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Die erstickende Umhüllung und das Gewicht der zwei Männer auf den Strohballen über ihr bereiteten Elise Höllenqualen. Die um den Stoff geschlungene Kordel schnitt ihr in die Arme; ihr Verstand aber arbeitete fieberhaft. Welche Gräueltaten standen ihr bevor? Diese Ungewissheit steigerte ihre Angst, und das gedämpfte Rumpeln der hölzernen Räder auf der holprigen Straße erschien ihr wie das Echo ihres wild pochenden Herzens. Nach vielen Versuchen schaffte sie es endlich, eine Hand unter die Hüfte zu schieben. Dabei entdeckt sie eine Öffnung in den Falten ihrer Umhüllung. Sie steckte die Hand durch und begann, die Seidenschnur nach einem Knoten abzutasten. Da ließ ein dumpfes Geräusch sie innehalten. Pferdegetrappel! Jemand hatte die Verfolgung aufgenommen! Jetzt nahte die Rettung!
Doch plötzlich verließ der Karren den Weg. Holpernd ging es ein Stück dahin, dann blieb er stehen; die Hufe wurden lauter, klapperten in unmittelbarer Nähe vorüber und verklangen. Wieder beherrschten die Geräusche der Nacht die Szene. Diese Stille dauerte jedoch nicht lange, denn alsbald näherte sich von neuem Hufschlag. Diesmal waren es mehrere Pferde, ein Dutzend oder mehr. In das Hufgetrappel mischten sich laute Rufe; unter den Wortfetzen hörte sie das laute, anfeuernde Gebrüll ihres Onkels heraus.
»Leute, reitet schneller! Wir bringen diesen teuflischen Schurken zur Strecke! Diesmal entwischt er uns nicht!«
Elise versuchte verzweifelt, die Reiter auf sich aufmerksam zu machen. Ein plötzlicher Tritt von oben gebot ihr Einhalt. Tränen der Enttäuschung liefen ihr über die Wangen, als der Lärm der wilden Jagd verklang und wieder tiefe Stille eintrat. In ihrer großen Eile war den Verfolgern entgangen, daß unweit des Weges jemand dringend der Rettung harrte.
Behutsam lenkte der Kutscher das Gefährt wieder auf den Weg zurück und fuhr weiter, eine Ewigkeit, wie es Elise schien. Ihre Finger waren auf keinen Knoten gestoßen, der sich lockern ließ, und das Liegen auf dem holpernden Karren wurde nahezu unerträglich. Mit jeder Meile wuchsen ihre Erschöpfung und Mattigkeit. Sie versuchte eine vernünftige Begründung für ihre Situation zu finden. Aus welchem Grund hatten diese beiden Unholde sie entführt? Was war ihre Absicht? Und wer war der einsame Reiter? Gewiß war es Maxim Seymour gewesen, der sie auf der Straße überholt hatte. Und ihr Onkel und eine kleine Gruppe seiner Gäste hatten ihn dann verfolgt. Aber sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, welchen Nutzen Seymour aus ihrer Entführung ziehen sollte. Hätte er sie gefangen nehmen wollen, so hätte er sie gewiß daran gehindert, die Halle zu verlassen. Statt dessen hatte er sie kaum eines Blickes gewürdigt, als sie hinauslief. Nein, nicht dieser Abtrünnige und Verräter war es, der ihre Entführung befohlen hatte. Es gab andere, die viel mehr Grund hatten, sie in ihre Gewalt zu bekommen. Cassandra und ihre Söhne beispielsweise. Oder der edle Earl Reland, der auf Rache sann.
Die Möglichkeit, daß ihre zwei Entführer von Menschen angestiftet worden waren, die denselben Namen trugen wie sie, verbesserte Elises Lage nicht. Geriet sie wieder in die Gewalt ihrer Tante und Vettern, dann würden sie ihre Widerstandskraft brechen.
