5
Die Ausdünstungen des Sumpfes und der Duft von Hotdogs und säuerlichem Bier stiegen Myst und ihren Schwestern in die Nase, während sie hoch oben über dem Chaos, das man Bourbon Street nannte, auf einem Dach hockten.
Es ging das Gerücht, dass sich Vampire in New Orleans herumtrieben. Wenn es sich nur um einen vereinzelten Bericht über das Auftauchen von Blutsaugern gehandelt hätte, befänden sich Regin, Nïx und sie immer noch in Val Hall, ihrem Herrenhaus am Bayou, und würden Videospiele spielen. Aber ein befreundeter Dämon hatte Stein und Bein geschworen, er habe einen zu Gesicht bekommen, und das Wispern eines Phantoms hatte sie darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht nur eine, sondern zwei Vampirfaktionen gebe.
Myst ließ den Blick über die Szene unter ihr schweifen, bemüht, sich zu konzentrieren und nicht von den Pärchen ablenken zu lassen, die sich in dunklen Gassen aneinanderrieben. Wenn Daniela hier wäre, würde sie ihnen einen Kuss zuwerfen und sie damit abkühlen, Hände würden mitten im heißesten Gefummel an Hinterteilen festfrieren, bis ihre Schwestern sich vor Lachen über das Dach kugelten. Myst dachte, dass Walküren vermutlich leicht zu belustigen waren.
Aber es hatte keinen Sinn, sich zu konzentrieren, denn seit sie wusste, dass Vampire hier waren, spielte ihr Herz verrückt. Selbst wenn sie aus irgendeinem Grund in die Neue Welt gekommen waren, die die Horde seit jeher für vulgär und unter ihrer Würde hielt, hieß das noch lange nicht, dass er unter ihnen war.
Wroth. Eins der wenigen Dinge in ihrem Leben, die sie zutiefst bedauerte.
Jeden Tag grübelte sie darüber nach, dass sie diesen Vampir nicht mit diesen Qualen hätte zurücklassen dürfen. Sie hätte ihn umbringen sollen.
Regin warf ihre Klinge in die Luft, fing die Spitze mit ihrer Klaue auf und warf sie gleich noch einmal nach oben. »Wisst ihr was? Nicht dass ich glaube, dass es hier tatsächlich Vampire gibt – das ist alles nur dummes Gewäsch –, aber wenn doch, sollten sie wissen, dass das hier unser Revier ist.«
»Sollten wir sie vielleicht zu einer kleinen Prügelei bitten? Oder lieber zu einer Party?«, erkundigte sich Nïx, die sich gerade rasch ihr taillenlanges schwarzes Haar zu einem Zopf flocht. »Ich habe gehört, die sind der Renner auf jeder Halloween-Feier.« Trotz der altmodischen Haartracht und des ein oder anderen verwirrten Blicks – sie sah die Zukunft deutlicher als die Gegenwart – sah Nïx wie ein Supermodel aus.
»Ich mein’s ernst«, sagte Regin. »New Orleans mag ja früher einmal der mystische Schmelztiegel der ganzen Welt gewesen sein, aber heute haben wir die Macht hier.«
»Wir könnten doch Mysty die Vampirhegerin in den Kampf gegen sie schicken«, sagte Nïx nachdenklich. »Oh, Augenblick mal, sie würde glatt mit ihnen durchbrennen.«
»Oder ihren berühmt-berüchtigten Zungenschlag einsetzen, um sie bei lebendigem Leib abzuschlecken, während sie unerklärlicherweise Schlange stehen, um sich ihrer Folter auszuliefern«, fügte Regin hinzu.
»Haha«, murmelte Myst, die ohnehin nur mit einem Ohr zuhörte. Solche Frotzeleien waren nichts Neues. Aber das hatte sie verdient. Da hätte sie sich auch gleich dabei erwischen lassen können, wie sie sich mit dem Geist von Ted Bundy ein Pfeifchen Kokain reinzog. Natürlich hatten andere die Witze mitbekommen, die man im Koven über sie machte, und die hatten es weitergesagt. Selbst andere Faktionen der Mythenwelt – wie die Nymphen, diese kleinen Nutten – lästerten schon über ihre abartige Vorliebe für Vampire. Aber es ging gar nicht um Vampire im Allgemeinen – nur um einen einzigen.
