Kapitel 8
Shaye warf sich unruhig im Bett hin und her und fand keinen Schlaf. Jedes Mal, wenn sie kurz vorm Wegdösen war, kamen ihr wieder Eleonores Worte in den Sinn. Schon bevor sie nach Eleonores Meinung gefragt hatte, war Shaye die Antwort der Psychiaterin klar gewesen – dass der Stalker letztendlich darauf aus war, Emma zu töten. Er war wie eine Katze und spielte mit seiner Maus, bis der Spaß vorbei war. Doch als Eleonore es ausgesprochen hatte, war es irgendwie realer geworden. Greifbarer.
Shayes Fuß begann zu schmerzen, und sie warf die Decke zurück und setzte sich auf. Sie zog das Bein heran und rieb sich über die Stelle. Zwei Operationen hatten ihr helfen sollen und waren insofern erfolgreich gewesen, dass Shaye immerhin laufen konnte, ohne zu humpeln. Aber der Schmerz war nie vollständig verschwunden. Er war geblieben, schlummerte dicht unter der Oberfläche und tauchte innerhalb von Sekunden wieder auf, um sie daran zu erinnern, dass sie nicht so war wie andere Menschen und es auch nie sein würde.
Vielleicht schlug das Wetter um. Bei Regen tat ihr der Fuß immer mehr weh als sonst.
Die Massage schien nicht besonders viel zu nützen, deshalb stieg sie aus dem Bett, um sich in der Küche ein Aspirin zu holen. Shaye hatte auf die harte Tour gelernt, nicht zu lange damit zu warten. Sonst wurde es immer schlimmer und es dauerte doppelt so lange, bis der Schmerz nachließ.
Die Flasche mit den Aspirintabletten stand immer noch auf der Arbeitsplatte, wo Corrine sie hingestellt hatte. Das Gerede über den Stalker und der Wein hatten ihrer Mutter so starke Kopfschmerzen bereitet, dass ihr Kopf kurz vor dem Platzen gestanden hatte. Zumindest hatte Corrine den Schmerz so beschrieben. Shaye schüttete sich zwei Aspirin in die Hand und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Mit dem Laptop in der Hand machte sie sich auf den Weg zurück ins Bett.
Unvermittelt hörte sie draußen ein kratzendes Geräusch.
Wie erstarrt blieb sie stehen und versuchte, herauszufinden, woher es kam und was es verursachte, doch sie hörte nichts weiter als den Donner in der Ferne. Sie ging zurück ins Schlafzimmer, holte ihre Pistole und überprüfte systematisch jedes einzelne Fenster in ihrem Apartment. Die Straßenbeleuchtung war nur schwach, und wegen des heraufziehenden Sturms gab es auch keinen Mondschein, der etwas Licht in die Dunkelheit gebracht hätte.
Auf der Straße schien alles ruhig zu sein. Kein Anzeichen für Bewegung, nicht mal ein Auto.
Dann hörte sie das Geräusch erneut.
Diesmal war sie sich sicher, dass es aus dem Hof zwischen ihrem Apartment und dem Gebäude nebenan kam. Sie holte eine Taschenlampe aus ihrem Schlafzimmerschrank und legte das Ohr an die Seitentür, die auf den Hof hinausführte. Im Moment war alles still, aber das bedeutete nicht, dass niemand dort draußen war. Der Sturm war noch nicht aufgezogen, und kein Lüftchen regte sich, kein aufkommender Wind blies Gegenstände über den Hof, die das Geräusch verursacht haben könnten. Im Hof standen nur die Mülltonnen und unter einem Baum an der hinteren Mauer ein winziger Eisentisch mit zwei Stühlen.
Sie stellte die Taschenlampe auf den Boden, schaltete das Alarmsystem aus und zog den Riegel millimeterweise zurück. Langsam schob sie die Tür ein winziges Stückchen auf und glitt mit dem Fuß in den Spalt, damit sie nicht zufiel. Sie nahm die Pistole in die rechte Hand, die Taschenlampe in die linke, zählte bis drei und riss die Tür auf.
Sie sprang hinaus, klickte die Taschenlampe an und leuchtete damit den bedeckten Übergang zwischen den beiden Gebäuden aus. Er war leer, doch etwa sieben Meter entfernt bewegte sich eine der Mülltonnen. Shaye zielte darauf. „Ich habe eine Waffe. Kommen Sie heraus.“
Die Tonne klapperte erneut und ihr Schatten veränderte sich, als hätte sich etwas dahinter bewegt. Shayes Finger legte sich um den Abzug und sie spürte, wie sich ihr der Brustkorb zusammenzog. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, wie ein Vorschlaghammer. Zentimeterweise ging sie vorwärts.