Schon als Kind hatte Elise viel von den Ränken ihrer Tante Cassandra munkeln gehört, meist von Bediensteten, die dieses rachsüchtige Frauenzimmer verabscheuten. Wollte man diesen Gerüchten Glauben schenken, so war Cassandra schon zu Lebzeiten Bardolfs in seinen Bruder Ramsey verliebt und hatte dessen schöne, junge Gemahlin mit dem kastanienbraunen Haar gehasst. Für sie war die schöne Deirdre nichts weiter als ein namenloses Findelkind, für das Ramsey nur Mitleid empfinden konnte. Ihre Eifersucht und ihr Hass wurden noch weiter angestachelt, als die junge Frau einer Tochter das Leben schenkte. Cassandra, die sich strikt weigerte, das Mädchen als Familienmitglied anzuerkennen, hatte kühn behauptet, Elise sei keine Radborne, sondern wie ihre Mutter nur Nachkomme eines fahrenden Sängers. Und dann war jener Unglückstag gekommen, an dem Deirdre, kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes, einer unbekannten Krankheit erlag. Ramsey, der den Verlust seiner Frau tief betrauerte, ließ fortan seine Liebe uneingeschränkt der kleinen Elise zuteil werden, wie seine Schwägerin enttäuscht und verbittert feststellen mußte.
Im Laufe der Jahre hatte die immer misslichere Finanzlage Cassandras Ramsey große Sorgen bereitet, denn er wußte, daß es im Falle seines Todes um die Zukunft seiner Tochter schlecht bestellt war, falls es ihm nicht gelänge, Elises Vermögen dem Zugriff Cassandras zu entziehen. Zu diesem Zweck richtete Ramsey für Elise Konten bei Bankleuten seines Vertrauens ein. Gerüchten zufolge hatte er in jüngster Zeit viel Besitz veräußert und war häufig in geheimer Mission zu den Stilliards unterwegs gewesen. Diese Gerüchte hatten bei den Radbornes für Unruhe gesorgt. Warum hatte er zu nächtlicher Stunde große Truhen aus seinem Haus geschafft? Dies wußten Cassandra und ihre drei jüngeren Söhne von einem Bediensteten Ramseys ; sie hatten ihm das Geständnis unter der Folter abgepresst und hielten es daher für lautere Wahrheit.
Elise verzog das Gesicht, als der Karren um eine Kurve holperte und ihre Ferse schmerzhaft über ein rohes Brett schürfte. Nun, von ihrer Familie hatte sie keine bessere Behandlung zu erwarten. Im Gegenteil: Die Radbornes scheuten vor nichts zurück, wenn es ihren Zwecken diente. Vor allem Cassandras unstillbare Habgier flößte Elise Angst ein. Nach Ramseys Entführung waren Cassandra und ihre Söhne auf dem Sitz der Radbornes aufgetaucht, nicht etwa, um seine Tochter zu trösten; nein, sie behaupteten, Ramsey sei tot und seine Ländereien und das versteckte Vermögen könnten ohne ausdrückliche Billigung der Königin nicht in weibliche Hände übergehen. Der gesamte Besitz sei vielmehr rechtmäßiges Eigentum der Söhne Bardolf Radbornes, des älteren Bruders Ramseys, der den Titel geerbt hatte. Elise hatte sich geweigert, ihrer Tante irgendwelche Zugeständnisse zu machen, was diese so sehr erboste, daß sie zu harten Maßnahmen griff. Sie wurde noch wütender, als Quentin rettend eingriff, Elise auf seinen Landsitz schaffte und das Mädchen bei ihrem anschließenden Fluchtversuch ihrem Sohn Forsworth einen Schlag auf den Kopf versetzte.
Und jetzt werde ich wieder auf einem Karren an irgendeinen unbekannten Ort geschafft und befinde mich in fremder Gewalt, dachte Elise verbittert. Sie war sicher, daß ihr nichts Gutes bevorstand, und lähmende Furcht befiel sie, als der Karren anhielt und die zwei Männer abstiegen.