Wroth. Sie erschauerte. Mit seinen ausdauernden, heißen Fingern …
Spät in der Nacht, wenn sie sich in ihrem Bett selbst berührte, träumte sie immer von ihm, dachte an seine harte Brust und seinen noch härteren Schaft, stellte sich seine Wildheit, seine Leidenschaft vor, sollte er sie jemals wiederfinden.
Eigentlich, dachte sie, hätte er sie inzwischen durchaus finden können. Sie hatte ihn – versehentlich? – ihr Blut kosten lassen, und ihm damit möglicherweise ihre Erinnerungen gegeben, die ihn auf direktem Wege hierherführen könnten. Wie oft hatte sie schon über jenen leichtsinnigen Kuss nachgegrübelt. Sie hatte keinerlei bewusste Absicht gehabt, ihn ihr Blut schmecken zu lassen, aber sie musste tief in ihrem Inneren gewusst haben, dass er seine Fänge bei der Ankunft ihrer Schwestern ausfahren und sie rasiermesserscharf sein würden. Hatte sie am Ende gewollt, dass er sie irgendwann fand?
Sie schüttelte den Kopf, sie musste bei der Sache bleiben. Irgendwo dort unten waren Annika, Daniela und Lucia.
»Guckt mal.« Regin zeigte auf jemanden unter ihnen. »So große Männer sollten sich lieber nicht volllaufen lassen.«
Myst richtete ihr Augenmerk auf einen hochgewachsenen Mann, der sie von hinten an Wroth erinnerte – warum konnte sie sich diesen Vampir nicht aus dem Kopf schlagen? –, obwohl dieser hier sehr viel schlanker war. Der Mann lehnte sich gegen einen anderen riesigen Kerl und hielt sich an ihm fest, um während des Gehens das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sie merkte, dass sich ihre Klauen krümmten.
»Myst, kannst du das nicht sein lassen?«, fragte Regin nach einem kurzen Blick auf ihre Klauen. »Das ist echt peinlich.«
»Aber ich kann nichts dagegen tun. Ich steh nun mal auf große Männer mit breiten Schultern. Und ich wette, unter seinem Trenchcoat verbirgt sich ein Arsch, der nur darauf wartet, angegrapscht zu werden.«
Nïx kam ihr zu Hilfe. »Und schließlich kann sie sich nicht einfach Pflaster drüberkleben …«
»Heilige Scheiße!«, rief Regin. »Ich seh da ein Glimmen. Ghule, da hinten an der Ursulines Avenue!«
»Verdammt«, murmelte Myst. »Schon wieder in aller Öffentlichkeit? Dann haben sie’s wohl dringend nötig, neue Rekruten zu finden.« Ghule waren besessene Kämpfer und immer darauf aus, ihre Anzahl zu erhöhen, indem sie Menschen mit ihren ansteckenden Bissen und Kratzern wandelten. Sie besaßen zähflüssiges grünes Blut, und jedes Mal wenn der Koven wieder einmal in den Kampf gegen sie zog, wurde die Gegend um New Orleans ziemlich schleimig.
»Schon wieder.« Nïx seufzte. »Und irgendwann glauben die betrunkenen Touristen uns auch nicht mehr, dass das nur Komparsen aus einem Science-Fiction-Film sind.«
Regin ließ ihre Klinge in eine Scheide an ihrem Unterarm gleiten. »Hiermit erkläre ich New Orleans offiziell zum Originaldrehort von Stargate, Teil zwölf.« Sie erhob sich. »Dann wollen wir uns die Ghule mal zur Brust nehmen. Du bleibst hier und hältst Ausschau nach Vampiren.« Sie stieß ein geisterhaftes Huu-huuu! aus. »Und versuch bitte, ihnen nicht gleich dein Hinterteil anzubieten, okay?«
Während Myst nur die Augen verdrehte, hakten ihre Schwester einander unter und sprangen vom Dach, wobei ihre Bewegungen so schnell waren, dass das bloße Auge ihnen kaum folgen konnte. Wie immer vermochte niemand sie zu sehen, und wenn doch, dann würde es in dieser Stadt, die bei den Geschöpfen der Mythenwelt so beliebt war, niemandem weiter auffallen.
