Kapitel 14
Sie hörte Schritte auf den Steinstufen und wusste, dass es der Mann war. Instinktiv drückte sie sich in die Ecke, als ob ihr die Dunkelheit dort Schutz bieten könnte. Die Tür flog auf und helles Licht flutete das Zimmer. Geblendet hob sie die Hände vors Gesicht und spähte zwischen den Fingern hindurch. Was tat er?
Und dann sah sie das rote Kleid.
Nein! Die stummen Schreie zerrissen sie innerlich und sie versuchte, sich in die Wand zu drücken.
„Es ist Samhain“, erklärte der Mann und kam näher.
Sie kauerte sich zusammen und betete, dass er wieder gehen möge. Das war das böse Kleid. Schreckliche Dinge passierten, wenn sie gezwungen wurde, es zu tragen. Dinge, die sie nicht verstand. Dinge, die sie vor Schmerzen schreien ließen.
Sie sah auf. Er beugte sich über sie, die Spritze in der rechten Hand.
„Es ist an der Zeit, dich in eine Schönheit zu verwandeln“, sagte er und stach ihr die Nadel in den Arm.
Shaye schoss in dem schwach erleuchteten Raum auf, völlig panisch, bis sie erkannte, wo sie sich befand. Als sie auf die Uhr sah, konnte sie es kaum fassen. Kurz vor acht Uhr morgens. Die Nacht war hektisch gewesen; Ärzte, Krankenschwestern und der Polizist vor der Tür hatten abwechselnd ins Zimmer geschaut. Eleonore war eine halbe Stunde nach Shaye gekommen. Sie war bereit gewesen, ordentlich Krawall zu schlagen und die Nationalgarde anzufordern. Shaye hatte sie ein wenig beruhigen können, was sie ziemlich ironisch fand. Schließlich hatte sie die Psychiaterin davon überzeugt, dass sie sich den unbequemen Stuhl im Krankenzimmer nicht teilen konnten und dass Corrine am nächsten Tag Gesellschaft bei sich zu Hause brauchen würde. Eine Freundin, die ihr stundenlang zuhören konnte, weil Corrine sich ganz sicher über den Angriff beschweren und entrüsten würde, sobald sie erst mal daheim war. Eleonore würde alle Hände voll zu tun haben.
Irgendwann war der Besucherverkehr im Zimmer abgeebbt und Shaye döste ein. Die Krankenschwester musste das Licht ausgeschaltet haben. Jetzt wurde das Zimmer nur noch vom Licht über Corrines Bett und vom Schein der Monitore erhellt.
Shaye stand auf und ging zu Corrine hinüber. Erleichtert stellte sie fest, dass sich die Brust ihrer Mutter in gleichmäßigem Rhythmus hob und senkte. Im Laufe der Nacht waren die Blutergüsse auf ihrer sonst makellosen hellen Haut dunkler geworden. Das würde Corrine ziemlich zu schaffen machen. Shayes Mutter legte immer großen Wert darauf, so gut wie möglich auszusehen. Sie würde niemals ohne Make-up und perfekte Frisur das Haus verlassen. Shaye nahm an, dass das ein Überbleibsel aus Corrines Erziehung war. Das konnte sie allerdings nur vermuten, denn Audrey Archer war bereits während Corrines Kindheit gestorben und Shaye hatte sie nie kennengelernt. Doch dank Corrines Geschichten hatte sie fast das Gefühl, ihre Großmutter zu kennen.
Corrine regte sich, und ihre Lider hoben sich flatternd. Zuerst wirkte sie verwirrt, aber dann fokussierte sie den Blick auf Shaye. „Einen Moment lang wusste ich nicht, wo ich bin“, gab sie zu. „Wie lange habe ich geschlafen?“
„Es ist fast acht Uhr morgens, also eine ganze Weile. Wie fühlst du dich?“
„Als wäre ich eine Treppe hinuntergefallen. Das ist mir mit zwölf tatsächlich mal passiert, aber ich kann mich gar nicht erinnern, dass das so wehgetan hat.“
„So ist das eben, wenn man alt wird.“ Shaye unterdrückte ein Lächeln.
