung, mein Herr«, setzte er an. »Kann ich Euch…« Die Frage blieb unvollendet, als der Mann den Kopf hob und er ihn erkannte.
»Herr Seymour!« stieß er hervor. Die durchdringenden grünen Augen des Besuchers jagten ihm einen Schauer über den Rücken.
»Meister Rubert!« Die Stimme war leise und tonlos und hätte Rubert warnen müssen, wäre er nicht bereits zu Tode erschrocken gewesen.
»Ich… hm…« In Ruberts Kopf überstürzten sich die Gedanken. »Mein Herr, ich wußte nicht, daß Ihr in Hamburg seid!«
Ohne Rubert zu beachten, streifte der Marquis seine Lederhandschuhe ab und entledigte sich seines Umhangs, den er über einen Stuhlrücken legte. Als Maxim sich herabließ, Rubert anzusehen, glänzten winzige Schweißtropfen auf dessen Oberlippe.
»Ich bezahlte Euch eine stattliche Halbjahresmiete für ein Stadthaus, das diesen Namen verdient. Tausend Dukaten, glaube ich.« In den Worten bebte verhaltener Zorn. »Zu meiner Verwunderung aber traf ich meine Leute in einem zugigen, von Ungeziefer verseuchten Trümmerhaufen an.«
»Burg Hohenstein?« tat Rubert verwundert. Dazu runzelte er die Stirn, als bezweifelte er die Behauptung des Engländers. »Nun, als ich letztes Mal dort war…«
Maxims brüske Antwort erstickte jeden Rechtfertigungsversuch des Mannes im Keim. »Ich wette, die letzten Bewohner ließen auf den Kreuzzügen ihr Leben.«
Damit war Ruberts Ausrede zunichte – und natürlich auch der Profit. Flink begann er im Kopf Zahlen neu zu ordnen, während er nach einer anderen Ausrede suchte. »Sicher wisst Ihr noch, daß vereinbart war, Ihr würdet das Haus vor Jahresende beziehen. Sollte Euch das nicht möglich sein, dann würde dieser Umstand nicht mir angelastet werden. Nun hörte ich Gerüchte, daß Ihr einem Unglück zum Opfer gefallen seid.«
Als Maxim einen Schritt auf Rubert zuging, brachte dieser sich hurtig hinter einem langen Tisch in Sicherheit. Der Marquis stützte sich auf die Platte, den Blick so eindringlich auf den anderen gerichtet, als wollte er ihn durchbohren. »Ich muß zugeben, daß Euer Name keine Empfehlung war.« Er ließ eine vielsagende Pause eintreten, und Hans Rubert versuchte den Kloß in seiner Kehle hinunterzuschlucken. »Wie auch immer!« setzte der Marquis wieder an. »Ich weiß, daß vor etwa einem Jahr gewisse Hansemitglieder Besitz in einer anderen Stadt erwerben wollten und einem Makler eine stattliche Summe dafür zahlten. Als sie ihren Besitz beanspruchten, mußten sie feststellen, daß die Zahlungen nicht geleistet worden waren und daß der Makler nirgends aufzutreiben war. Nun gilt die Hanse insgesamt als rachsüchtig, wobei sie sich nicht immer an das Gesetz hält. Wüssten die Betrogenen, wo der Mann zu finden ist, steht zu befürchten, daß sie selbst Hand anlegen würden.«
Trotz der Kälte zog Rubert ein Sacktuch heraus und wischte sich mit zitternder Hand die schweißglänzende Stirn.