Myst betrachtete das ferne Glühen prüfend. Es war nicht allzu ausgedehnt – nichts, womit ihre Schwestern nicht fertigwerden würden. Nïx als die Älteste war sehr stark, und Regin war gerissen. Außerdem hatte Myst neue Stiefel an, und sie würde auf gar keinen Fall ein weiteres Paar an den epischen Kampf zwischen butterweichem italienischem Leder und Glibber verlieren. Dieser Kampf hatte schon zu viele Opfer gefordert. Es war ausgesprochen traurig. Wirklich.
Sofort wurde ihre Aufmerksamkeit wieder von dem Mann auf der Straße angezogen. Sie hob eine Augenbraue. Wenn seine Vorderseite seiner Hinteransicht entsprach, wäre sie durchaus versucht. Es war schon eine Ewigkeit her, seit sie zum letzten Mal ein bisschen Spaß gehabt hatte, und sie hatte es sich doch redlich …
Sie sog scharf die Luft ein und drückte sich eng an die Dachgaube. Als sie in die Gasse hinuntergespäht und das Profil des Mannes gesehen hatte, war ihr klar geworden, dass der vermeintliche Trunkenbold gar nicht betrunken war. Der Körper, den sie die ganze Zeit angegafft hatte, war der ihres von ihr »getrennt lebenden Ehemanns«, wie der Koven ihn gerne nannte, um sie zu necken.
Sein unsicherer Gang war nicht das Ergebnis übermäßigen Alkoholgenusses, sondern seiner Schwäche. Sein Körperbau wirkte fremd, weil er Gewicht verloren hatte. Und der, der ihm half, war sein Bruder Murdoch. Er half Wroth dabei, sie zu finden.
Zitternd kroch sie über das Dach, wobei sie sich stets eng an die Dachgauben schmiegte, in der Hoffnung zu entkommen, ehe er sie sah.
Er blieb stehen, hob den Kopf, sodass er über die tosende Menge um ihn herum hinwegsah, und drehte sich abrupt in ihre Richtung.
Sein Blick fiel direkt auf sie. Seine Augen waren schwarz, animalisch, und sahen sie besitzergreifend an. Als Murdochs Blick dem seines Bruders folgte, wirkte seine Miene beinahe mitleidig. Er klopfte Wroth noch kurz auf die Schulter, ehe er sich forttranslozierte.
Das Blut wich aus ihrem Gesicht. Mit einem Satz sprang sie auf das Dach des benachbarten Gebäudes, erhöhte ihr Tempo, um …
Sie schrie laut auf, als Wroths abgezehrtes Gesicht direkt vor ihr auftauchte – er hatte sich ebenfalls transloziert. Sie rannte in die andere Richtung, aber er packte sie um den Oberkörper und drückte sie an sich, sodass sie gegen seine pralle Erektion gepresst wurde. Sie stieß ihm den Ellenbogen gegen die Kehle, befreite sich aus seinen Armen und stürzte sich über den Rand des Daches. Etwas wackelig landete sie auf Händen und Füßen in einem von hohen Mauern eingerahmten Hinterhof, um sich gleich darauf wieder aufzurappeln und dem düsteren Ort durch einen weiteren Satz zu entkommen. Aber selbst ihre Geschwindigkeit konnte gegen seine Translokation nichts ausrichten.
Wieder packte er sie, presste sich von hinten an sie, und obwohl sie sich nach Kräften wehrte, war er doch sogar in seinem Zustand – oder vielleicht auch wegen seines Zustands – stärker als sie. Eine seiner Hände zerrte ihren kurzen Rock hoch.
