Kapitel 17

Sobald sie wieder im Auto saß, zog Shaye ihr Handy heraus. Das Gespräch mit Paul hatte sie völlig verblüfft. Zuerst war sie davon überzeugt gewesen, dass er diese Geschichte erfunden hatte, um sie auf eine falsche Fährte zu locken, aber auf keinen Fall hätte er den gequälten Blick vortäuschen können, den sie in seinen Augen gesehen hatte, als er ihr von seinen Albträumen erzählte. Paul hatte ein paar wirklich schlimme Dinge aufzuarbeiten, und sie hoffte, dass er die Hilfe bekam, die er brauchte, ehe es zu spät war.

Was sie jedoch nicht verstand, war, warum Ron ihr Pauls Namen überhaupt genannt hatte. Doch dann fiel ihr ein, dass Paul eigentlich an diesem Tag auf einen Übersee-Einsatz gehen sollte, und Ron konnte das von seiner Mutter erfahren haben. Durch die Erwähnung von Paul hätte er den Verdacht geschickt von sich ablenken und Shaye eine Weile beschäftigen können, denn sie hätte sicher ein paar Tage – wenn nicht sogar länger – gebraucht, um Paul zu kontaktieren.

Paul hatte auch bestätigt, dass er Ron nie in New Orleans besucht hatte, was Shaye nach der Irakgeschichte schon klar gewesen war. Im Prinzip war alles, was Ron ihr erzählt hatte, gelogen. Zumindest wirkte es so auf Shaye. Und von den beiden Männern war Paul der glaubwürdigere. Shaye würde ihre neun Therapiejahre darauf verwetten, dass er die Wahrheit sagte. Ron wiederum hatte offenbar völlig mühelos gelogen, ohne dass man ihm das ansah. Alles deutete auf ihn als den Stalker hin. Er sah David ähnlich genug, dass sogar die traumatisierte Emma sie im Dunkeln verwechseln konnte.

Ron hatte geglaubt, sie auf Pauls Fährte zu hetzen, würde ihm Zeit verschaffen. Tage, wenn nicht sogar Wochen. Dass ein vereiterter Zahn Paul für Shayes Fragen verfügbar machen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Seine Zeit war gerade abgelaufen.

Sie rief Rons Nummer auf, wählte aber nicht.

Vermutlich war es nicht besonders clever, einen Soziopathen mit der Wahrheit zu konfrontieren.

Aber Ron wusste nicht, dass sie mit Paul gesprochen hatte, und Paul würde ihm das ganz sicher nicht stecken. Er hatte ihr bereits versprochen, dass er niemandem etwas von ihrem Gespräch erzählen würde. Die Namen Ron Duhon und David Grange wollte er nie wieder hören. Was sie brauchte, war ein Foto. Sie überlegte, ob sie ein weiteres Treffen mit Ron arrangieren sollte, um versteckt hinter einem Auto auf ihn zu warten und unauffällig ein Foto von ihm zu knipsen, das sie dem Skateboarder zeigen konnte. Vielleicht konnte Hustle Ron als den Mann identifizieren, der ihm das Tuch gegeben hatte.

Das sollte ausreichen, damit die Polizei Ron verhörte. Sie biss sich auf die Unterlippe. Oder etwa nicht?

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, drückte sie auf Rons Nummer.

Diese Nummer ist nicht vergeben …

Was zum Teufel sollte das heißen? Sie legte auf und überprüfte ihre Anrufliste. Es war definitiv dieselbe Nummer, mit der sie Ron am Vortag angerufen hatte. Sie drückte die Taste erneut. Ein paar Sekunden später erhielt sie dieselbe Nachricht.

Sie scrollte die Liste hinunter bis zur Nummer von Wellman Oil and Gas. Greta nahm ab.