»Die Hanse kümmert mich keinen Pfifferling«, fuhr der Marquis vertraulicher fort, »für mich ist sie ein Haufen grausamer und herzloser Geldraffer. Ist der Mann, der sich eine Handvoll ihres Geldes aneignen konnte, ein ehrlicher Mensch, dann würde ich ihn nicht verraten.«
»Ich… ich… ich… natürlich, Herr Seymour«, stammelte Hans Rubert. »Wie Ihr sagt, bin ich ein ehrlicher Mensch.«
»Meine Leute haben genug Miete gezahlt, um damit Hohenstein und das umliegende Land kaufen zu können.«
»So sei es!« beeilte Rubert sich zu versichern und kramte eifrig in einer Lade nach dem Vertrag, den er mit Unterschrift und Siegel versah und mit Sand bestreute, um die Tinte zu trocknen, ehe er ihn seinem Besucher reichte. »Hier!« sagte er, und sein Lachen klang gehetzt, »der Besitz war eine Last, seitdem ich ihn habe. Ich bin froh, ihn loszuwerden. Jetzt gehört alles Euch.«
Maxim griff nach dem Vertrag und überflog ihn; dann pustete er sanft den Sand vom Pergament, faltete es und steckte es in sein Wams. »Und was die Anzahlung auf das Stadthaus betrifft…«
»Die wird refundiert!« unterbrach ihn Hans Rubert hastig und schluckte schwer. »Ich habe das Haus meiner verwitweten und kränkelnden Schwester vermietet… natürlich erst, nachdem ich von Eurem Unglück hörte. Als ehrlicher Mensch könnte ich doch eine doppelte Miete nicht so einfach einstreichen.«
Maxim nickte beifällig, und Rubert holte hinter dem Pult einen eisenbeschlagenen Holzkasten hervor, entnahm Münzen und zählte sie in ein Säckchen ab. Nachdem Maxim eine Quittung unterschrieben hatte, schob ihm Rubert das Säckchen über den Tisch zu. »Herr Seymour, wie versprochen, volle Rückerstattung.« Er lächelte breit. »Sonst noch etwas?«
Maxim wog das Säckchen in der Hand und steckte es ein. Er legte seinen Umhang um die Schultern und zog die Handschuhe an. »Es ist ein reines Vergnügen, mit einem Mann ins Geschäft zu kommen, der um den Wert eines ehrlichen Handels weiß.«
Hans Rubert entschlüpfte ein langer Seufzer. Schließlich faßte er sich ein Herz und fragte: »Dann wird die Hanse nie…« Er schluckte schwer.
Maxim nickte ihm zu. »Nicht aus meinem Mund«, versprach er, war draußen wie der Wind und schloß hinter sich die Tür.
Rubert stieg wieder auf seinen Hocker und blätterte bekümmert ein paar Seiten in seinem Hauptbuch zurück, um einige Korrekturen anzubringen. Mit einem tiefen Seufzer klappte er das Buch zu. Heute war er nur um Haaresbreite davongekommen. Sein Verstand und seine Ehrlichkeit hatten ihn gerettet, wenn auch ärmer gemacht.
Maxim überquerte eine mit Schneematsch bedeckte Straße und kehrte in ein Wirtshaus ein. Er hatte kaum den nassen Schnee von seinem Umhang abgeschüttelt, als aus einer Ecke der verräucherten Gaststube eine Stimme rief: »He, Maxim!«
Seymour fuhr sich mit dem Handrücken über die brennenden Augen und spähte durch den Rauch. Nikolaus von Reijn saß vor einem reichlich gedeckten Tisch und huldigte seiner zweiten großen Leidenschaft. Maxim winkte ihm zu, ehe er seinen Umhang über zwei Wandhaken zum Trocknen breitete. Dann streifte er die Handschuhe ab, ging an den Tisch von Reijns und ließ sich auf einem Stuhl dem Kapitän gegenüber nieder.
»Glühwein, mein Fräulein«, bestellte er, als ein schwitzendes junges Mädchen mit tief ausgeschnittener Bluse an den Tisch trat. Auf den Hinterbeinen des Stuhles balancierend, setzte er hinzu: »Einen ganzen Krug, sehr heiß, wenn ich bitten darf.«
»Sehr wohl, mein Herr.« Das Mädchen knickste andeutungsweise und verschwand.
Nikolaus von Reijn, der sich eben an einer gutgewürzten Hammelkeule ergötzte, beobachtete sein Gegenüber, ohne im Kauen innezuhalten. Allem Augenschein nach hatte sein Freund Sorgen, da er in Gedanken versunken dasaß und wie abwesend seinen Blick durch die Stube wandern ließ.
Der Kapitän spürte sofort, daß sein Freund sich aussprechen mußte. Zudem war seine Neugierde geweckt. Er legte den abgenagten Knochen beiseite, schob den Teller von sich und wischte sich den Mund mit einer großen Leinenserviette ab.