»Wroth! Tu das nicht!«
»Fünf Jahre in der Hölle«, gab er mit höhnischer Stimme zurück, während er sie grob begrapschte. »Du verdienst es, gefickt zu werden, bis du keinen Schritt mehr gehen kannst.«
Sie erbebte. »Dann erhebt der Kriegsherr jetzt also Anspruch auf seinen Preis?«, stieß sie keuchend hervor. »War ja klar, dass du dir deine Braut nimmst, ganz gleich, ob sie zustimmt oder nicht. Dann willst du es in mein Gedächtnis einbrennen, dass du mich gezwungen hast?«
Nach einer kurzen Pause erwiderte er: »Nein. Oh Gott, nein.« Sie spürte, wie er sich ein wenig von ihr löste. »Myst«, stöhnte er, »fass mich einfach nur an.« Er ergriff ihre Hand, führte sie nach hinten und legte sie erst um seinen schweren Hodensack, dann um seinen Schaft. Nie zuvor hatte sie etwas derart Hartes gefühlt. »Reibe ihn«, flüsterte er ihr heiser ins Ohr. Sie erschauerte, als sie die Feuchtigkeit spürte. »Weiter kann ich ohne dich nicht kommen. Ich muss dich so sehr ficken, dass ich schon ganz krank bin.«
»Wroth, nicht …«
Mit einem bitteren Fluch senkte er den Kopf, sodass seine Stirn an ihrem Nacken ruhte, und rieb sich an ihrem Hintern. »Kann nicht aufhören«, krächzte er. In diesem Augenblick wusste sie, dass er ihrem Körper keine Gewalt antun würde, ihn nur berühren, benutzen würde. Aber warum sollte er sich ihretwegen zurückhalten …?
Seine Finger streiften ihre Brustwarze. Ein Blitz. Nein, es konnte doch nicht sein, dass sie dies hier wollte.
Als sie seinen heißen Atem spürte, wurde ihr Körper nachgiebig. Doch, sie konnte es wollen, so wie sie es Nacht für Nacht in ihrem einsamen Bett wollte. Die Luft war schwül, vom Duft des Jasmins erfüllt und sogar noch feuchter als sonst, wegen des prasselnden Springbrunnens in der Ecke. Niemand war zu Hause. Er würde sie nicht nehmen, also – warum sollte sie dies nicht einige Augenblicke lang einfach genießen?
Als sie sich an ihn schmiegte, die Arme zurücknahm und hinter seinem Kopf verschränkte, knurrte er und trat mit seinen Füßen gegen ihre, um ihre Beine zu spreizen. Erbebend stieß er erbarmungslos wieder und wieder gegen ihr Fleisch, bis er den Kopf zurückwarf und aufschrie, kurz bevor er kam. In letzter Sekunde wandte er sich von ihr ab und ergoss seinen Samen auf die Erde.
Sie war wie erstarrt, konnte nichts sehen, und aus irgendeinem Grund berührte es sie umso mehr, seine Reaktion nur zu hören, das gutturale Stöhnen, das tief aus seiner Brust hervorbrach. Sie fühlte, wie heftig er bebte, die Kraft in seinem hageren Körper, als er sie an sich drückte und ihn eine Welle der Wonne nach der anderen überrollte.
Es schien gar nicht mehr aufzuhören – jede Sekunde, die verstrich, zeigte ihr deutlich, wie sehr er das hier gebraucht hatte. Dann legte er seine Lippen auf ihren Nacken, eine Hand auf ihren Hintern, und sie wusste, dass seine andere Hand mit seinem Schaft beschäftigt war, um gleich noch einmal zu ejakulieren. Als sie daran dachte, wie viele Nächte er schon hiervon träumte, fiel ihr Kopf gegen seine Schulter zurück.