„Kommen Sie da raus oder ich schieße.“
Eine der Tonnen wackelte und eine schwarz-weiße Katze sprang mit einem lauten Miauen darauf. Shaye wich zurück und stieß zischend den Atem aus. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie ihn angehalten hatte.
„Verdammt, Katze. Willst du erschossen werden?“
Die Katze begann, sich die Pfoten zu lecken. Shaye warf ihr einen angewiderten Blick zu und eilte zurück ins Haus. Dort verschloss sie die Tür, schob den Riegel vor und lehnte sich dagegen, damit sich ihr rasender Puls beruhigen konnte. So viel Aufregung und Stress wegen einer Straßenkatze.
Wenn du immer noch bei Corrine wohnen würdest, könntest du jetzt friedlich schlafen.
Sie stieß sich ab und ging in die Küche. Schlafen konnte sie auch später noch. Wenn ihr Hirn nachts nun mal besser arbeitete, dann war es eben so. Sie würde tagsüber ein Mittagsschläfchen halten. Welchen Sinn hatte es schließlich, sein eigener Chef zu sein, wenn man sich die Arbeitszeit nicht so gestalten konnte, wie man wollte?
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Vom Dach auf der anderen Straßenseite aus beobachtete er, wie sie die Tür zu ihrem Apartment zuknallte. Stirnrunzelnd ließ er sein Nachtsichtgerät sinken. Er hatte recht behalten. Sie war keine Innenarchitektin. Schon bei Emmas Haus war sie ihm bekannt vorgekommen. Es hatte mehrere Stunden gedauert, die alte Ausgabe des New Orleans Magazine mit dem Bild aufzutreiben, an das er sich erinnerte. Das Mädchen auf dem Foto war jünger als die Frau, doch er war davon überzeugt, dass es sich um dieselbe Person handelte.
Shaye Archer.
Sobald er den Namen kannte, hatte es praktisch nur eine Minute gedauert, bis er alles über Shayes Leben, ihre Familie und, am wichtigsten, ihre neue Agentur herausgefunden hatte. Er hatte vom Klicken auf Links schon fast die Nase voll gehabt, als er auf ihre Website stieß. Grinsend las er die Startseite. Privatdetektivin. Worauf würden wohl die armen kleinen reichen Töchter der Gesellschaft als Nächstes kommen, um die Zeit ihrer Mitmenschen zu verschwenden? Der Gedanke, dass dieses unerfahrene, zerbrechlich wirkende Mädchen ihn austrickste, war lachhaft.
Doch sie pfuschte ihm tatsächlich ins Handwerk.
Er wollte Emma allein und verängstigt. Verbündete oder Menschen, die ihr Selbstvertrauen stärkten und einen Zusammenbruch verhinderten, schmälerten sein Vergnügen. Keinesfalls würde er zulassen, dass eine dumme Kuh wie Shaye Archer ihm dazwischenfunkte. Da würde er etwas unternehmen müssen, zuerst allerdings galt es in Erfahrung zu bringen, wo er sie finden würde, wenn er so weit war.
Als er die Adresse auf der Website gesehen hatte, hatte er sich schon gedacht, dass sie das Apartment sowohl beruflich als auch privat nutzte, aber er musste sich Gewissheit verschaffen.
Den Fisch hinter die Mülltonnen zu legen war ein Kinderspiel gewesen. Dann hatte er die fischig riechende Flüssigkeit aus seiner Plastiktüte bis zu der Stelle auf den Gehweg getropft, wo er die Katze gesehen hatte. Danach hatte er nur noch auf das Gebäude gegenüber klettern und warten müssen. Anfangs hatte er schon befürchtet, er hätte sich verschätzt, weil die Lichter in der Wohnung eingeschaltet waren. Vielleicht arbeitete sie so spät noch, aber das musste nicht heißen, dass sie dort wohnte. Doch als sie barfuß und in Top und kurzer Hose aus der Tür gesprungen kam, war ihm klar geworden, dass sie schon geschlafen hatte.
Bei voller Beleuchtung in der Wohnung.
Ganz offensichtlich hatte Miss Archer Angst vor der Dunkelheit.