Kapitel 27
Shaye rannte aus der Hütte und zog dabei ihr Handy heraus. Kein Empfang. Shit! Sie sprang ins Auto und fuhr so schnell wie möglich rückwärts den engen Pfad entlang. Am Ende legte sie den Vorwärtsgang ein und der SUV schlitterte im Staub. Sie warf das Handy in ihren Getränkehalter und umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen. Dann gab sie Gas und konzentrierte sich darauf, in der Mitte der engen Straßen zu bleiben.
Als sie die Auffahrt zum Highway erreichte, riss sie das Lenkrad abrupt herum und bog ab. Noch ehe sie die Kurve ganz genommen hatte, trat sie das Gaspedal durch. Der Wagen machte einen Satz nach vorn und geriet kurz ins Schlingern, bis die Räder wieder Bodenhaftung hatten. Sie griff nach ihrem Handy. Ein Balken.
Shaye wählte Jacksons Nummer und hoffte inständig, dass er vorhin auf sie gehört hatte und zu Emmas Haus gefahren war.
Er nahm beim ersten Klingeln ab.
„Es ist Patty, die Immobilienmaklerin“, sagte Shaye. „Sie ist der Stalker.“
„Was?“ Jacksons Ton ließ keinen Zweifel daran, dass sie seiner Meinung nach den Verstand verloren hatte.
„Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber Sie müssen mir vertrauen. Emma wollte ihren Hausschlüssel bei Patty abgeben. Patty wird sie töten. Game over!“
„Okay. Beruhigen Sie sich. Detective Reynolds und ich sind schon unterwegs.“
„Wie lang brauchen Sie noch?“
„Fünfzehn, maximal zwanzig Minuten.“
Der Anruf riss ab und Shaye warf ihr Handy fluchend auf den Beifahrersitz.
Und dann betete sie, dass Jackson Emma rechtzeitig erreichen würde.
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Patty stand in der Schlafzimmertür und hielt eine Pistole auf Emma gerichtet. „Es freut mich, dass du so überrascht bist. Ich hab viel Zeit und Mühe in diese Verkleidung gesteckt, und es hat mich eine Menge gekostet.“
Ungläubig starrte Emma Patty an. Das war unmöglich. Patty war zwar groß, aber ihren Körperbau konnte man auf keinen Fall mit dem eines Mannes verwechseln, und ihre langen Haare und Gesichtszüge machten eine Verwechslung noch unglaubwürdiger. Patty konnte nicht der Mann gewesen sein, den sie in der besagten Nacht in ihrem Schlafzimmer gesehen hatte. Und außerdem, warum sollte Patty ihr etwas antun wollen?
„Ich verstehe das nicht“, sagte Emma.
Patty grinste. „Natürlich nicht. Die ganze Zeit über hast du geglaubt, dein toter Ehemann verfolgt dich. Oder sollte ich lieber sagen, mein toter Bruder?“
„Ihr Bruder? David hat mir nie etwas von einer Schwester erzählt.“
Patty wurde feuerrot. „Ich bin nicht seine Schwester! Ich bin sein Bruder. Ich war immer sein Bruder.“
Emmas Gedanken überschlugen sich. War das möglich? War Patty tatsächlich ein Mann?