Das zweite Mal war womöglich sogar noch gewaltiger als das erste. Verzweifelt küsste und leckte er ihre Haut, umfasste erst ihre eine, dann die andere Brust und rief ihr ins Gedächtnis zurück, wie er sie in jener Nacht im Kerker zum Höhepunkt gebracht hatte. Sie wünschte sich, es ihm gleichzutun, wünschte sich, dass sich seine Finger als Nächstes ihr widmen würden.
Als es vorbei war, hob er ihr Haar an und streifte mit seinen Lippen ihren Hals, nach wie vor zitternd und heftig atmend. Ihre Augen schlossen sich, und sie stand kurz davor zu sagen: »Ich bin dran«, als er etwas vollkommen Unerwartetes tat.
Er ordnete seine Kleidung, zog ihren Rock herunter und drehte sie zu sich um, um in ihre Augen hinabzustarren. Dann packte er ihren Nacken und zwang sie mit einem Ruck, ihm ihr Gesicht zuzuwenden, doch statt von ihr zu trinken oder sie zu schlagen, zog er sie an seine breite Brust, und während seine Hand zu ihrem Hinterkopf hinaufwanderte, umfing er sie mit diesen starken Armen, was sich angenehm beunruhigend anfühlte.
Neugierig ließ sie zu, dass er sie umarmte, entspannte sich sogar ein wenig. Er wiederum neigte den Kopf, um ihr Haar zu küssen. Irgendwann ließ er sie schließlich los. Sie sah ihn an, seine Miene war nicht mehr so wild, jedoch grimmig. »Ich habe nach dir gesucht, Braut.«
»Ich war die ganze Zeit genau hier.«
»Du hast mich schlecht behandelt, als du mich in diesem Zustand zurückgelassen hast.«
»Meine Schwestern wollten dich töten, aber ich habe dir das Leben gerettet. Außerdem hattest du noch viel Schlimmeres mit mir vor.«
»Und als du über meinen Fangzahn geleckt hast?«
Das war ein Unfall gewesen! Trotzdem hob sie das Kinn und sagte: »Das war doch das Mindeste, was ich tun konnte, immerhin wolltest du mich foltern. Betrachte es als ein Andenken.«
Seine Miene versteinerte bei ihren Worten, doch dann schien er sein Temperament wieder in den Griff zu bekommen. »Seit fünf Jahren stelle ich mir nun vor, wie ich Vergeltung übe, male mir ununterbrochen aus, wie ich dich für das, was du mir angetan hast, bezahlen lasse.« Er atmete tief aus. »Aber ich bin es leid, Myst, ich bin es leid, diese Bürde mit mir herumzuschleppen. Ich möchte in die Zukunft blicken und unser Leben leben.«
Unser Leben?
»Ich bin bereit, einen neuen Anfang zu machen. Was unsere Missetaten gegeneinander angeht, sind wir quitt, und wir werden die … Fehltritte unserer Vergangenheit, die vorgekommen sein mögen, ehe wir einander begegnet sind, vollkommen vergessen.«
»Fehltritte?« Wie großzügig von dem Vampir, ihr eine reine Weste zu bescheinigen. Um sie gleich wieder zu beflecken …
»Dein Blut hat mir Lust auf mehr gemacht. Wie, glaubst du, habe ich dich gefunden?«
»Dann verfügst du also über meine Erinnerungen?« Bezaubernd. Wusste er jetzt etwa, dass sie sich regelrecht in ihn verguckt hatte? Besaß er all ihr Wissen über die Mythenwelt? »Hat es dir wenigstens Spaß gemacht, deinem Bruder und deinen Freunden alles über mein Leben zu erzählen – meine privaten Gedanken und privaten … Angelegenheiten?«
»Ich habe niemandem auch nur ein Wort von dem erzählt, was ich gesehen habe. Glaub mir«, fügte er in seltsamem Tonfall hinzu. »Und ich schwöre, dass ich so etwas auch niemals tun werde. Das bleibt ganz allein unter uns.«
»Kannst du schwören, dass du die Informationen über meine Familie niemals dazu benutzen wirst, ihr zu schaden?«
Er blickte finster drein.
