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Vor fünf Jahren
Burg Mount Oblak, Russland
Wenn dieser übergroße Vampir nicht bald aufhörte, ihr ins Gesicht zu starren, würde nicht einmal sein überragendes Geschick mit dem Schwert seinen Kopf auf den Schultern halten können.
Dieser Gedanke ließ Myst – eine Unsterbliche, die auch als die Vielbegehrte bekannt war – grinsen, während sie sich auf dem Fenstersims ihrer Zelle zusammenkauerte. Gegen die verstärkten Gitterstäbe gelehnt, beobachtete sie die Schlacht der beiden Vampirarmeen unter ihr, als ob sie von den hinteren Tribünen aus einer harmlosen Rauferei zusehen würde.
Der arme Kriegsherr mit seinen breiten Schultern und dem pechschwarzen Haar stand kurz davor, sich zu einer Legion anderer Männer zu gesellen, deren letzter Anblick auf Erden ihr lächelndes Gesicht gewesen …
Sie runzelte die Stirn, als er sich duckte und seinen Feind durchbohrte. Er war ein riesiger Mann, wenigstens zwei Meter groß, doch überraschend schnell. Sie neigte den Kopf zur Seite und musterte ihn. Sie kannte sich mit Kämpfen aus, und sein Stil gefiel ihr. Niederträchtig. Erst versetzte er dem Gegner eins mit dem Schwert, um gleich darauf mit der Faust zuzuschlagen, oder aber er wich einer Parade aus und teilte mit dem Ellbogen aus. Es amüsierte sie zuzuschauen, aber was würde sie nicht darum geben, dort unten mitzukämpfen. Da, wo es am heißesten herging. Gegen beide Seiten. Gegen ihn.
Sie kämpfte noch niederträchtiger.
Sein Blick schweifte immer wieder ab zu ihr. Einmal hatte er seinem Feind sogar den Todesstoß versetzt, während seine Augen immer noch zu ihr hinaufstarrten. Sie hatte ihm einen Kuss zugeworfen, und das von ganzem Herzen, da sie beschlossen hatte, es als einen Tribut zu sehen.
Selbst während er mit donnernder Stimme seine Befehle gab und die Vampirarmee um ihn herum kommandierte – und sich dabei als brillanter Stratege erwies –, fand er noch die Zeit, ihren Blick zu erwidern. Sie studierte ihn, als ob sie eine Dokumentation über entscheidende Schlachten im Fernsehen betrachten würde, und nahm widerwillig die Effektivität der Säuregranaten und Gewehre zur Kenntnis.
Die Geschöpfe der Mythenwelt verachteten menschliche Waffen wie diese. Menschen waren die Einzigen, die mit solchen Waffen getötet werden konnten, daher wurde dies allgemein als grob unsportliches Verhalten angesehen. Und doch hatten diese Geschosse etwas für sich. Abgesehen davon, dass sie ein Outfit ruinieren konnten, fügten sie nicht zu unterschätzende Schmerzen zu und waren in der Lage, einen Unsterblichen für kostbare Sekunden außer Gefecht zu setzen. Lange genug, dass ein niederträchtiger Kämpfer dem Gegner den Kopf abschlagen konnte. Wenn man dieses Manöver nur oft genug wiederholte, half es durchaus dabei, sogar eine »uneinnehmbare« Burg einzunehmen wie die Ivos des Grausamen.
Myst war es allerdings ziemlich gleichgültig, dass Ivo, ihr Kerkermeister und Folterknecht, kurz davor stand, von diesem Kriegsherrn mit seinen verbotenen modernen Waffen den Arsch aufgerissen zu bekommen. An ihrer Lage würde sich nichts ändern, denn auch diese Rebellen – gewandelte Menschen, die unter dem Namen Devianten bekannt waren – waren immer noch Vampire. Ein Blutfeind ist ein Blutfeind ist ein Blutfeind …
Eine Explosion erschütterte die Burg, und von der Decke in Mysts Zelle rieselten Funken und Staub herunter. Die niederen Kreaturen in den feuchtkalten Kammern am Ende des Korridors heulten vor ohnmächtiger Wut, ein Spektakel, das sich mit jeder neuen Explosion noch steigerte, bis es … vorbei war. Hier und da noch ein Nachbeben, ein gedämpftes Wimmern …
Die Verteidigung der Burg war zusammengebrochen, existierte nicht mehr. Ihre Bewohner waren verschwunden, indem sie ihre Fähigkeit zur Translokation – so wurde Teleportation in der Mythenwelt genannt – eingesetzt hatten. Sie hinterließen nicht mehr als einen leichten Luftzug und die verbrannten Aufzeichnungen ihrer Horde.