Einer der Männer sprach in gedämpftem Ton mit dem Kutscher, während der andere die Strohbündel entfernte und Elise im Licht einer Talgkerze ihre Entführer zum ersten Mal in Augenschein nehmen konnte. In den letzten Monaten hatte sie viele Bösewichte kennen gelernt, von der elegant gekleideten, scheinbar ewig jungen Cassandra und ihren Söhnen bis hin zu den elenden und verdorbenen Halsabschneidern des Londoner Freistattbezirkes. Zu ihrer Verwunderung mußte sie feststellen, daß ihre Entführer gar nicht so übel waren. Spence war groß und trotz seines hageren Aussehens kräftig, er hatte hellbraune Haare und gutmütige graue Augen; Fitch dagegen war kleiner, stämmiger und irgendwie birnenförmig. Seine Haare standen wirr ab, und seine blauen Augen zwinkerten fröhlich. Keinem der beiden hätte man die Missetat zugetraut, die sie begangen hatten.
In dem Kutscher erkannte Elise einen Mann, der in den Stallungen von Bradbury beschäftigt war. Sie schwor sich, daß seine Komplizenschaft bei der Entführung bekannt würde, sollte sie jemals wieder nach Bradbury zurückkehren. Enttäuscht mußte sie jetzt zusehen, wie er zungenschnalzend den Wägen wendete und den Weg zurückfuhr, den sie gekommen waren.
Elise bemerkte nun, daß man sie an ein Flussufer gebracht hatte. Nirgends waren ein Boot, ein Fahrzeug oder Reittiere zu entdecken. Was wollten sie hier? Wollten die Männer sie ermorden? Oder sich an ihr vergehen? In ihrer lebhaften Phantasie verwandelten sich die Männer zu Ungeheuern. Als sie einen abgebrochenen Ast in der Gabelung eines nahen Baumes entdeckte, wich sie vorsichtig und unauffällig so weit zurück, daß sie das eine Ende fassen konnte. Kaum kam Fitch in ihre Nähe, holte sie mit aller Kraft aus und versetzte ihm einen schmerzhaften Hieb auf seinen Kopf. Mit einem lauten Aufschrei taumelte der Mann gegen seinen erschrockenen Gefährten. Diesen Moment der Verwirrung nutzte Elise und rannte mit hochgerafften Röcken verzweifelt auf den nahen Wald zu. Die beiden Entführer fassten sich und nahmen schreiend die Verfolgung auf. Spence hielt eine Laterne vor sich, denn es war stockfinster, und Elise hatte durch ihr schwarzes Kleid einen zusätzlichen Vorteil. Doch das Dunkel des Dickichts, in dem Elise sich bewegte, blieb von dem schwachen Lichtkreis unberührt. Sie war den beiden, die kopflos hinter ihr hertrampelten, ein ganzes Stück voraus, da sie mit ihren leichten Schuhen rasch vorankam. Wie eine kleine, flüchtige Elfe flog sie zwischen den Bäumen dahin. Hin und wieder warf sie einen Blick über die Schulter zurück. Ihr Herz pochte vor freudiger Erregung, als sie sah, wie die beiden Männer immer weiter zurückblieben – die Freiheit lag zum Greifen nahe.
Doch nachdem Elise eine Lichtung überquert hatte, sah sie plötzlich ihren Weg von einem Dickicht versperrt. Hastig suchte sie nach einer Möglichkeit, ins Unterholz einzudringen – ohne Erfolg. Nur nicht aufgeben! Vorsichtig trat sie den Rückzug an und überquerte die Lichtung in entgegengesetzter Richtung, um wieder zwischen den Bäumen zu verschwinden. Als der Laternenschein der Verfolger sich näherte, wich sie noch tiefer in den Wald zurück und verschmolz mit dem Dunkel der Nacht. Reglos, mit angehaltenem Atem verharrte sie, voller Angst, ihr aufgeregt pochendes Herz könnte sie verraten.
Die Männer, die nicht ahnten, wie nahe sie ihnen war, stürmten weiter, bis auch sie sich vor dem undurchdringlichen Dickicht geschlagen geben mußten. Sie trennten sich und liefen in entgegengesetzter Richtung weiter, um das Gehölz zu umgehen. Elise wagte sich vorsichtig aus dem Zuflucht bietenden Dunkel, raffte ihre Röcke und lief zu jener Stelle zurück, wo sie zu Beginn ihrer Flucht in den Wald eingedrungen war. Ihre Füße flogen geradezu über den laubbedeckten Boden, und wieder glaubte sie ihre Freiheit vor sich. Da verfing sich ihre Schuhspitze in einer Ranke. Im Fall stieß sie einen Schrei aus, und ehe sie sich wieder gefaßt hatte, kamen Fitch und Spence mit Riesenschritten auf sie zugelaufen.
