11
Zuerst erschien der Traum über den Römer. Wroth wartete ungeduldig, dass die ihm bereits bekannte Szene vorbeiging – er begehrte mehr zu sehen. Aber wollte er das wirklich? Würde er danach einfach weitermachen können?
Zu spät, es war geschehen. Er wusste, dass er die Schleusen geöffnet hatte und er diese Träume nun vom Anfang bis zu ihrem grauenvollen, perversen Ende ansehen musste.
Myst hob langsam ihren Rock. Doch dann fühlte Wroth etwas Neues: Ihm kroch ein eisiges Schaudern den Rücken hinauf, als sie auf den Römer mit seinen feuchten Lippen und den hastigen Bewegungen hinabsah. Sie schämte sich für ihren Ekel und schloss ihn aus ihren Gedanken aus. Sie war der Köder. Sie würde tun, was auch immer nötig war, um ihre Schwester zu befreien.
»Ich werde Myst die Vielbegehrte besitzen …«
Niemand besitzt mich, außer in seiner Fantasie. Ich werde dich genauso leicht töten wie ich dich küsse … Der Römer trachtete danach, sie zu seinem Spielzeug zu machen, so wie er es in den letzten sechs Monaten mit Daniela getan hatte.
Plötzlich blickte Myst auf, und Wroth sah durch ihre Augen. Lucia trug Daniela auf ihren Armen. Der Körper des Mädchens hing schlaff hinunter, der größte Teil ihrer eisigen Haut schien verbrannt zu sein. Da begriff Myst: Daniela war gefoltert worden von diesem Tier zu ihren Füßen, durch seine bloße Berührung. Die vertraute Wut kochte in ihr hoch. Beherrsche sie … Nur noch einen Moment länger … »Und ich werde dein sein, nur dein«, schnurrte sie.
Als Lucia ihr ein Zeichen gab, nickte Myst und entzog ihren Fuß seinen Lippen, was ein lautes, schmatzendes Geräusch erzeugte, das sie erschauern ließ. Sie tippte mit dem großen Zeh an die knollenförmige Nase des Mannes.
In einem Tonfall, der vor Sinnlichkeit förmlich triefte, sagte sie: »Vermutlich wirst du nicht überleben, was ich gleich tun werde« – ihre Stimme hatte sich in ein gehauchtes Flüstern verwandelt, das ihren Worten zuwiderlief und den Mann verwirrte – »aber solltest du es doch tun, lerne daraus und sag es allen weiter, dass man niemals« – ein Tippen mit dem Zeh – »und unter gar keinen Umständen« – tipp – »einer Walküre etwas zuleide tun sollte.«
Damit schleuderte sie ihn quer durch den ganzen Raum.
Eine weitere Szene begann. Es war diejenige mit den Wikingern, die zu sehen er immer am meisten gefürchtet hatte. Die Männer kamen näher. Er konnte hören, dass sie so tat, als ob ihr die Luft ausginge und sie stolperte. All das war Teil des Spiels.
Einer rempelte sie an und riss sie mit sich in den Schnee. Die anderen hielten ihre Arme fest. Sie heuchelte Angst, wehrte sich nur schwach. Während die anderen laut Beifall grölten, kniete sich ein stämmiger Wikinger zwischen ihre Beine und sagte zu ihr: »Ich hoffe, du hältst länger durch als die letzten beiden.«
Hinter dem Kopf des Mannes leuchtete ein Blitz auf, eine Windbö folgte. Einige der Männer blickten sich beklommen um, lachten nervös.
»Die letzten beiden waren Angritte und ihre Tochter Carin«, erklärte Myst ihm. Carin, so jung und arglos sie sein mochte, hatte aus irgendeinem Grund erkannt, was Myst war. »Schwanenmaid«, hatte das Mädchen geflüstert und sie damit bei einem der schönsten Namen für Walküren gerufen.
Sowohl die leichtsinnige Mutter als auch ihre unschuldige Tochter waren ermordet worden, erstickt unter dem Gewicht dieser Männer, als sie von ihnen geschändet wurden.
»Ich werde länger leben als sie – und du.« Eine Veränderung ging vonstatten, eine Art Blutgier überkam sie, wilde, animalische Gedanken, die Wut …
Das Stirnrunzeln war der letzte Gesichtsausdruck im Leben dieses Mannes. Myst erhob sich und schüttelte die kräftigen Männer mit Leichtigkeit ab. Sie hatte Carin für ihre Unschuld und ihr frohes Wesen geliebt, und diese Bestien hatten Myst dieser Dinge beraubt, ja, die ganze Welt, die dadurch wieder ein bisschen armseliger geworden war.