Sie konnte die Rebellen hören, die die Burg jetzt bis in die tiefsten Tiefen durchsuchten, aber sie hätte ihnen gleich sagen können, dass sie nicht einen ihrer Feinde auffinden würden. Die Burgbewohner gehörten nicht zu der Sorte »Kämpf bis zum Tod«, sondern eher zum Typ »Wer kämpft und davonläuft, bleibt am Leben, um auch am nächsten Tag noch davonlaufen zu können«.
Kurze Zeit später vernahm sie das Geräusch schwerer Stiefel auf dem Steinboden des Kerkers, und sie wusste, dass es der Kriegsherr war. Er kam auf direktem Weg auf ihre Zelle zu und blieb davor stehen.
Von ihrem Hochsitz, im Fenster zusammengekauert, studierte sie den Vampir aus der Nähe. Er hatte dichtes, glattes schwarzes Haar, das ihm in ungleichen Strähnen ins Gesicht hing. Zweifellos hatte er es vor einigen Monaten mit seiner Klinge abgeschnitten und seitdem nicht mehr daran gedacht, es nachzuschneiden. Einen Teil dieser Strähnen hatte er sich mithilfe einiger dünner, wirrer Flechten aus dem Gesicht gebunden, wie sie die Berserker zu tragen pflegten. Seine Hände wiesen Narben auf, und sein gewaltiger Körper war kräftig und muskulös. Am liebsten hätte sie geschnurrt, denn wer auch immer hier das Drehbuch schrieb, er hatte ihr den perfekten maskulinen Kriegsherrn gesandt.
»Komm von dort herunter und zeige dich.« Tiefe Stimme. Russischer Akzent, vermögend, aristokratisch.
»Sonst …? Wirst du mich in deinen Kerker werfen lassen?«
»Vielleicht werde ich dich freilassen.«
Sie stand an den Gittern, noch ehe er Zeit gehabt hatte, den Blick vom Fenster herabzusenken. Hatte sich da etwa seine Kinnlade ein kleines bisschen herabgesenkt? Sie horchte auf eine Beschleunigung seines Herzschlags, wurde allerdings enttäuscht, da sein Herz überhaupt nicht schlug. Dann war der Vampir also Single? Seine Augen zeigten nicht jenen roten Dunstschleier, der bei anderen Vampiren das Kennzeichen ihrer Blutgier darstellte, was bedeutete, dass er noch niemals ein Lebewesen bis zum Tode ausgesaugt hatte. Aber schließlich verzichtete er als Deviant grundsätzlich darauf, Blut auf direktem Wege aus dem Fleisch zu sich zu nehmen.
Als er ihr Gesicht aus der Nähe sah, war der Schlüssel zwar nicht sogleich im Schloss, wie es für gewöhnlich der Fall war, doch seine Lippen teilten sich, sodass sie seine Fänge sehen konnte. Selbstverständlich waren sie sexy – nicht zu auffällig, nicht mal sehr viel länger als die Eckzähne eines Menschen.
Als sie die herrliche kurze Narbe sah, die sich über seine beiden Lippen zog, schlug draußen vor der Burg der Blitz ein, doch er zuckte weder zusammen noch blickte er auch nur auf. Er war zu sehr damit beschäftigt, sie anzustarren.
Narben – oder besser gesagt jeder äußerliche Hinweis auf Schmerz – zogen Myst an. Aus Schmerz wurde Stärke geschmiedet. Stärke erzeugte Elektrizität. Und der da konnte sie ihr geben.
Möglicherweise verbarg er unter einer dieser dicken Strähnen sogar noch ein fehlendes Auge.