»Hände weg!« fuhr Elise die beiden an, als sie ihr auf die Beine helfen wollten. Sie staunte nicht schlecht, als sie gehorsam zurücktraten. Im Licht der Laterne zupfte sie nun trockene Blätter und Zweige aus dem Haar und schüttelte den Rock ihres Samtgewandes aus. Als sie ihre äußere Erscheinung wieder einigermaßen in Ordnung gebracht hatte, streckte sie Spence die Hand entgegen.
»Vorsicht, ich bin verletzt«, warnte sie ihn. Als er in seinem Eifer gegen ihren Knöchel stieß, schrie sie vor Schmerzen auf: »O mein Gott, mein Knöchel!«
»Mistreß, es tut mir wirklich leid«, entschuldigte sich Spence. Wieder bückte er sich, um sie hochzuheben, diesmal mit mehr Vorsicht.
Seine offensichtliche Besorgnis verwirrte Elise. »Ich möchte endlich wissen, was ihr vorhabt«, forderte sie mit Nachdruck. »Warum werde ich entführt? Haben euch die Radbornes gedungen? Haben sie euch Geld versprochen, wenn ihr mich ihnen ausliefert?«
Spence schüttelte verständnislos den Kopf.
»Nein, Mistreß. Wir kennen keine Radbornes.«
Seine Versicherung überzeugte Elise nicht. Für ihre Tante und deren Söhne war es ein leichtes, sich beim Anheuern von Helfershelfern falscher Namen zu bedienen. In jüngster Zeit hatte Elise es sich zur Gewohnheit gemacht, unter ihrem Reifrock ständig eine gefüllte Börse bei sich zu tragen, um für alle Umstände gerüstet zu sein. Ihre augenblickliche missliche Lage forderte den Einsatz dieses Geldes geradezu heraus, doch sollten die beiden nicht wissen, daß sie eine größere Summe bei sich hatte. Viel vorteilhafter war es, wenn sie die Entführer im Glauben ließ, die Belohnung erwarte sie im Haus ihres Onkels. »Wenn ihr mich zurück nach Bradbury Hall bringt, verspreche ich euch eine angemessene Summe für eure Mühe. Ich schwöre euch, sie wird höher sein als jene, die ihr von euren Auftraggebern zu erwarten habt. Bitte… ihr müßt mich zurückbringen… ich werde es euch reichlich lohnen.«
»Seine Lordschaft trug uns auf, Euch nach London zu schaffen, und das werden wir tun.«
»War es etwa Lord Forsworth?« lachte Elise verächtlich auf. »Ach, falls der euch angeheuert hat, dann laßt euch gesagt sein, daß er kein Lord ist und zudem arm wie eine Kirchenmaus.«
»Mistreß, sein Geld soll Euch nicht bekümmern. Das braucht Seine Lordschaft bei uns nicht. Wir hängen ihm so treu an wie Fische dem Wasser.« Spences treuherzige Antwort ließ erkennen, daß er sich von seiner Absicht nicht abbringen lassen würde. Fitch leuchtete mit der Laterne, während sein Gefährte Elise ans Ufer trug. Dann stellte Fitch die Laterne hin und faßte ins Schilfdickicht nach einem Tau, an dem er kräftig zog, bis ein Boot zum Vorschein kam. Sodann machte er sich eilig daran, im Heckteil ein weiches Lager zu bereiten und einige Felle auszubreiten. Darauf bettete Spence seine Gefangene.
Fitch ließ sich in der Mitte des Bootes nieder, stellte die Laterne neben sich und ergriff die Ruder. Mit kraftvollen Schlägen ruderte er aus dem Uferbereich in die Flussmitte, wo er ein Kielschwert ausbrachte und einen kleinen Mastbaum aufrichtete. Dann setzten die beiden Männer ein kleines dreieckiges Segel, und das Boot glitt flussabwärts dahin.