„Alt? Alt! Wir gehören mehr oder weniger zur selben Generation!“
„Jaja. Red dir das nur weiter ein.“
„Shaye Archer!“ Corrine starrte sie bestürzt an. Schließlich konnte Shaye nicht mehr und grinste.
„Schäm dich“, schalt Corrine. „Mich zu veralbern, während ich an diese Apparate angeschlossen bin. Warte du nur, bis ich entlassen werde.“
Lachend drückte Shaye den Rufknopf für die Krankenschwester. „Wie wär’s, wenn wir mal rausfinden, wann genau das sein wird?“
Corrine lächelte und legte sich die Hände an die Wangen. „Oh, das tut weh. Wie schlimm ist es?“
„Die Wahrheit?“
„Nein, ich möchte, dass du mich anlügst, damit ich mich noch mehr aufregen kann, wenn ich in den Spiegel sehe.“
„Schön sieht es nicht aus, aber ich glaube nicht, dass Narben zurückbleiben werden.“
„Gib mir mal einen Spiegel.“
„Jetzt?“
„Ja, jetzt.“
„Okay“, sagte Shaye und holte einen Taschenspiegel aus ihrer Handtasche, „aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“ Sie reichte ihn Corrine.
Als diese hineinblickte, wurden ihre Augen groß. Sie drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, betrachtete den Schaden, klappte dann den Spiegel wieder zu und gab ihn Shaye zurück. „Es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe, aber mit Make-up kann man das nicht verdecken.“
„Ich könnte dir eine Skimaske besorgen. Die ist der letzte Schrei bei Skifahrern und Kriminellen.“
„Die würde meinen Haaren nicht guttun. Ich glaube, ich werde mich einfach damit abfinden, dass die Leute mich ein paar Wochen lang fragen werden, wie denn mein Gegner jetzt aussieht.“
Eine Krankenschwester betrat lächelnd das Zimmer. „Behaupten Sie auf jeden Fall, dass es ihn viel schlimmer erwischt hat“, empfahl sie.
Shaye trat vom Bett weg, damit die Schwester Corrine untersuchen konnte. „Für eine Frau, die in verlassenen Gebäuden Prügeleien anfängt, sehen Sie gut aus. Ich hole jetzt den Arzt.“
„Danke“, sagte Corrine und die Schwester ging. Sie sah hinüber zu Shaye. „Ich möchte hier raus.“
„Ich weiß, aber du musst auf den Arzt hören. Zumindest hast du das immer zu mir gesagt.“
„Wie konntest du dich bloß zu solch einer Nervensäge entwickeln?“
„Ich hatte eine gute Lehrerin. Sobald der Doktor grünes Licht gibt, fahre ich dich nach Hause. Dann kannst du auf der Couch herumliegen und Eleonore in den Wahnsinn treiben.“
„Eleonore?“
„Sie ist der Meinung, dass sie dir am besten helfen kann, wenn sie tagsüber bei dir bleibt. Großvater kommt irgendwann heute Nachmittag aus China zurück und wird ebenfalls vorbeischauen. Ich besuche dich dann heute Abend.“
„Und tagsüber?“
„Hab ich zu tun. Ich muss Emma ein paar Antworten beschaffen, ehe …“
Corrine runzelte die Stirn. „Bevor ihr etwas Schlimmeres zustößt als mir.“
Schuldgefühle überkamen Shaye. Corrine lag nur aus einem einzigen Grund hier in diesem Krankenhausbett, wegen Shayes Fall. Ihr Verstand sagte ihr zwar, dass sie für die Taten eines Verrückten nicht verantwortlich war, doch das änderte nichts an ihrem schlechten Gewissen. Hätte sie diesen Fall nicht übernommen, wäre Corrine nicht in Gefahr. Was noch schlimmer war, sie verschwieg Corrine den Grund für den Angriff, auch wenn sie dafür gute Gründe hatte und es nur zu Corrines Bestem war. Sie wollte Emma zwar nur helfen, dennoch kam sie sich im Moment unglaublich selbstsüchtig vor.