Während Blitze den Himmel erhellten, bahnte sie sich blindwütig einen Weg durch die Männer. Als alle bis auf einen tot am Boden lagen, sagte sie zu dem, dem sie gestattete weiterzuleben: »Jedes Mal wenn du daran denkst, Jagd auf eine Frau zu machen oder ihr Gewalt anzutun, frage dich, ob sie nicht vielleicht wie ich ist. Ich habe dich verschont, aber meine Schwestern würden dich mit einer einzigen Bewegung ihrer Klauen entmannen, ihr Zorn wäre unvorstellbar.« Als sie sich mit dem Arm übers Gesicht strich, stellte sie fest, dass es nass war.
Myst hockte sich hin und beugte sich so dicht über den Mann, dass sie ihr Spiegelbild in seinen Augen sehen konnte. »Es gibt Tausende von uns. Sie leben entlang der ganzen Küste und warten.« Ihre Augen waren silbern, ihr Gesicht blutverschmiert. Der Mann war vor Todesangst wie erstarrt. »Und ich bin eine der Sanften.«
Sie wandte sich von ihm ab, wischte sich die Hände ab und sagte zu sich selbst: »So setzt man Gerüchte in die Welt.«
Doch ihre Großtuerei fiel von ihr ab, als sie zu den grob behauenen Grabsteinen auf dem Hügel am Meer kam, unter denen Carin und ihre Mutter lagen. »Du dummer Mensch«, zischte sie am Grab der Mutter. »Du seist verflucht in deiner Hölle. Warum hast du mir nicht gehorcht? Ich hatte dir doch geraten, Carin im Frühling, wenn sie herunterkommen, ins Landesinnere zu bringen. Haltet euch von den Küsten fern«, sagte sie. Ihre Stimme brach, und ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, als sie sich dem Grabstein des Mädchens zuwandte. Sie schmiegte sich eng an ihn, ihr Gesicht an die kunstlose Inschrift gelegt. Dann schlug sie ihren Kopf mit voller Wucht gegen den Stein, und ihr Blut tropfte aus der entstandenen Risswunde.
Und so blieb sie, bewegte sich tagelang nicht, während die Dorfbewohner am Fuß des Hügels Wache hielten und Opfer wie für eine Göttin darboten, damit sie ihnen Schutz und ihre Gunst schenkte.
Wroth überlief bei dem Schmerz, den Myst gar nicht zu fühlen schien, ein Schaudern – ihre blutverschmierte Hand war am Stein festgefroren, ihre Muskeln waren verkrampft und ihre Haut rau von der Kälte. Am dritten Tag fand ihre Schwester Nïx sie und hob sie auf, als ob sie federleicht wäre. Die Tränen auf ihrem Gesicht waren zu Eis erstarrt.
»Schhhh, Myst«, murmelte Nïx. »Wir haben schon von deiner Rache gehört. Sie werden nie wieder einem Mädchen etwas antun. Genau genommen bezweifle ich, dass dieser ganze Verein jemals wieder diese Küste belästigen wird.«
»Aber … das Mädchen«, flüsterte Myst verwirrt. Erneut flossen Tränen. »Sie ist einfach fort.« Das letzte Wort war ein Schluchzen.
»Ja, mein Schatz«, sagte Nïx. »Und sie wird niemals wiederkehren.«
Myst weinte bitterlich. »Aber … aber es tut weh, wenn sie sterben.«
Nïx drückte einen Kuss auf Mysts Stirn und murmelte: »Und das tun sie immer.«
Mysts Leid erfüllte Wroths Herz mit Schmerz, wie er ihn noch durch keine körperliche Wunde je gespürt hatte. Sie war vor den Männern davongerannt, weil diejenigen, die ein »hilfloses« Mädchen jagen würden, dem Tode geweiht waren. Wroth wünschte sich, er könnte bei dieser Erinnerung bleiben, sich vergewissern, dass sie sich von dem höllischen Schmerz erholte, aber schon begann ein weiterer vertrauter Traum.