Sie erstickte ein kehliges Knurren, als ihre Hand hervorschoss, um ihm das Haar aus dem Gesicht zu streichen. Aber er war schnell und erwischte ihr Handgelenk. In einer bittenden Geste krümmte sie einen Finger, und nach einem kurzen Moment ließ er sie los und gestattete ihr, die Bewegung zu vollenden. Als sie ihm das Haar zurückstrich, trat ein kantiges, maskulines Gesicht zutage, das vom Schmutz und der Asche der Schlacht bedeckt war.
Er besaß immer noch beide Augen, und sie strahlten eine unglaubliche Intensität aus. Grau wie das Metall seiner Schusswaffen.
Als sie die Hand wieder senkte, zog er die Augenbrauen zusammen, vielleicht aufgrund ihres unverhohlenen Interesses oder vielleicht weil ihre Finger bereits einladend die Gitterstäbe liebkosten, während sie auf seinen Mund starrte. Es überraschte sie, wie sinnlich sie ihn fand, vor allem da der Vampir eben seinen Mund dazu einsetzen konnte, sie zu verletzen.
Die glatte Goldkette, die sie seit Jahrtausenden um ihre Taille trug, schien plötzlich schwerer zu werden.
»Was bist du?«, fragte er mit seiner angenehm tiefen Stimme. Erst da wurde ihr bewusst, dass sein Akzent nicht Russisch, sondern der des benachbarten Estland war. Der General war also Este, was ihn zu einer Art Nordrusse machte, obgleich sie sicher war, dass er diese Beschreibung nicht gutheißen würde.
In Beantwortung seiner Frage blickte sie ihn finster an und zog ihr Haar zurück, um ihm ihr spitzes Ohr zu zeigen. »Nichts?« Sie öffnete den Mund und berührte mit der Zunge ihre kleineren, im Augenblick zurückgezogenen Fänge. Kein Wiedererkennen.
Offensichtlich stimmten die Gerüchte. Sie hatte einen Anführer dieser Armee vor sich, höchstwahrscheinlich einen General, und er hatte keine Ahnung, dass sie seine Todfeindin war. Er würde annehmen, sie gehörte den Feyden oder Nymphen an. Die Feyden wären ihr da schon lieber, denn wer mochte schon gern mit diesen anderen kleinen Schlampen verwechselt werden.
Sie schüttelte den Kopf. Solange er nur nicht wusste, dass sie eine Walküre war, war es für sie in Ordnung.
Die nichts ahnenden Devianten umzubringen, würde für sie und ihre Schwestern ein Leichtes sein. Zu leicht. Es war fast so, als ob ihnen ihr persönlicher Weihnachtsmann zu einer geheimen Bescherung verhalf.
Myst sah soeben die in der Mythenwelt kursierenden Gerüchte bestätigt, die von Ärschen und Gesichtern raunten und von der Unfähigkeit der Horde, das eine vom anderen zu unterscheiden.
»Was bist du?«, fragte Nikolai Wroth noch einmal, überrascht, dass seine Stimme so fest klang.
Als er sie im Licht gesehen hatte, hätte er erstaunt nach Luft geschnappt, wenn seine Art denn geatmet hätte. Sie war unglaublich liebreizend, von einer Schönheit, die aus der Ferne des Schlachtfelds nur andeutungsweise zu erkennen gewesen war. Ihr Gesicht hatte ihn so in seinen Bann gezogen, dass er dafür Kopf und Kragen riskiert hatte.
Obwohl sie offenkundig von ihm erwartete, ihre Art zu erkennen, war das Einzige, das er mit Sicherheit sagen konnte, dass sie kein Mensch war und dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was sie sein könnte. Ihre Ohren sprachen für die Feyden, aber außerdem besaß sie noch diese winzig kleinen Fänge.
»Befreie mich«, sagte das Geschöpf. Makellose Haut, korallenrosa Lippen, flammend rotes Haar. Die Augen, die ihn abschätzend musterten, flackerten in einem unmöglich erscheinenden Grün.
Die Art, wie sie die Gitterstäbe umfasste, war anzüglich – alles an ihr war … anzüglich.
»Schwöre meinem König die Treue, und ich werde dich befreien.«
»Das kann ich nicht, aber ihr habt kein Recht, mich hier festzuhalten.«
Sein Bruder Murdoch kam vorbei, hob angesichts von Nikolais Entdeckung die Augenbrauen und murmelte »Du lieber Himmel« auf Estnisch. Dann ging er weiter. Wieso war Nikolai unfähig, dasselbe zu tun?