„Wir waren zu dritt … Nathan, Jonathon und ich. Sie hat uns immer ihre drei blinden Mäuse genannt, weil wir die Welt anders sahen als sie, aber wenn deine Mutter eine Irre ist, ist es nicht so einfach, ihrer Meinung zu sein. Nathan starb, als wir noch Kinder waren. Ist ertrunken. Mama war außer sich, weil Nathan immer ihr Liebling gewesen war. Nathan hat sie nie geschlagen. Ihn nie hungern lassen. Ihn hat sie nie angebunden und ihn dann mit einem Messer geschnitten und lachend zugesehen, wie er geblutet hat. Jonathon hatte nicht so viel Glück. Er hat ein bisschen zu sehr ausgesehen wie unser durch Abwesenheit glänzender Vater. Und dann gab es da noch mich.“
Patty trat näher auf Emma zu. „Ich hatte das größte Pech. Denn Mama war der Ansicht, dass ich schon böse geboren wurde. Und weißt du auch, warum? Weil ich als Frau zur Welt kam. Mama hasste Frauen und weigerte sich zu glauben, dass sie eine in die Welt gesetzt hatte, also wurde ich ein Junge. Allerdings hat sie mir nicht geglaubt, dass ich mein Geheimnis bewahren würde, deshalb hat sie meine Existenz allen verschwiegen. Bis Jonathon herausfand, wie er meine Handschellen öffnen konnte, als wir Teenager waren, bestand meine ganze Welt nur aus vier Wänden und einer schimmligen Matratze auf dem Boden. Ich hab genau aufgepasst, wie ich mich befreien konnte, und es immer nur getan, wenn Mama stockbesoffen eingeschlafen war.“
Emma versuchte, sich den Horror vorzustellen, den Patty beschrieb, aber es war so völlig anders als alles, was sie kannte, dass es ihr nicht gelang.
„Ich wollte keine Frau sein“, fuhr Patty fort. „Frauen waren schlecht, das wusste ich, weil eine böse Frau uns unseren Daddy weggenommen hatte, sodass wir bettelarm in einer Hütte leben mussten. Niemals wollte ich so werden wie die böse Frau. So eine wertlose Hure würde ich niemals sein. Ich wollte ein Mann sein. Der seine Familie beschützte, statt sie zu verlassen. Genau wie meine Brüder hab ich mir den Kopf rasiert und wir trugen dieselben Sachen. Ich wusste, dass ich keine Frau war, und Mama hat es allmählich auch geglaubt, aber mein Körper war ein Verräter. Mir wuchsen Brüste, und meine Hüften wurden breiter, bis ich nicht mehr in die Hosen meiner Brüder passte.“
Emmas letzte Hoffnung schwand. Patty war irre. Sie hatte zwar gewusst, dass ihr Stalker nicht ganz richtig im Kopf sein konnte, aber Patty hatte jeglichen Funken Verstand verloren und würde sich auf keine Diskussion einlassen. Und Emma hatte ihren einzigen Retter getötet. Sie sah nach unten, aber Pattys Beine waren unter einem dieser langen Röcke versteckt, die sie immer trug. Vorhin hatte sie behauptet, Muskelkrämpfe zu haben, aber wenn Patty der Stalker war, hatte sie auch Mrs Pearson ermordet und wegen der Krämpfe womöglich gelogen. Trotzdem, durch ihre MS hatte sie nicht halb so viel Kraft wie Emma. Wenn es Emma gelang, sich auf sie zu stürzen ehe Patty schießen konnte, dann hatte sie vielleicht eine Chance. War sie erst mal bei der Treppe, würde sie es auch aus dem Haus schaffen. Patty würde niemals mit ihr mithalten können.
Patty neigte den Kopf zur Seite und lächelte. „Du überlegst, wie du an mir vorbeikommen kannst. Weil du glaubst, schneller zu sein als ein Krüppel. Das Problem ist nur, ich bin kein Krüppel. Nie gewesen. Die Multiple Sklerose hat genauso zu meiner Verkleidung gehört wie die Kleider und das Make-up. Ich wusste, dass eine Krankenschwester jemandem mit einer Behinderung bedingungslos vertrauen würde. Und ich wusste, dass du zuallererst meine Krankheit sehen würdest, denn genau dafür wurdest du ausgebildet. Ich bin auch weder übergewichtig noch außer Form.“
Patty griff sich mit einer Hand unter das T-Shirt und zog. Emma hörte ein Ratschen, und Patty warf ein Polster mit Schaumstoffbrüsten und Bauchwattierung auf den Boden. „Sobald ich von zu Hause ausgerissen war, hab ich mir die Brüste entfernen lassen. Die Gebärmutter wurde auch rausgenommen. Keine monatliche Bluterei für mich. Keine Fettsäcke auf meinem Brustkorb, die mich verhöhnen. Ich musste zwar zu einem dieser Hinterhofpfuscher gehen, aber er hat seinen Zweck erfüllt. Endlich war ich die verräterischen Teile los, die mir mein wahres Ich nehmen wollten.“
„Sie sind krank, Patty“, sagte Emma verzweifelt. „Sie brauchen Hilfe.“
„Nenn mich nicht so! Mein Name ist Alan. Bis David dich geheiratet hat und nach Algiers Point gezogen ist, hab ich glücklich als Alan Frye gelebt, und sobald ich hier fertig bin, werde ich genau das wieder tun. Zu meinem wahren Leben zurückkehren. Ich werde all diese Hurenklamotten und die anderen Frauensachen verbrennen. Wärst du nicht gewesen, hätte ich ich selbst sein und in Davids Nähe bleiben können. Doch du hast das alles ruiniert. Hätte ich mein wahres Ich gezeigt, hättest du womöglich unser Geheimnis erraten.“
Patty griff sich an den Kopf und riss die Perücke herunter. Darunter kam ein Militärhaarschnitt zum Vorschein. Aus der Tasche zog sie ein feuchtes Tuch und wischte sich damit übers Gesicht, immer wieder, bis das gewohnte dicke, grelle Make-up fast verschwunden war.