Draußen lag Schnee, so hoch, dass er das halbe Fenster bedeckte. Die Versammlung um das Kaminfeuer. »… sie anleiten, all das zu sein, was an den Walküren gut und ehrenhaft war …«
Myst verschloss sich gegen eine Erinnerung – die er unbedingt sehen musste –, die sie niemals ungeschehen machen konnte, niemals auslöschen. Sie erinnerte sich und schwor noch einmal, dass sie sich als würdig erweisen würde.
Sie befand sich zum ersten Mal auf dem Schlachtfeld, und sie war dort, um unter den Toten zu wählen. Sie war noch sehr jung, als man sie zu diesem Zweck ausgeschickt hatte, kaum fünfzehn, da sie die Tochter einer tapferen Piktin war, die sich den Dolch ins eigene Herz gestoßen hatte. Von Myst wurde erwartet, dass sie genauso war.
Aber das war sie nicht. Noch nicht. Sie war krank vor Angst.
Einhunderttausend Männer, in Stücke gehauen, sie watete in einem Strom von Blut, der ihr bis zu den Knöcheln reichte.
»Sie waren alle tapfer«, sagte sie. Sie sah sich um, drehte sich benommen im Kreis, während die Energie in Wellen aus ihr herausströmte. »Wie soll ich da wählen?«, flüsterte sie. Sie klang verloren. »Eine Bettlerin, die ein paar Münzen verteilt …« Sie begann vor Furcht hemmungslos zu zittern.
Er wäre am liebsten dort gewesen, um sie zu beschützen, zu trösten.
Eine weitere Erinnerung. Diesmal eine, die ihm neu war. Konnte er noch mehr ertragen?
Myst rannte auf ihn zu, als er nach kurzer Abwesenheit nach Blachmount zurückkehrte. Und als er sie in die Arme nahm, fest an sich drückte und sie küsste, dachte sie: Ich bin ihm in die Arme gelaufen. Ich bin ihm … Wahnsinn. Echt Wahnsinn.
Wroth erinnerte sich, wie sie sich von ihm gelöst hatte, ihr Gesicht war gerötet gewesen, und sie wirkte fast panisch, machte dumme Witze über die Xbox, sagte, sie fühle sich ein wenig wie Bobby Brown, weil sie ihn mit diesem süchtig machenden Spiel bekannt gemacht habe.
Jetzt wusste er, wieso sie in Panik ausgebrochen war. Man hatte Myst, wie auch all ihren Schwestern, beigebracht, dass sie ihren wahren Partner erkennen würden, wenn er sie mit offenen Armen erwartete und sie erkannte, dass sie bis ans Ende der Welt rennen würde, um sich ihm in die Arme zu werfen.
Wroth erwachte von seinem eigenen Schrei. Er schlug wild um sich und tastete verzweifelt nach ihr. Alles, was er von ihr gedacht hatte, war falsch gewesen. Sein Herz schmerzte bei der Erinnerung an ihren Verlust und ihre Angst. »Du bist frei. Myst …«
Das Bett war leer.
Er sprang auf die Füße und suchte das Zimmer ab. Was er fand, war ein blutiger Zettel auf dem Tisch neben dem Bett, unter dem Kreuz. Ein Herz für ein Herz …
Er wurde von grauenhafter Angst gepackt, die seinen Verstand betäubte, während Panik, scharf wie eine Klinge, seinen Körper durchbohrte. Halb taumelte er, halb translozierte er sich in sein Arbeitszimmer, wo sein Blick auf die Wand mit dem Safe fiel. Zu seinem Entsetzen sah er keinen Safe, aber als er mit zunehmend flauem Gefühl in der Magengegend näher herantrat, entdeckte er Blut auf dem Stein, in dem er eingebettet gewesen war – Blut, das jemand vergossen hatte, der den Stein in wilder Raserei mit seinen Klauen bearbeitet hatte. Sie hatte sich hindurchgegraben, um an ihre Kette, ihre Freiheit, zu gelangen.
Wroth fiel mit gesenktem Kopf auf die Knie. Seinem Brustkorb entrang sich ein kehliger Schmerzenslaut. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er ihr mit Folter gedroht, nur um ihr im Anschluss die Freiheit zu rauben.
Und dann …
Ein Herz für ein Herz. Sie hatte seines wieder zum Schlagen gebracht. Hatte er ihres gebrochen?
Er hatte sie verloren. Und das zu Recht.