„Hi, hier spricht Shaye Archer. Ich habe vor ein paar Tagen mit einigen Ihrer Angestellten gesprochen.“

„Natürlich, Ms Archer“, antwortete Greta. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich hab versucht, Ron Duhon zu erreichen, aber sein Handy ist abgeschaltet. Hat er eine neue Nummer hinterlassen?“

„Nein. Tut mir leid, Mr Duhon ist nicht länger bei Wellman Oil and Gas angestellt.“

„Können Sie mir sagen, warum?“

„Er hat gestern angerufen, dass er einen neuen Job hat und nicht mehr kommt. Der Crewmanager hat einen Wutanfall bekommen, weil Ron morgen eigentlich auf eine Bohrinsel fliegen sollte.“

„Hat er gesagt, wo er jetzt arbeitet?“

„Tut mir leid, nein.“

„Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir seine Adresse zu geben?“

„Überhaupt nicht. Ich rufe sie schnell auf.“ Greta war ein paar Sekunden lang still und gab Shaye dann die Anschrift durch.

„Danke.“

„Kein Problem. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“

Shaye warf ihr Handy auf den Beifahrersitz. Sobald sie auf der Interstate 49 war, drückte sie das Gaspedal durch. Die viereinhalbstündige Fahrt dehnte sich vor ihr aus wie eine Ewigkeit. Ron hatte bereits einen Tag Vorsprung, und jetzt bekam er noch einen weiteren. Einen weiteren Tag, an dem er seine Spuren verwischen, weitere falsche Fährten legen und Alibis erschaffen konnte.

Oder sein Werk vollenden.

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Corrine stützte sich auf Eleonore und ging Schritt für Schritt vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer bis zur Couch, wo sie in die weichen Kissen sank. „Du begluckst mich.“

„Ich habe einen medizinischen Abschluss. Und der hippokratische Eid schreibt vor, dass verletzte Freunde begluckt werden müssen. Da bin ich sicher.“

Corrine lächelte. „Es geht mir gut. Wirklich. Jedenfalls, solange ich keine Sprints einlegen muss. Falls das notwendig wird, kannst du mich auch gleich erschießen.“

Eleonore holte eine Flasche Whiskey von der Bar und schenkte Corrine ein Glas ein. „Damit du ein wenig zur Ruhe kommst.“

Corrine nahm den Whiskey entgegen und sah hinüber zur Bar. „Ich lasse die Flaschen von Marie morgen in die Speisekammer bringen.“

„Mach dir meinetwegen keine Umstände. Ich bin keine Süchtige auf der Suche nach einem Schuss. Dein Whiskey hat von mir nichts zu befürchten.“

„Ganz sicher?“ Corrine fühlte sich schon schuldig genug, weil Eleonore wegen Shayes Therapie rückfällig geworden war. Sie wollte sie nicht noch weiteren Versuchungen aussetzen. Obwohl sie eigentlich über Eleonores Alkoholprobleme nicht besonders viel wusste. Ihre Freundin sprach nur selten darüber und gab auch dann keine Einzelheiten preis.

Eleonore setzte sich neben sie und seufzte. „Ja, ich hatte früher ein Alkoholproblem, aber ich bin keine typische Alkoholikerin. Ich hab nicht ständig Verlangen danach. So war das nie. Alkohol ist für mich eine Stütze, so wie Essen oder Drogen oder Glauben oder was auch immer die Menschen nutzen, wenn sie für eine Weile der Realität entfliehen wollen. Und das ist eine Erklärung, keine Ausrede. Diesmal wird es nicht außer Kontrolle geraten.“

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“

„Das ist leicht. Weil sich mein Geschmack verbessert hat und ich faul und geizig bin.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Wein oder Bier schmecken mir nicht. Ich hab immer Scotch getrunken, aber von dem billigen Zeug kriege ich keinen Schluck runter. Carlin’s Beverages führt die Marke, die mir schmeckt, aber dazu muss ich fünf Meilen durch die ganze Stadt fahren. Außerdem, weißt du, was eine gute Flasche Scotch kostet? Ich wär’ fast in Ohnmacht gefallen.“

Corrine lächelte. Eleonore zog die Dinge immer ins Lächerliche, ganz besonders, wenn sie wusste, dass sie Corrine belasten würden. Doch diesmal konnte sie ihre Freundin beim Wort nehmen, da war sich Corrine sicher. Eleonore behielt zwar manchmal so einiges für sich, aber sie hatte Corrine noch nie angelogen. Wenn ihre Freundin behauptete, dass sie die Sache im Griff hatte, dann war das auch so.