In diesem Moment stellte die Kellnerin dem Marquis einen dampfenden Humpen Glühwein hin. Der Duft von Honig und Gewürzen stieg ihm angenehm in die Nase, und schon der erste Schluck erfüllte ihn mit angenehmer Wärme.
»Draußen ist es scheußlich, nicht?« setzte von Reijn an. »Ein denkbar ungeeigneter Tag für einen langen Ritt.«
Ein nichts sagendes Brummen kam über Maxims Lippen. Er wärmte die Hände an dem Krug und ließ den Blick von neuem durch die Wirtsstube wandern.
»Die alte Burg muß bei diesem Wetter kalt und unwirtlich sein«, bohrte Nikolaus weiter, »vielleicht sind die beheizten Räume einigermaßen…« Er ließ das letzte Wort in der Luft hängen, aber Maxim reagierte nicht und beschränkte sich auf ein Nicken, während er wieder einen Schluck trank.
Nikolaus von Reijn, Seefahrer und Kaufmann, sieben Sprachen und aller Sitten und Gebräuche kundig, die zur erfolgreichen Abwicklung von Geschäften vonnöten waren, mußte seine ganze Geschicklichkeit aufbieten, um seinen geistesabwesenden Freund aus der Reserve zu locken. »Das Mädchen ist doch sicher sehr anmutig, ja?«
Maxim zuckte zusammen. Finster zog er die Brauen zusammen, in seinen grünen Augen flammte es auf. Von Reijn wollte verdutzt weiterfragen, als sich plötzlich ein wahrer Sturzbach von Worten aus Maxims Mund ergoss.
»Weiber, pah! Ich schwöre dir, lieber Freund, das weibliche Geschlecht ist eine Plage für die Menschheit! Alle, eine wie die andere, haben es sich in den Kopf gesetzt, uns in die Knie zu zwingen. Sie können nicht logisch und vernünftig denken! Sie kennen weder Fairness noch Gerechtigkeitssinn!«
Maxims Worte verwirrten den Kapitän. »Aber deine Liebste… ich wollte sagen, deine Braut…«
Maxims Faust sauste auf die Tischplatte nieder. »Verdammt, ich, ein Mann mit Verantwortungsgefühl, muß erleben, daß meine Leute die Falsche erwischt haben, daß Arabella bei ihrem Angetrauten geblieben und an ihrer Stelle ihre Kusine entführt worden ist.«
»Die Falsche?« Die Augen des Kapitäns weiteten sich überrascht. Er ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken und starrte seinen Freund mit offenem Mund an.
»Ja, die arme Arabella, die zarte und sanfte, blieb zurück in den Händen ihres habgierigen Vaters. Gegen ihren Willen ist sie nun vermählt worden und muß sich diesem… diesem Hengst hingeben… und ich, der ich von dem Irrtum nichts ahnte, stürme nach meiner Ankunft die Treppe hinauf, um meine Braut zu umarmen, und werde von einer Furie empfangen.«
Maxim entging, daß von Reijn hochrot gegen einen Lachkrampf ankämpfte, bis er den Kopf beugte und nicht mehr an sich halten konnte.
»Ich habe diesem Biest geschworen, daß ich sie ihrer eigenen Sicherheit zuliebe nicht über die sturmgepeitschte See zurückschicken kann, sie aber will unbedingt ihren Willen durchsetzen und nicht begreifen, daß ich Kopf und Kragen riskiere, wenn ich mich nach England wage.«
Von Reijn nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas und schaffte es, seiner unterdrückten Lachkrämpfe Herr zu werden, während Maxim sich nur langsam beruhigte.