»Dann vergiss es. Ist sowieso egal.« Sie versuchte, sich von ihm loszureißen. »Aber mit dem Beginn unseres neuen Lebens, das wird nichts. Selbst wenn du in jener Nacht nicht drauf und dran gewesen wärst, mir was anzutun – mir die Finger zu brechen? Oder die Beine?«
Er leugnete es nicht. »Das liegt in der Vergangenheit, und du hast mich einen hohen Preis dafür zahlen lassen. Wenn es ein Trost für dich ist, so wisse, dass ich weitaus Schlimmeres erlitten habe, als ich mir jemals für dich hätte einfallen lassen können. All diese Jahre konnte ich weder schlafen noch essen. Das Einzige, was ich tun konnte, war, davon zu träumen, dich zu ficken, ohne jemals Erlösung zu finden.«
Wärme durchströmte ihren Bauch, doch gleich darauf runzelte sie die Stirn. »Es ist kein Trost für mich. Ich möchte einfach nur, dass du mich loslässt und mir gestattest zu gehen. Meine Art verabscheut die deine. Und selbst wenn ich etwas für dich empfinden würde und du mich anständig behandeln würdest, würden meine Schwestern dich töten, und ich würde von allen Geschöpfen der Mythenwelt geächtet werden. Bilde dir ja nicht ein, ich könnte je ein Leben als Ausgestoßene mit dir meinem gegenwärtigen Leben – das ich verdammt noch mal in jeder Hinsicht genieße – vorziehen, also lass mich endlich in Ruhe! Ich will dir nicht noch einmal wehtun müssen.«
Bei diesen Worten hob er herablassend eine Augenbraue, was sie noch mehr verärgerte, und sagte dann: »Ich kann dich nicht gehen lassen. Das werde ich nie tun. Nicht, ehe ich sterbe.«
»Ich habe dich gewarnt und sage es nur noch ein Mal: Lass mich gehen!«
»Das wird niemals passieren. Was kann ich tun, damit du das endlich akzeptierst? Schwören? Ich tu’s. Ich schwöre, dass ich das, was ich erfahren habe, unter keinen Umständen dazu nutzen werde, deiner Familie zu schaden. Als dein Ehemann könnte ich ihnen sowieso nichts antun, weil ich am Ende damit dir wehtun würde.«
Als sie erkannte, dass er es todernst meinte, wurde ihr klar, dass dies kein Spiel mehr war. Er würde versuchen, sie dazu zu zwingen, mit ihm zu leben. Weil er fühlte, dass das sein Recht war und sein Recht wichtiger als das ihre war. Er war kein Stück anders als die anderen. Ihr Name sollte besser Myst das Eigentum lauten.
Sie fragte sich, ob sie wohl vor Schreck tot umfallen würde, wenn irgendwann endlich mal jemand auf die Idee käme, sie zu bitten, mit ihm zusammen zu sein.
»Wroth«, flüsterte sie. Langsam ließ sie die Arme über seine Brust hinaufwandern, bis sie die Finger in seinem Nacken verschränkte. Er beugte sich hinab, um besser hören zu können. »Weißt du, was dazu nötig wäre, damit ich wirklich und wahrhaftig deine Braut werde?«
»Sag’s mir«, erwiderte er rasch.
»Dazu müsste erst das Leben meinen kalten, toten Körper verlassen.« Sie rammte ihm das Knie in den Leib, entschied aber im letzten Augenblick, ihm damit nicht das Steißbein zu brechen. Als er in die Knie sackte, versetzte sie ihm noch einen Hieb mit der Rückseite ihrer Hand, sodass er zehn Meter durch die Luft flog und gegen die Mauer krachte.
Er brüllte wütend auf, erhob sich aber nur langsam, während sie schon einen Gang zwischen den beiden Häusern entlang auf das schmiedeeiserne Gitter zulief, das auf die Straße führte. Doch dann translozierte er sich direkt hinter sie und griff nach ihr. Erst streiften nur seine Fingerspitzen ihren Rücken, dann verfingen sie sich in ihrer Kette. Sie schrie vor Schmerz laut auf, als diese zerriss.