Corrine trank aus und reichte Eleonore das leere Glas. „Normalerweise würde ich sagen, es ist noch zu früh, aber da ich den ganzen Vormittag in diesem schrecklichen Krankenhausbett gelegen habe und mich mein Rücken und meine Rippen fast umbringen, mach einen Doppelten draus.“

„Haben sie dir im Krankenhaus nichts gegen die Schmerzen mitgegeben?“

„Doch, einen guten Rat. Ich soll Aspirin nehmen.“

Eleonore war verblüfft. „Aspirin? Was haben die denn für ein Problem?“

„Ich würde auf zu viele Drogensüchtige tippen, die Rückenschmerzen vorgeben, damit sie an Medikamente kommen.“

„Du bist eine Sozialarbeiterin, die man bei der Ausübung ihres Jobs eine Treppe hinuntergestoßen hat. Dich wird man ja kaum für eine Süchtige halten.“

„Letzte Woche wurden zwei Sozialarbeiterinnen verhaftet, weil sie den Eltern eines Sozialfalls Drogen verkauft haben. Möchtest du mal raten, wo sie die herhatten?“

„Um Himmels willen.“ Eleonore zog einen Rezeptblock aus der Handtasche und schrieb etwas darauf. „Das ist der große Vorteil, wenn man Ärztin ist statt Psychologin. Ich geb das deiner Haushälterin, damit sie es dir aus der Apotheke holen kann. Und nimm die Tablette, bevor die Schmerzen zu stark werden.“

„Danke.“

Eleonore musterte Corrine einige Sekunden lang. „Hast du schon mal über einen weniger riskanten Job nachgedacht?“

„Jetzt klingst du wie mein Vater.“

„Ein erfolgreicher Mann, der nie eine Treppe hinuntergeschubst wurde.“

„Das könnte sich ändern, falls einige seiner Konkurrenten dazu die Chance bekämen.“

„Okay, das stimmt. Ich sehe das trotzdem eher als ein Warnzeichen. Dinge ändern sich. Diese Stadt wird jeden Tag gefährlicher. Die Leute werden rachsüchtiger und desinteressierter. Du bist allein auf einen anonymen Anruf hin in ein verlassenes Gebäude gegangen. Wären diese Maler nicht aufgetaucht … Ich sag ja nicht, dass du kündigen sollst. Ich weiß, wie wichtig dir der Job ist, aber ich finde, du solltest einige der Risiken überdenken, die du täglich eingehst.“

„Ich weiß. Darüber denke ich schon den ganzen Tag nach. Es war nicht das erste Mal, dass es jemand auf mich abgesehen hatte. Allerdings war es zum ersten Mal mit Vorsatz. Meistens geschah etwas aus einer emotionalen Situation heraus, wenn ich gerade einen Hausbesuch gemacht habe.“

Eleonore nickte. „Ungeplant.“

Corrine sah Eleonore fest in die Augen. „Erzähl das niemandem, vor allem nicht Shaye, aber die Sache hat mir eine Riesenangst eingejagt. Als er da über mir stand, war ich mir hundertprozentig sicher, dass ich sterben würde.“ Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich muss ständig daran denken, was hätte passieren können.“

Eleonore legte ihr die Hand auf den Arm. „Ich auch, Liebes. Ich auch.“

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Shaye hielt vor dem Apartmentgebäude. Sie zog ihre Neunmillimeter aus der Handtasche und steckte sich die Waffe in den Hosenbund. Nach dem Gespräch mit Paul wusste sie, wozu Ron fähig war. Auf keinen Fall würde sie ihm so viel Zeit lassen, bis sie ihre Pistole aus der Handtasche gekramt hatte. Sie wollte nicht unbedingt in den Abendnachrichten auftauchen.

Als sie auf das Gebäude zuging, hinterfragte sie zum wiederholten Male, was genau sie sich von dem Besuch versprach. Was wollte sie denn zu Ron sagen, falls er da war? Hi, ich habe mit Paul gesprochen, und Sie sind ein Psycho? Und wie sollte sie ein Foto von ihm schießen, während sie ihm gegenüberstand? Momentan wollte sie erst mal herausfinden, ob Ron zu Hause war, ein paar harmlose Fragen stellen und dann auf der gegenüberliegenden Straßenseite warten, bis er die Wohnung verließ. Ihre Kamera befand sich immer im Auto und das Teleobjektiv würde Ron selbst aus einem halben Häuserblock Entfernung so weit heranzoomen, als stünde er direkt vor ihr.