Die Laterne wurde gelöscht, und sie waren von Nacht umgeben. Elises Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit. Zu beiden Seiten konnte sie die dunkle Masse des Ufers erkennen. Die hohen Schatten des Segels und der Männer hoben sich vom quecksilbern schimmernden Fluss ab, während sich hinter ihnen das hellere Kielwasser in der Finsternis verlor. Elise zog die Felle enger um die Schultern und schlief ein ; sie konnte einigermaßen sicher sein, daß die zwei Entführer einen bestimmten Auftrag auszuführen hatten und weder Vergewaltigung noch Mord im Sinn hatten.
Ihr schien, als wären erst ein paar Augenblicke vergangen, als ein dumpfer Aufprall sie weckte. Sie sah nach oben, wo das Geäst eines großen Baumes ein luftiges Dach über ihrer kleinen schwimmenden Lagerstätte formte. Über den ausladenden Ästen jagten tiefhängende graue Wolken über den trüben Himmel, und heftige Windstöße zerrten an der Baumkrone. Die Windstöße nahmen an Heftigkeit zu, tobten durch die Wälder, fegten über den Fluss und wühlten seine Oberfläche auf. Von einer langen Seilschlinge gesichert, trieb das Boot übers Wasser, prallte gegen einen umgestürzten Baumstamm und schaukelte wieder zurück zum Uferschilfgürtel.
Die misstönenden Schnarchlaute ihrer Entführer durchschnitten die morgendliche Stille und riefen Elise ihre Situation in Erinnerung. Vorsichtig versuchte sie sich zu strecken, bis sich ihre schmerzenden Muskeln lockerten und sie sich aufrichten konnte. Ihr Blick fiel zunächst auf Fitch, der am Ufer unter einem Baum schlief. Gegen die feuchte Kälte seines Laubbettes schützte er sich mit einer Decke, während er seinen Wams als Kissen unter den Kopf gelegt hatte.
Ihr Blick fiel auf das Tau, das mit dem einen Ende am Bug des Bootes befestigt war. Das andere Ende war an einem überhängenden Ast festgebunden. In der Astgabel erspähte sie Spence. Auf ihn war offenbar die letzte Wache gefallen, und er hatte den Baum erklettert, damit er seine Gefangene von oben besser im Auge behalten konnte. Das lose Ende des Seiles hatte er einige Male um seinen Knöchel gewunden, um das Boot zusätzlich zu sichern, falls er einschlafen sollte. Sein Schnarchen stand dem seines am Boden liegenden Gefährten nicht nach.
Während Elise noch ihre Fluchtmöglichkeiten abwog, löste das Schicksal eine Kette von Ereignissen aus. Der Wind blies noch heftiger, und die Strömung trieb das Boot so weit hinaus auf den Fluss, daß der Ast unter der ungeheuren Spannung des Seils brach. Er fiel ins Wasser und gab die Schlinge frei. Sofort schoß das Boot hinaus zur Flussmitte, wo es von stärkerer Strömung erfasst wurde. Da Elise das Boot nur vorne belastete, drehte es sich wie ein Kreisel um die eigene Achse, so daß das Seil sich um die Ruderpinne verhedderte, sich straffte und Spence von seinem luftigen Sitz gerissen wurde. Alle viere von sich gestreckt, landete er im Wasser und tauchte unter. Das seichte Wasser reichte ihm bis zur Mitte, und sein Fuß fand augenblicklich, wenn auch nur kurz, Halt auf dem Grund. Die Zugkraft des Bootes war so stark, daß es ihn gleich wieder wegriss. Panisch schrie er auf.