»Wie heißt du?« Er war es nicht gewohnt, dass seine Fragen nicht beantwortet wurden.
Wieder strich sie über die Gitterstäbe. »Welchen Namen hättest du denn gerne?«
Er verzog das Gesicht. »Bist du ein Vampir?«
»Das letzte Mal, als ich es überprüft habe, war ich es nicht.« Ihre Stimme war sinnlich. Ihren Akzent vermochte er nicht einzuordnen, aber er war wie Honig – süß und samtig.
»Bist du frei von jeglicher Arglist gegen uns?«
»Ach du liebe Güte, nein!«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ich liebe es, Blutsauger umzubringen.«
»Dann verrotte hier.« Als ob sie imstande wäre, einen Vampir zu töten. Sie war kaum mehr als anderthalb Meter groß und zart gebaut – abgesehen von ihren üppigen Brüsten, die ihre enge Bluse zur Schau stellte.
Kurz bevor er sich abwandte, sah er, wie sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen verengten.
»Ich rieche Rauch«, rief sie ihm hinterher. »Ivo der Grausame hat seine Aufzeichnungen verbrannt, ehe er geflohen ist, hab ich recht?«
Wroth blieb stehen. Er ballte die Fäuste, weil er zurückgehen musste.
»Das hat er«, stieß er, wiederum vor der Zelle angekommen, mit rauer Stimme aus.
»Und die Armee dieses neuen Königs besteht aus lauter Devianten – gewandelten Menschen? Es ist völlig bedeutungslos. Ich bin sicher, der König kennt die überaus umfangreiche Liste der Feinde der Vampirhorde innerhalb des Mythos nur allzu genau. Er hat keinerlei Bedarf für die Jahrtausende zurückreichenden Aufzeichnungen dieser Burg. Genau genommen bin ich sogar sicher, dass diese nicht der Grund sind, wieso ihr diese Festung den vier anderen vorgezogen habt – die Residenz des Königs eingeschlossen.«
Wieso nur wusste sie so gut über ihre Absichten Bescheid?
Wroth konnte Schlachten und Belagerungen planen – seinen Rang hatte er sich ausschließlich durch Siege verdient –, aber er wusste nichts über diese neue Welt, um der Armee einen Vorteil zu verschaffen. Unglücklicherweise war er da nicht der Einzige.
Der Blinde, der die Blinden anführt … Das hatte Kristoff leise vor sich hingemurmelt, als sie den schwelenden Haufen Asche gefunden hatten, der einmal das Archiv gewesen war.
»Glaubst du, du könntest dir die Freiheit erkaufen? Wenn du tatsächlich über Informationen verfügst, bin ich in der Lage, sie dir zu entreißen.«
»Folter?«, fragte sie lachend. »Einen Ratschlag kann ich dir schon vorweg geben: Ich würde dir nicht empfehlen, mich der Folter auszusetzen. Es missfällt mir, und Kneifzangen stimmen mich verdrießlich. Es wäre ein Fehler.«
Die … Dinge in den anderen Zellen – von den meisten hatte er noch nie gehört und hätte sie sich in seinen kühnsten Träumen auch nicht vorstellen können – begannen bei ihren Worten zu heulen und zu grunzen.
»Aber lass uns nicht streiten, Vampir. Befreie mich, und dann gehen wir auf dein Zimmer und unterhalten uns.« Sie streckte ihm ihre zerbrechlich aussehenden Hände entgegen. Ein Aschefleck hob sich auffällig von ihrer alabasterfarbenen Haut ab.
»Das werden wir nicht tun.«
»Du wirst mich rufen lassen. Du wirst dich in deinem neuen Quartier einsam und missgelaunt fühlen. Ich könnte dich mein Haar streicheln lassen, bis du einschläfst.«
Er näherte sich ihr und senkte die Stimme, um sie in aller Ernsthaftigkeit zu fragen: »Du bist wohl verrückt?«
»Wie – ein – Hutmacher«, flüsterte sie in verschwörerischem Ton zurück.
Er verspürte einen Hauch Mitgefühl für dieses Geschöpf. »Wie lange bist du schon hier?«
»Schon seit vier langen … nicht enden wollenden … Tagen.«
Er starrte sie finster an.