»So also ist das!« Mühsam bezwang sich Nikolaus und setzte sein Glas ab. »Jetzt ist mir alles klar, Maxim. Aber sag mir, wer ist die junge Dame? Sicher ist eine so hübsche und reizende…«
»Hübsch?« unterbrach ihn Maxim. »Reizend? Wahrhaftig, wenn einem seine Haut lieb ist, darf man sich ihr nur mit blanker Klinge und Schild nähern.« Wieder nahm er einen Schluck. In dem Maße, wie seine Stimmung sich besserte, meldete sich auch sein Hunger. Er griff nach einem Fleischhappen. »Sie heißt Elise Radborne. Eine Kusine der Stamfords. Arabella muß kurz ihre Gemächer verlassen haben, und dummerweise war gerade dieses Weibsstück dort, als meine Männer, die die eine nicht von der anderen unterscheiden konnten, sie entführten und hierher schafften.« Seine Stirnfurchen wurden tiefer. »Nikolaus, was soll ich nur mit dem Mädchen anfangen? Sie bringt mich schier zur Verzweiflung. Aber ich kann sie nicht nach England zurückbringen.«
Nikolaus zog die Schultern hoch. »Wenn dir dein Kopf lieb ist, mein Freund, dann ist die Antwort ganz einfach. Du mußt dich mit ihrer Gesellschaft zumindest vorübergehend abfinden. Aber sag mir noch eines, Maxim« – er konnte seine Ungeduld nur mühsam zügeln –, »da du für diese… Person nichts übrig hast, dann hast du vielleicht nichts dagegen, daß die Dame einen… wie sagt ihr Engländer doch gleich?… einen Anbeter hat?«
»Was sagst du da?« Wie vom Donner gerührt starrte Maxim seinen Freund an. »Du würdest einem Mädchen wie diesem den Hof machen?«
Nikolaus tat den Spott des anderen achselzuckend ab und neigte mit einem kaum merklichen Lächeln den Kopf zur Seite. »Ich finde die Dame kost… hm, ich meine sehr hübsch. Gewiß, sie hat einen ausgeprägten Willen, daneben aber auch viel Anmut. Eine Herausforderung für einen Mann mit Erfahrung und Geduld.«
Maxim schnaubte. »Dazu habe ich nichts zu sagen, da ich über sie nicht zu bestimmen habe. Wenn sie dich will, dann bin ich sie wenigstens los. Aber ich warne dich, wenn der Teufel in sie fährt…«
»So weit, so gut.« Von Reijn lachte. »Reitest du heute noch zurück?«
Maxim warf einen Blick zur Tür hin. Draußen heulte der Wind, und das dichte Schneetreiben dämpfte sein Verlangen zurückzukehren, doch es war unvermeidlich. »Ich muß wohl«, seufzte er, »ehe sie meinen zwei hohlköpfigen Dienern weitere Unannehmlichkeiten bereitet.«
Von Reijn griff zu einem Bratapfel, schälte ihn und verspeiste ihn genüßlich. »Mein Freund, wie du siehst, ist der Tisch reich gedeckt, und du mußt dich für den Ritt rüsten. Du bist mein Gast.« Damit stellte er eine Platte mit Bratente vor ihn hin und rieb sich die Hände. »Deine Geschichte hat meinen Appetit wiedergeweckt.«
Die zwei taten sich wortlos an den Speisen gütlich, und als Maxim nicht mehr konnte, spülte er den letzten Bissen mit dem Rest seines Glühweins hinunter.
Der Kapitän hob die Hand. »Um einen Gefallen bitte ich dich. Wenn du Elise siehst, dann sage ihr, daß ich sie am kommenden Freitag besuchen möchte. Um die Mittagszeit, denke ich. Natürlich bringe ich einen kleinen Imbiss mit. Wie ich gehört habe, steht es dort mit der Verpflegung nicht zum besten.«
Maxim lachte auf und klopfte von Reijn im Aufstehen auf die Schulter. »Du wirst mit zerschlagenen Hoffnungen wieder abziehen, fürchte ich, aber ich riskiere es und werde dem Mädchen deinen Besuch ankündigen.« Er holte den Lederbeutel hervor. »Ich möchte meine Schuld vorher begleichen, denn du wirst den Schrecken vermutlich nicht überleben.«
Nikolaus seufzte. »Viel Zinsen haben mir deine Schulden nicht eingebracht. Jetzt muß ich das Geld anderweitig anlegen, um einen entsprechenden Gewinn zu machen.«
»Da sehe ich keine Schwierigkeit«, erwiderte Maxim, der ihm die Münzen vorzählte. »Jetzt steht dir mehr Geld für andere Investitionen zur Verfügung.«
Der Hansekapitän seufzte. »Nein, Schwierigkeiten sehe ich auch nicht. Ich könnte mich an der Kauffahrt eines anderen beteiligen. Der Profit wäre höher, aber das Vergnügen viel geringer.«
»Vergnügen?« Maxim bedachte seinen Freund mit einem neugierigen Blick. »Wer würde schon in mein Vorhaben investieren?«
»Hör nicht auf meine Worte, lieber Freund«, winkte Nikolaus ab. »Richte nur dem Mädchen Grüße von mir aus.«
Als Maxim kurz vor Mitternacht Burg Hohenstein erreichte, lag alles in tiefer Stille. Seine Diener lagen schnarchend auf Strohsäcken in der Nähe des Kamins. Leise verriegelte er die wieder instand gesetzte Eingangstür und stahl sich die Treppe hinauf. Ehe er ins oberste Geschoß hinaufstieg, lauschte er angestrengt an Elises Tür. Nichts war zu hören. Neugierig drückte er die Klinke nieder. Die Tür war von innen verriegelt. Er nickte bedächtig. Genau dies hatte er erwartet.