Der Gebäudeblock verfügte über drei überdachte Durchgänge zu den Wohnungen, die auf der Rückseite als Sackgassen endeten. Rons Apartment befand sich am Ende des ersten Durchgangs und lag ziemlich isoliert, wie ihr auffiel. Die Wohnungen hatten keine Fenster auf der Durchgangsseite, und angesichts des Winkels des Gebäudes konnte sie unmöglich jemand sehen, es sei denn, er befand sich ebenfalls im Durchgang. Im Prinzip hielt sie sich also in einem Tunnel mit nur einem Ausgang und keinerlei Einsicht von außen auf.

Sie legte ein Ohr an Rons Wohnungstür und lauschte auf Geräusche aus dem Inneren. Außer einer lautstarken Wiederholung von „Law & Order“ im Fernsehen war nichts zu hören. Der laufende Fernseher war jedoch ein Hinweis darauf, dass wohl jemand zu Hause war.

Sie klopfte an die Tür und wartete, die Hände in der Nähe ihres Hosenbunds. Einige Sekunden später wurde die Tür aufgerissen und eine junge, zierliche Frau mit langen braunen Haaren und einem verblassenden Veilchen auf dem rechten Auge stand ihr gegenüber.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Frau.

„Ich bin auf der Suche nach Ron Duhon. Sind Sie seine Freundin?“

Die Frau warf ihr einen verächtlichen Blick zu. „Ich bin nicht seine Freundin. Glauben Sie, dass ich mit einem Mann zusammenbleibe, der mich schlägt? Vor einer Woche hab ich ihn rausgeschmissen.“

„War das Ron?“ Shaye deutete auf ihr Auge.

„Ja. Ich hab ihm gesagt, das kann er gleich als seine Wohnungskündigung betrachten. Im Mietvertrag stand er sowieso nie.“

„Aber er hat hier gewohnt, oder?“

„Wenn man das so nennen will. Meistens hat er auf Bohrinseln gearbeitet. Wenn er in der Stadt war, hat er hier geduscht. Manchmal hat er auch hier geschlafen, aber die meiste Zeit hat er im French Quarter billigen Huren Dollarscheine zugesteckt. Ich hätte ihn schon viel früher rausschmeißen sollen.“

„Wissen Sie, wo er jetzt wohnt?“

„Ich hab nicht die geringste Ahnung. Gestern hat er seine letzten Habseligkeiten abgeholt. Angeblich hat er einen Job bei einer Pipeline in Alaska gefunden und reist morgen ab. Zum Glück, kann ich da nur sagen.“

Shayes Gedanken überschlugen sich. Der neue Job passte zu dem, was Ron der Ölgesellschaft erzählt hatte, auch wenn die nicht annähernd so froh über Rons Verschwinden war wie seine Ex. Allerdings würde er die Stadt sicher nicht verlassen, ohne vorher abzuschließen, was er angefangen hatte. Und das hieß womöglich, dass er hinter sich aufräumen wollte – mit Emma, Shaye, Corrine und der Frau, die vor ihr stand.

Unentschlossen überlegte Shaye, ob sie die Frau warnen sollte. Aber was, wenn sie mit Ron unter einer Decke steckte und log? Das blaue Auge war zwar echt, aber vielleicht hatte ihr das ein anderer verpasst. Was, wenn die Freundin ihre Meinung änderte und ihn wieder einziehen ließ? Dann würde sie ihm vermutlich alles berichten, was Shaye ihr erzählt hatte.

Was, wenn er sie tötet?

Diese eine Frage überwog alle Risiken. Keinesfalls wollte Shaye den Tod der jungen Frau auf dem Gewissen haben. Sie zog ihren Ausweis heraus und zeigte ihn vor. „Sie befinden sich womöglich in Gefahr. Darf ich hereinkommen? Ich würde gern mit Ihnen sprechen.“

Die Frau starrte Shaye an, als ob sie auf die Pointe wartete. Als keine kam, nickte sie und machte einen Schritt nach hinten. Shaye betrat das Apartment und hoffte inständig, dass sie das Richtige tat.