»Darum möchte ich, dass du mich mitnimmst. Ich esse nicht viel.«
Der ganze Kerker hallte von Gelächter wider.
»Jetzt halt mal die Luft an!«
»Aber das tust du doch schon, Deviant.«
»Woher weißt du, was ich bin?«
»Ich weiß alles.«
Wenn das der Wahrheit entsprach, verfügte dieses Wesen über einen Reichtum, den sie selbst nicht besaßen.
»Lass sie doch«, rief Murdoch an der Pforte des Kerkers. Seine Brauen waren zusammengezogen, zweifellos verwirrte ihn das Interesse seines Bruders. Nikolai war noch nie hinter Frauen her gewesen. Als er noch ein Mensch war, hatten sie sich entweder ihm genähert oder er war ohne Frau ausgekommen. Und in Kriegszeiten hatte er keine Zeit gehabt. Als Vampir verspürte er kein Verlangen. Nicht, ehe er seine Braut fand.
Er schüttelte den Kopf über diese wahnsinnige, feydenhafte Kreatur und zwang sich weiterzugehen, obwohl er meinte, sie flüstern zu hören: »Ruf nach mir, General.« Die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf.
Er folgte seinem Bruder zu Kristoffs neuem Empfangszimmer. Ihr König starrte aus einem der großzügigen Fenster, dessen Läden in wenigen Stunden bei Anbruch der Morgendämmerung geschlossen werden würden, in die klare Nacht hinaus. Als er sich zu ihnen umwandte, wirkte sein hageres Gesicht erschöpft.
Wroth vermutete, dass es ihm schwergefallen war, andere, gebürtige Vampire – seine eigene Art – zu töten, ganz gleich, wie wahnsinnig sie waren, und ganz gleich, ob sie seinem Onkel Demestriu folgten, der vor Jahrhunderten die Krone unrechtmäßig an sich gerissen hatte. Wroth kannte solche Bedenken nicht. Auch er war erschöpft, jedoch nur aufgrund seiner Verletzungen, und sein Schwertarm war überstrapaziert, nachdem er sich durch die Reihen seiner Feinde geschlagen hatte.
»Konnten Teile der Aufzeichnungen gerettet werden?«, erkundigte sich Wroth ohne große Hoffnungen. Wenn die Vampire der Burg genauso viel Energie auf den Kampf wie auf das Verbrennen verwendet hätten, hätten sie Oblak möglicherweise halten können. Ihre Flucht widerte ihn an. Wenn man sein Heim verteidigte, verteidigte man es bis zum Tod.
Er hatte es getan.
»Nein«, erwiderte Kristoff.
Ohne die Aufzeichnungen würde ihre Ignoranz sie umbringen. Kristoff, der rechtmäßige König, war von Menschen aufgezogen worden, weit entfernt von Demestrius’ Wirkungsbereich. Er hatte jahrhundertelang unter ihnen gelebt, ohne seine wahre Natur aufzudecken, hatte dadurch jedoch nur wenig über die Mythenwelt erfahren. Seine Armee bestand aus menschlichen Kriegern, die er gewandelt hatte, als sie auf dem Schlachtfeld im Sterben lagen, sodass auch sie über keinerlei Kenntnisse verfügten. Bevor Wroth Kristoff wie einen Todesengel über sich hatte stehen sehen, hatte er Vampire für eine Ausgeburt der Fantasie gehalten.
Die Regeln dieser neuen Welt waren komplex und widersprachen oft seiner Intuition. Zudem verfügten sie nur über wenig mehr als Mutmaßungen und das, was sie im Laufe der Jahrhunderte durch schmerzhafte Erfahrung gelernt hatten. Sie waren in einer Art Zwielicht gefangen – nicht menschlich, und doch von allen Faktionen des Mythos gleichermaßen gemieden. Die Wesen der Mythenwelt verbargen sich in den Schatten, flohen aus jedem Landstrich, den Kristoffs Armee besetzte, arbeiteten zusammen, um stets einen Schritt voraus zu sein. Wroths menschliche Erfahrung sagte ihm, dass sie inzwischen einige Informationen hätten sammeln müssen, doch die Realität sah so aus, dass sie sich auf einer vollkommen anderen Ebene zu bewegen schienen. Dieselben Anstrengungen, die seit jeher darauf verwendet wurden, die Mythenwelt vor den Menschen geheim zu halten, wurden darauf verwandt, auch Kristoffs Soldaten im Dunkeln zu lassen.
