Prolog

Algiers Point, Orleans Parish

8. Juni 2015

Emma Frederick schoss im Bett hoch. Ihr Herz raste. Blinzelnd versuchte sie, im dunklen Zimmer etwas zu erkennen. Gewitterwolken verdeckten den Mond, und drinnen und draußen war alles in pechschwarze Dunkelheit gehüllt. Eine Lampe anzuschalten kam nicht infrage. Zumindest nicht im Moment.

Verzweifelt versuchte sie, ihre Panik als Reaktion auf einen Albtraum abzutun, doch insgeheim wusste sie, dass sie sich damit etwas vormachte. Sie war kaum eingeschlafen gewesen, als ein vermeintliches Geräusch sie plötzlich wieder hatte hochschrecken lassen. Jetzt saß sie mucksmäuschenstill da, hielt den Atem an und betete, dass ihre Angst nur von einer Panikattacke herrührte, die ihr posttraumatisches Stresssyndrom ausgelöst hatte. Die Sekunden tickten vorbei, und als jede einzelne in völliger Stille verging, beruhigte sich Emma allmählich.

Sie stieß langsam den Atem aus und spürte, wie die Anspannung in Schultern und Rücken nachließ. Da war nichts. Ihre übereifrige Fantasie oder ihr desolater mentaler Zustand hatte ihr lediglich einen Streich gespielt. Vielleicht auch beides. Sie wünschte sich inständig, alles würde sich normalisieren. Was auch immer normal wohl bedeuten würde.

Krrack.

Das Knarzen der losen Bohle auf einer Treppenstufe versetzte ihren Körper geradewegs zurück in Alarmbereitschaft. Die Nacht war still. Die Gewitterwolken hingen über dem Haus, doch im Moment herrschte noch die Ruhe vor dem Sturm. Kein Wind. Nur die überwältigende Luftfeuchtigkeit von New Orleans. Nichts, was dazu führen könnte, dass das Haus Geräusche erzeugte.

Jemand kam die Treppe herauf.

Emma glitt lautlos aus dem Bett. Kniend zog sie die Bettdecke so zurecht, als wäre das Bett nicht benutzt worden, und kroch dann bis zum Schrank. Die gut geölte Tür stand einen Spalt offen und sie zog sie weit genug auf, um sich durchquetschen zu können. Schnell kroch sie in den Schrank und zog die Tür hinter sich zu. Emma duckte sich an ein paar Kleidern vorbei und schob das versteckte Paneel auf der Rückseite des Schranks zur Seite. Sie machte sich noch kleiner und zwängte sich durch die schmale Öffnung in das Dunkel dahinter.

Verdammt!

Sie erstarrte und verfluchte sich dafür, dass sie die Pistole unter ihrem Kopfkissen vergessen hatte. Am Vortag hatte sie das Ganze mindestens zehn Mal geübt. Warum machte sie jetzt einen Fehler?

Inzwischen war es zu spät, um die Waffe noch zu holen, daher betrat sie ihr Versteck. Der Raum hinter dem Schrank umfasste die gesamte Länge des Schlafzimmers – vier Meter –, war jedoch nur einen Meter breit. Mit fünf Jahren war ihr das Zimmer riesig groß vorgekommen, doch zwanzig Jahre später hatte sie das Gefühl, als ob die Wände immer näher auf sie zukämen und langsam alle Luft aus dem Raum drängten. Stück für Stück arbeitete sie sich bis zum Ende des pechschwarzen Raums vor und kauerte sich wartend an die Wand.

Im großen Schlafzimmer würde der Einbrecher zuerst suchen. Weil er davon ausging, dass er sie dort fand. Sie hatte das Bett dort zerwühlt und das Fenster neben dem angrenzenden Bad einen Spalt offen gelassen. Davor stand eine riesige Eiche, und ein dicker Ast reichte wie eine Brücke direkt bis zum Haus herüber. Jeder halbwegs sportliche Mensch würde es schaffen, aus dem Fenster in den Baum zu klettern. Emma war dazu durchaus in der Lage und hoffte, dass der Einbrecher zu dem gleichen Schluss gelangen würde.