Vielleicht, weil sie tief in ihrem Innersten wusste, dass sie nicht nur Emma, sondern auch sich selbst half. Weil sie beweisen wollte, dass sie dem Job gewachsen war, in dem sie unbedingt großartig sein wollte. Dass sie auch dann noch Antworten fand, wenn die Polizei schon aufgegeben hatte. Sie unterdrückte ein Seufzen. In ein paar Tagen hatte sich Gesprächsstoff für Wochen mit Eleonore angehäuft. Vermutlich musste sie ab jetzt doppelt so oft zur Therapie.
Shaye legte ihre Hand auf Corrines Arm. „Als Erstes werde ich heute Morgen mit einem Detective sprechen. Eventuell habe ich jetzt genügend Beweise, damit die Polizei bei Emmas Fall eingreift.“
Corrines Erleichterung war nicht zu übersehen. „Gott sei Dank.“
„Das ist aber nicht sicher, also freu dich nicht zu früh. Aber ich versuche, die Verantwortung an die zuständige Stelle abzugeben, sobald ich kann.“
„Ist mit Emma alles in Ordnung?“
„Um ehrlich zu sein, nein. Sie ist völlig erschöpft, verängstigt und hat sicherlich seit Wochen keine Stunde am Stück geschlafen. Ich hab keine Ahnung, wie lange sie noch durchhält.“
„Sag mir Bescheid, falls ich irgendwas tun kann. Wir haben Frauenhäuser … falls sie für eine Weile untertauchen möchte.“
Shaye küsste sie auf die Stirn. „Hab ich dir in letzter Zeit eigentlich gesagt, wie lieb ich dich hab?“
Corrine lächelte. „Vermutlich, aber ich freue mich immer, es noch mal zu hören.“ Dann wurde sie wieder ernst. „Sei vorsichtig, Shaye. Wir alle sind nicht gegen brutale Gewalt gefeit. Das weißt du besser als jede andere. Mir ist das gerade noch mal ziemlich deutlich klargemacht worden.“
„Ich werde alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.“ Außer die, den Fall abzugeben.
Corrine nickte, wirkte aber nicht überzeugt. Shaye konnte ihr das nicht verübeln.
Sie war es ja selbst nicht.
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Emma fuhr auf und knallte mit dem Ellbogen gegen etwas Hartes, Unbewegliches. Einen Moment lang verfiel sie in Panik, ehe ihr bewusst wurde, dass sie auf dem Boden ihres Hotelbadezimmers lag und das unbewegliche Objekt, von dem sie sich angegriffen fühlte, der Badschrank war. Sie rieb sich über den Ellbogen und stützte sich auf. Ihre Kleidung und die Handtücher waren immer noch über den Boden verstreut, so wie sie alles am Vorabend fallen gelassen hatte. Sie nahm ihre Armbanduhr vom Waschbeckenrand und starrte ungläubig darauf. Es war fast acht Uhr morgens.
Sie hatte die ganze Nacht auf dem Boden geschlafen.
Das erklärte die Verspannung in ihrem Nacken und das Ziehen im unteren Rücken. Auch wenn sie normalerweise in guter körperlicher Verfassung war, mehrere Stunden Schlaf auf einem kalten, harten Fliesenboden würden wohl jedem zu schaffen machen. Emma drehte den Kopf hin und her, und als es knackte, ließ der Schmerz im Rücken nach.
Als sie in den Spiegel blickte, erkannte sie kaum die Frau darin. Aus ihrer ohnehin hellen Haut war jeder Hauch von Farbe gewichen und dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren tief eingesunkenen Augen ab. Da sie abgenommen hatte, wirkten ihre bereits schmalen Wangen regelrecht eingefallen.
Ich kann so nicht weitermachen.
Sie ging hinüber zum Bett und nahm ein paar Kleidungsstücke aus dem Koffer. Sobald sie angezogen war, griff sie nach dem Handy. Die Polizei konnte oder wollte ihr nicht helfen. Shaye tat ihr Bestes, doch sie hatte zu wenig Erfahrung in solchen Sachen. Es war an der Zeit, endlich das zu tun, was sie bisher vor sich hergeschoben hatte.