»Irgendein Zeichen von Conrad oder Sebastian?«, fragte Kristoff.
Wroth schüttelte den Kopf. Er hatte seine Brüder nicht mehr gesehen, seitdem sie gewandelt worden waren, allerdings war ihm zu Ohren gekommen, dass sie in eine Auseinandersetzung mit gebürtigen Vampiren geraten waren. Auch wenn Murdoch und er nicht erwartet hatten, ihre Brüder hier vorzufinden, hatten sie doch gehofft, die beiden könnten sich in den Verliesen der Burg befinden, die sie gemäß ihrer Strategie als Nächstes hatten einnehmen müssen.
»Vielleicht in der nächsten Feste der Horde.«
Wroth nickte, obwohl er es bezweifelte. Er spürte, dass sein jüngster Bruder, Bastian, tot war, und vermutete, dass der Verstand des nächstältesten, Conrad, unerreichbar war, selbst wenn er gefunden werden könnte. Die beiden hatten das ewige Leben, das ihre älteren Brüder ihnen aufgezwungen hatten, nicht gewollt.
Murdoch musterte einen Schnitt in seinem Arm. Die Wunde schien ihm überhaupt keine Sorgen zu bereiten, aber schließlich schien es nichts zu geben, was ihn wirklich kümmerte. Auch wenn sie einander sehr ähnlich sahen, hätten sie von ihrer Persönlichkeit her gar nicht unterschiedlicher sein können. Wroth glaubte an Kristoffs Sache. Er sah zahlreiche Parallelen zu seiner eigenen Vergangenheit und wollte den Kampf fortführen. Murdoch hingegen scherte sich darum nicht die Bohne. Wroth hatte den Verdacht, dass sein Bruder nur ihm zu Gefallen den Kampf fortsetzte – oder weil ihnen jetzt nichts anderes übrig blieb.
»Nikolai hat ein Wesen im Kerker entdeckt«, sagte Murdoch. »Es scheint über beträchtliche Kenntnisse der Mythenwelt zu verfügen.«
»Was für ein Wesen?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Nikolai. »Sie ähnelt den Feyden mit ihrer zarten Gestalt und den spitzen Ohren. Aber sie besitzt dazu noch diese kleinen … Fangzähne, und ihre Fingernägel glichen eher … Klauen. Jedenfalls ist sie kein Vampir.«
Kristoff sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Vielleicht entstammt sie mehr als einer Spezies?«
»Vielleicht.« Noch mehr Mutmaßungen. Wroth hatte es so satt. Er wollte die Regeln des Spiels kennen, um es zu beherrschen.
»Finde heraus, was du nur kannst.«
»Sie wird nicht reden. Ich habe genug Verhöre durchgeführt, um zu wissen, dass sie höchstens Andeutungen machen, aber nie wirklich etwas preisgeben wird. Und sie hasst Vampire.«
Kristoff rieb sich die Stirn. »Nun gut … Also, wenn wir bis morgen Abend die Informationen nicht von den restlichen Gefangenen erhalten haben, behandeln wir sie so, wie es die Horde, die sie hasst, getan hätte. Wenn du die Informationen auf keinem anderen Weg von ihr bekommen kannst, dann foltere sie.«
Wroth nickte, auch wenn ihm der Plan nicht gefiel. Als Mensch hatte er seinen Feinden gegenüber auch nie Gnade walten lassen, aber niemals hatte er eine Frau gefoltert. Doch in Wahrheit war sie überhaupt keine Frau, rief er sich ins Gedächtnis zurück. Sie war ein weibliches Wesen der Mythenwelt, und das Überleben der ganzen Armee könnte von ihrem Wissen abhängen.
Vielleicht hatte er nur noch nie eine Frau gefoltert, weil er dazu noch nie Veranlassung gehabt hatte.
Das Geschöpf hatte recht gehabt, dachte Wroth, als ihm eine Wache den Weg zu seinen neuen Gemächern wies. Er würde sie tatsächlich zu sich rufen.
Wenn er auch noch nicht wusste, was er dann mit ihr anstellen würde …