Große Freya, nicht die Kette! Wenn er herausbekam, welche Macht diese über sie hatte, würde es keine Rolle mehr spielen, was für eine starke Walküre sie war oder wie gut sie kämpfte. Sie rannte um ihr Leben, preschte durch das verschlossene Tor, sodass die Gitter aus den Angeln brachen und scheppernd und Funken schlagend über die Straße rutschten. Zweitausend Jahre lang war die Kette unzerreißbar gewesen.
Hör nicht zu, hör nicht zu, lauf einfach, nur weg von seiner Stimme …
»Myst, bleib stehen!«, brüllte er. Vor Enttäuschung drohte ihm die Stimme zu versagen, weil er lediglich die dünne goldene Kette, die sie um die Taille getragen hatte, in den Händen behielt.
Und sie erstarrte. Ihre Füße folgten seiner Aufforderung so schnell, dass sie beinahe vornübergefallen wäre.
Sie drehte sich zu ihm um, schlenderte gemächlich durch den engen Gang und kam in dem Hinterhof zurück zu ihm. Sie leckte sich über die Lippen, fuhr sich durch die Haare und sagte: »Die gehört mir, und ich will sie wiederhaben.«
Sie griff danach, doch er hielt sie einfach hoch und somit außerhalb ihrer Reichweite. Mit Magie hatte er nicht viel am Hut – er hatte nicht einmal an die Existenz der Mythenwelt geglaubt, bis er gewandelt worden war –, aber selbst er spürte die Macht, die von dieser Goldkette ausging. Aber was war das für eine Macht?
»Wie dringend willst du sie denn?«
Ein Blitz zuckte über den Himmel hinter ihr. Sie muss das Ding wohl wirklich sehr dringend zurückhaben wollen.
»Würdest du mich etwa bestehlen?«
»Du hast mich bestohlen – du hast mir so viele Jahre gestohlen.«
»Ich dachte, wir wären quitt.«
»Das war vor deinem Versuch, mich zu entmannen.«
»Ich werde netter zu dir sein, wenn du sie mir wiedergibst.«
Ihre Augen waren hypnotisierend … Er schüttelte sich. »Das haben wir hinter uns. Ich wollte mein Leben mit deinem verbinden, und du hast mir nichts als Schmerzen bereitet.« Vorhin, als er endlich von dieser nicht enden wollenden Folter erlöst worden war, hatte er überwältigende Dankbarkeit ihr gegenüber verspürt – vollkommen irrational, da sie es war, die ihm das Ganze überhaupt erst angetan hatte –, aber zum ersten Mal seit Jahren hatte er ein gewisses Maß an Zufriedenheit gefühlt. Und dann hatte sie erneut zugeschlagen. »Heute Nacht habe ich endlich begriffen, dass du dich niemals in ein Leben mit mir fügen wirst.« Er fühlte die Kette in seinen Händen und erinnerte sich daran, wie sie gerade eben so abrupt stehen geblieben war. »Es sei denn …« Er verstummte, starrte einfach nur in ihre Augen, die wie gebannt an seinen hingen. »Knie dich hin.«
Ihre Knie trafen auf den Stein auf, als ob sie jemand gestoßen hätte.
Fassungslos zog er die Augenbrauen zusammen. Sein Atem ging schneller. »Zittere!«, befahl er, immer noch ungläubig.
Sie tat es, und es bildete sich sofort eine Gänsehaut, als ob ihr kalt wäre. Ihre Brustwarzen wurden hart, und sie schlang die Arme um den Leib.
Er wusste, dass das Grinsen, das sich soeben auf seinem Gesicht ausbreitete, ein boshaftes war. Fünf Jahre lang hatte er sich die verschiedensten Fantasien ausgemalt, aber auf so etwas war er nie gekommen. »Leg deine Hand auf meinen Gürtel.«
Der Blick, mit dem sie zu ihm aufsah, war furchtsam. Bittend starrte sie ihn an, als er sagte: »Und jetzt komm.«