Das Quietschen von alten Scharnieren echote durch das Haus, und sie wusste, dass er die Tür zum großen Schlafzimmer geöffnet hatte. Emma zwang sich, normal zu atmen. Ein, aus, ein, aus. Sie musste schnell reagieren können, falls ihr Ablenkungsmanöver nicht funktionierte. Mit jeder verstreichenden Sekunde betete sie, dass sie hinabgehende Schritte auf der Treppe hören würde, aber als das nächste Geräusch erklang, erkannte sie, dass er den Flur zu dem Zimmer entlangkam, in dem sie geschlafen hatte. Ihrem ehemaligen Kinderzimmer.

Ihr Pulsschlag beschleunigte sich erneut und ihr wurde schwindelig. Mit geschlossenen Augen holte sie tief Luft, stieß den Atem langsam wieder aus und versuchte, den Schwindel zu bekämpfen. Ein leises Klicken verriet, dass die Tür zum Schlafzimmer geöffnet wurde. Gleich darauf hörte sie, wie er den Raum betrat. Sie ballte die Hände zu Fäusten und grub die Nägel in ihre weichen Handflächen. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei. Wie lange stand er dort? Sie hörte einen weiteren Schritt und hoffte inständig, dass er ging. Und dann begann es plötzlich.

Anfangs erst leise, sodass sie dachte, sie bilde es sich nur ein.

Doch dann wurde das Pfeifen lauter.

Drei blinde Mäuse. Schau, wie sie rennen.

Sie drückte beide Hände vor den Mund, um den Schrei zurückzuhalten, der ihr in der Kehle brannte.

Er konnte es unmöglich sein.

Laufen weg, so schnell sie können.

Es war ausgeschlossen, das wusste sie, aber sie brauchte Gewissheit. Sie musste sich selbst beweisen, dass es jemand anderes war. Ehe sie es sich anders überlegen konnte, nahm sie eine Hand von ihrem Mund und stieß sich damit vom Boden ab. Zentimeterweise schob sie sich nach oben, bis sie schließlich aufrecht stand. Im tiefen Dunkel ließ sich zwar nichts erkennen, doch sie wusste genau, wo sie das Guckloch finden würde, das sie am Vortag an der Wand angebracht hatte. Sanft strich sie mit der Hand über die Fläche, bis sie die Unebenheit fand.

Mit beiden Händen entfernte sie vorsichtig den winzigen Stöpsel. Sie legte das rechte Auge an das Loch und spähte ins Schlafzimmer. Mit einer Stiftlampe wurde zuerst das Bett und dann der Schrank angeleuchtet. Eine dunkle Figur folgte dem Lichtstrahl. Zuerst war nur ein schwacher Umriss seines Körpers erkennbar. Als er die Schranktür öffnete, hielt sie den Atem an. Er hatte ihr Versteck entdeckt, es war vorbei.

Schweißtropfen rannen ihr von der Stirn in die Augen und hinterließen ein brennendes Gefühl. Als die Schranktür geschlossen wurde, hätte sie vor Erleichterung fast geweint. Wieder waren Schritte zu hören und sie sah die schattenhafte Figur zurück in Richtung Flur gehen. Angestrengt versuchte sie, zu erkennen, wer der Eindringling war.

Als er gerade das Zimmer verlassen wollte, schlug irgendwo jemand eine Autotür zu, und er drehte den Kopf. Im selben Moment drang das Mondlicht durch die Wolken und fiel auf sein Gesicht.

Emmas Herz schlug so heftig, dass sie Angst hatte, es würde ihr die Brust sprengen. Urin lief warm an ihren Beinen hinunter und tropfte auf den Boden. Nein! Er konnte es nicht sein. Das war unmöglich.

Sie hatte ihn vor einem Monat umgebracht.