„Patty Hebert“, antwortete die Immobilienmaklerin nach dem zweiten Klingeln.
„Oh.“ Emma war überrascht. „Hi. Hier spricht Emma. Ich wollte Ihnen gerade eine Nachricht hinterlassen, aber anscheinend sind Sie schon auf.“
„Ich würde gerne mal ausschlafen, aber manchmal will mein Körper einfach nicht so wie ich.“
Sofort verspürte Emma Schuldgefühle über ihr Selbstmitleid wegen der Verspannungen. Pattys Krankheit war sehr viel ernster als ihre Wehwehchen und würde sich immer weiter verschlimmern, ohne Aussicht auf Besserung. „Ich habe von einer Kollegin den Namen einer Therapeutin bekommen. Sie hat eine Nichte mit MS und hat mir bestätigt, dass die Therapie ihren Gang wirklich verbessert hat.“
„Wirklich? Danke. Ich greife gern nach jedem Strohhalm. Man weiß schließlich nie, worauf der Körper anspricht.“
„Dann hoffe ich, dass diese Therapeutin Ihnen helfen kann.“ Emma zog die Visitenkarten aus ihrer Brieftasche. „Ich gebe Ihnen die Adresse. Haben Sie etwas zum Schreiben?“
„Ja. Ich sitze am Schreibtisch. Kann losgehen.“
Emma las die Kontaktinformationen ab und kam dann zügig zum wahren Grund für ihren Anruf. „Ich möchte das Haus schnellstmöglich verkaufen. Ich weiß, dass ich mehr verdienen könnte, wenn ich erst renoviere, aber ich glaube nicht, dass ich lang genug dort wohnen könnte, um alles zu koordinieren. Ich muss nach vorne schauen.“
„Natürlich. Ich bin sowieso erstaunt, wie Sie das alles bisher bewältigt haben. Die meisten Menschen wären längst zusammengebrochen, doch Sie haben Stärke gezeigt und weitergearbeitet.“
„Die Arbeit hat mich aufrecht gehalten.“
„Das verstehe ich nur zu gut. Mir geht es ganz genauso. Machen Sie sich keine Gedanken wegen des Hauses. Ich habe genügend Fotos gemacht. Ich erstelle die Anzeige und gebe Ihnen Bescheid, sobald ich sie veröffentlicht habe. Vermutlich müssen Sie nicht sehr lange auf ein Gebot warten. Ich rechne sogar mit mehreren Angeboten. Sind Sie heute Nachmittag zu Hause, damit ich mir einen Schlüssel abholen kann, oder kann ich gleich vorbeikommen?“
„Im Moment bin ich nicht zu Hause. Ich bin früh los, um Besorgungen zu machen, und heute Nachmittag muss ich arbeiten. Können wir das morgen erledigen?“
„Natürlich. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie so weit sind. Ich halte die Anzeige zurück, bis ich die Schlüsselbox angebracht habe, aber ich werde die Information schon mal an mein Büro und ein paar Kunden weitergeben, von denen ich weiß, dass sie in der Gegend ein Haus suchen. Vielleicht ist es ja schon verkauft, bevor ich überhaupt den Schlüssel in der Hand habe.“
„Das wäre wunderbar. Danke, Patty. Ich rufe Sie heute Nachmittag oder morgen Vormittag an und gebe Ihnen Bescheid, wann wir uns treffen können.“
„Prima. Und vielen Dank für die Adresse der Therapeutin.“
Emma schob das Handy in ihre Gesäßtasche und griff nach ihrer Handtasche. Ihr Magen knurrte und ihr war ein wenig schwindlig. Als Allererstes musste sie etwas essen. Sie schnappte sich ihren Laptop. Während des Frühstücks suchte sie bereits nach Stellen in anderen Bundesstaaten. Vielleicht würde sie nach Kalifornien gehen. Oder Alaska.
Hauptsache, weit weg von Louisiana.