Der Lärm riß Fitch aus dem Schlaf. Die Panik in Spences Stimme war nicht überhörbar. Erschrocken sprang Fitch auf. Barfuss in ausgebeulten Beinlingen und lose flatterndem Hemd, war sein Anblick schon sonderbar genug, wurde aber noch von dem seines Gefährten übertroffen, der über eine flache Sandbank gezerrt wurde, während das Boot buglastig stromab trieb. Der Gedanke an Seine Lordschaft, der die beiden streng ermahnt hatte, ihre Gefangene auf keinen Fall entwischen zu lassen, machte ihm Beine. Mit Riesenschritten und rudernden Armbewegungen rannte er das Ufer entlang einer Stelle zu, von der aus er die Fahrt des flüchtigen Bootes aufzuhalten hoffte. Elise warf einen Blick zurück zu dem im Wasser treibenden Spence. Irgendwie hatte er es geschafft, das Tau zu fassen. Laut prustend und schnaubend hantelte er sich nun immer näher an das Boot heran. Elise kroch nach hinten zur Ruderpinne, doch das Seil hatte sich fest darum gewickelt und ließ sich nicht lösen. Sie packte eines der Ruder, schob das lange, unhandliche Ding über das Heck hinaus und versuchte, ihren halbertrunkenen Entführer am Näher kommen zu hindern, so daß Spence wüste Drohungen gegen sie ausstieß.
Der Kiel schürfte über den Grund, und als Elise sich umsah, bemerkte sie, daß Fitch sich triumphierend von einer flachen Klippe dem Boot direkt in den Weg warf. Wasserspeiend und nach Atem ringend, kam er an die Oberfläche und schwamm dem Boot entgegen.
Ein Ruck am Boot ließ Elise herumfahren. Spences große Hände fassten nach der Bordwand. Sie versuchte wieder, mit dem Ruder auszuholen, doch es war zu unhandlich und zu schwer, um als wirksame Waffe zu dienen. Das hintere Ende des Ruders prallte gegen den Mastbaum, so heftig, daß sie fast über Bord gefallen wäre. Fitch hatte das Boot erreicht und stemmte sich triefend hinauf. Schreiend ging Elise auf ihn los und wollte ihn mit dem Ruder zurückstoßen. Sie verlor ihr Gleichgewicht, als auch Spence sich über die Bordwand schwang und dabei unabsichtlich gegen die Ruderpinne stieß. Diese schnellte herum, und das Boot begann gleich einem liebestollen Walross wie trunken zu schlingern. Elise stürzte ins eisige Wasser. Kaum hatte sie sich vom Schock erholt, tauchte sie auf und schnappte gierig nach Luft. Zähneknirschend mußte Elise sehen, wie die zwei Männer das Boot in ihre Gewalt gebracht hatten.
Diese starrten sie entsetzt an und verrieten ihr, welchen Anblick sie bieten mußte: Schilf auf dem Kopf, nasse Haarsträhnen im Gesicht, die gestärkte Krause wie die schlaffe Zierde einer unglückseligen Wassernixe um den Hals.
Obwohl das Wasser nicht sehr tief war, schaffte es Elise wegen ihrer nassen Röcke nicht, auf die Beine zu kommen. Verzweifelt suchte sie mit den Füßen Halt, stemmte sich hoch und spürte, daß ihre einst so eleganten Schuhe im Schlick versanken. Trotz Aufbietung aller Kraft gelang es ihr nur, sich zur Kauerstellung aufzurichten.
Fitch hatte inzwischen das Ruder zu fassen bekommen und versuchte damit, das Boot wieder flottzubekommen. Er stützte sich mit dem Ruder ab und brachte das Boot in ihre Nähe. Als er ihr die Hand reichte, tat er es mit ausdrucksloser Miene.
Hocherhobenen Hauptes kehrte sie ihm den Rücken zu und stapfte mit ihren triefenden Röcken durch den Schlamm ans Ufer. Kaum hatte sie festen Boden unter den Füßen, mußte sie sich zusammennehmen, um nicht vor Kälte mit den Zähnen zu klappern, während die zwei Männer das Boot an Land zogen. Elises verächtlichem Blick ausweichend, machten sie sich daran, ein Feuer zu entfachen. Die als Hülle überflüssig gewordene Draperie hängten sie über ein Seil zwischen zwei Bäumen, damit Elise sich dahinter zurückziehen konnte.