In seinen Räumlichkeiten brannte noch das Feuer. Neben dem Kamin war vorsorglich Holz zum Nachlegen gestapelt, daneben stand ein Kessel, in dem das Wasser erwärmt werden konnte. Ein Blick nach oben zeigte ihm, daß seine Leute das Loch mit einer Stalltür abgedichtet hatten. Neben dem Kamin hingen nasse Decken zum Trocknen, auf dem Bett lag ein frischer Strohsack. Innen am Türrahmen waren Stützpfeiler angebracht worden, ein zurechtgehauener Bolzen lehnte daneben. Maxim ließ den Bolzen einrasten und steckte zusätzlich Keile dahinter, um vor den Streichen des jungen Mädchens sicher zu sein.
Dann breitete Maxim seinen Umhang und Wams vor dem Feuer aus, zog eine Bank heran und streifte die durchweichten Stiefel von den Füßen. Unruhig stand er wieder auf und lief im Raum auf und ab. Nachdenklich blieb er am Kamin stehen, lehnte sich an eine Wand und starrte in die Glut. Wie groß war seine Verwunderung, als plötzlich ein Teil der Holztäfelung unter seinem Gewicht nachgab. Mit den Fingern abwärts tastend, entdeckte er ein Scharnier und einen kleinen, geschickt hinter einem gewölbten Holzteil versteckten Eisenriegel. Er schob ihn hoch und drückte, bis der gesamte Paneelteil sich nach innen auf einen engen, finsteren Raum öffnete. Er entzündete eine Kerze am Kaminfeuer, drückte die Tür in der Täfelung noch weiter auf und trat hinein.
Er befand sich in einem kleinen, niedrigen Raum. Etwas weiter konnte er eine steile, schmale Wendeltreppe ausmachen. Von unbezähmbarer Neugierde erfasst, begann er die Stufen hinabzusteigen, bis die Treppe vor einem kurzen Gang endete. Maxim entdeckte einen kleinen Riegel, ähnlich dem in seinem Raum. Er zog daran, und die Tür gab unter der leichten Berührung nach. Er staunte nicht schlecht, als er an der Schwelle des Raumes stand, den Elise Radborne bewohnte!
Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, und Elise schien fest zu schlafen. Geräuschlos näherte er sich ihrem Bett. Ihre langen Wimpern lagen wie Schatten auf den dunklen Wangen, die weichen Lippen waren leicht geöffnet, ein Arm umgab als makelloser, elfenbeinerner Bogen den Kopf und enthüllte die Schulter und die obere Rundung ihrer Brüste. Maxim ließ den Blick auf ihrem Gesicht und auf der lockenden Fülle ihrer Brust ruhen. Im Schlaf wirkte die Kleine völlig harmlos und unschuldig.
»Hm, vielleicht hat Nikolaus mehr gesehen als ich«, sann er vor sich hin. Elise war von ungewöhnlicher Schönheit, die viel lebendiger wirkte als die der blassen Arabella. Maxim trat an den Kamin und legte Holz auf die glühenden Kohlen; dann entfernte er sich lautlos.
Zurück in seinem Zimmer, schürte er das Feuer in seinem Kamin, legte die Decken auf seinem Bett zurecht und zog sich aus. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als seine Gedanken zu dem Anblick von vorhin zurückschweiften, bevor er in tiefen Schlaf sank, ohne wieder von Arabella zu träumen.