Hinter diesem provisorischen Paravent entledigte Elise sich ihrer Kleidung und versteckte ihre Börse fürs erste in einem hohlen Baumstamm. Die Männer breiteten die nassen Sachen am Feuer aus, während Elise sich notdürftig in die Felle hüllte. Spence war es gelungen, einen Hasen zu fangen, der nun, sorgfältig abgezogen, bald an einem Stecken über den Flammen brutzelte. Brot, Käse und Wein ergänzten das Mahl. Zwar schmeckte der Hase zäh, doch das Essen genügte, um Elises Hunger zu stillen. Kühl bedankte sich Elise bei den Männern für ihre Portion.
»Ihr solltet Euch jetzt ausruhen«, riet Spence ihr. »Sobald es dunkelt, geht es weiter.«
Ihr Samtgewand würde bis dahin kaum trocknen. »Was soll ich anziehen?« fragte sie. »Mein Gewand ist ruiniert, im Wasser habe ich einen Schuh verloren. Alles ist noch ganz nass!«
Spence entfernte sich kurz und kehrte dann mit einem Paar Lederschuhen, einem ausgefransten Wollkleid und einem Mantel aus festem Gewebe zurück. »Da wäre etwas, falls Ihr es zu tragen geruht«, bot er ihr die Kleidungsstücke an. »Einfaches Zeug, das seinen Zweck erfüllt, damit wir ohne Aufsehen an unser Ziel gelangen.«
Elise blickte finster drein. Sie hatte keine Ahnung, welches Ziel diese armselige Kleidung erforderlich machte. Daß sie nicht in luxuriöser Umgebung landen würde, war anzunehmen. Sie nahm die Sachen, da es töricht war, ein nasses Kleid zu tragen, und die Felldecken nicht ausreichten. Sie trocknete ihr Haar am Feuer, kämmte es mit den Fingern und ließ es lose auf die Schultern fallen. Als ihre Wäsche einigermaßen trocken war, zog sie sich hinter die Abschirmung zurück, nahm ihren Reifrock und machte daraus einen schmalen, gepolsterten Reifen, in den sie ihre Börse stopfte. Sie zog ihre Unterröcke an, schloß das Mieder des Wollkleides, zog die Schnüre um die Taille ganz eng und steckte die Füße in die Lederschuhe. Der graue Wollumhang, dessen Kapuze sie tief ins Gesicht zog, sorgte für Wärme, wie sie dankbar feststellte.
Die Nacht war fast hereingebrochen, als Elise sanft wachgerüttelt wurde. Nur widerstrebend lieferte sie den Männern die Felldecken aus, die im Boot für sie wieder als Unterlage dienen sollten.
»Ich werde mir noch den Tod holen«, klagte sie, »aber was kümmert das euch? Pah, ihr seid zwei herzlose Halunken. Noch aus dem Grab werde ich Rache fordern, das schwöre ich.«
»Nein, Mistreß, das stimmt nicht. Uns liegt Eure Sicherheit am Herzen, mehr als die eigene«, erklärte Spence.
Elise sah ihn zweifelnd an. »Nun, Spence, ich kann jedenfalls bezeugen, daß du deinen Pflichten nicht nachkamst. Eher möchte ich die Klageschreie der Geister aus dem Totenreich hören als weiterhin deiner Fürsorge ausgeliefert sein. Mein schwacher Körper ist alldem nicht gewachsen.«
Spence fehlten die Worte, um den Zorn des Mädchens zu besänftigen, das sich aus gutem Grund so aufregte. Er konnte ihr auch nicht verübeln, daß sie alle Schuld ihm und Fitch zuschob. Seine Lordschaft hatte sie beide zur Verschwiegenheit verpflichtet, und seinen Schwur wollte er halten, auch wenn er sich allmählich vorkam wie ein Unhold.
Am besten, er machte dem Mädchen ein warmes Plätzchen im Boot zurecht. Und das tat er denn auch und polsterte es mit Fellen aus. Die schönste Felldecke aber ließ er ihr als Zudecke gegen die kalte Nachtluft. Ihre nassen Sachen wurden ebenfalls in ein Fell gewickelt und im Boot verstaut, wenngleich es zweifelhaft war, ob sie je wieder Verwendung finden würden. Er half seiner Gefangenen ins Boot und deckte sie sorgfältig zu, denn es war eine kostbare Fracht, die man ihrer Obhut anvertraut hatte.