Entsetzt sah Emma zu. Pattys Eyeliner war verschmiert und klebte ihr an den Wangen. Der grellrote Lippenstift bildete Bröckchen auf den Lippen. In ihrer weißen Bluse und dem blauen Rock mit Blumenmuster stand sie lächelnd da und betrachtete Emma aus stumpfen, schwarzen Augen. Kein Wunder, dass sie Patty in der Nacht damals für David gehalten hatte. Ohne Make-up traten Pattys kantiges Kinn und die Kieferknochen deutlich hervor. Sie war ein wenig kleiner als David, aber ohne das Polster ähnelten sich ihre Körper. Emmas Blick fiel auf das Brustpolster. Jegliche Hoffnung war gestorben. Niemand würde kommen, um sie zu retten, weil niemand wusste, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Niemand würde ihr helfen. Patty hatte gewonnen.
Schlimmer noch, niemand würde je erfahren, was mit ihr passiert war.
„Er hat geglaubt, er könnte sich ändern“, sagte Patty. „Er ist zum Militär gegangen, weil er unserer Kindheit entfliehen wollte. Hat gedacht, er könnte ein anderer Mensch werden. Und er war nah dran. Mit dir hatte er es fast geschafft, zumindest für eine Weile. Der einzige Teil seiner Vergangenheit, den er nicht loswerden konnte, war ich. Er war schon immer mein Beschützer gewesen und er konnte nicht damit aufhören, obwohl er Angst hatte, sich in meiner Nähe aufzuhalten.“
Patty grinste. „Angst davor, dass ich ihn mit zurück in die Dunkelheit ziehen würde. Aber das musste ich gar nicht. Bei seinem letzten Einsatz ist irgendwas passiert. Er hat mir zwar nichts darüber erzählt, aber ich konnte es in seinem Blick sehen. Mein Bruder war wieder da.“
Erschöpfung und Verzweiflung ergriffen Emma. „Warum bringen Sie mich nicht einfach um?“
„Weil du dafür bezahlen sollst, was du mir genommen hast. Du sollst spüren, wie es ist, wenn man leidet. Wie es ist, wenn das eigene Leben auf der Kippe steht und man niemanden hat, der einem hilft.“
Sie würde sterben. Emma wusste es mit absoluter Sicherheit. Sie war mit einer Verrückten, die von Anfang an vorgehabt hatte, sie zu töten, in diesem Zimmer gefangen. Sie konnte nicht schneller laufen, als eine Patrone fliegen konnte, und ein einziger, gut platzierter Schuss würde ausreichen, um alles Leben aus ihr fließen zu lassen.
Doch je länger Emma auf Pattys Grinsen starrte, desto wütender wurde sie. Gott allein wusste, wie vielen Menschen Patty neben dem Rachefeldzug wegen ihres Bruders sonst noch etwas angetan hatte. Emma glaubte nicht eine Sekunde lang, dass Patty seit der Flucht vor ihrer Mutter ein tadelloses Leben geführt hatte. Menschen wie Patty erschienen nicht einfach wie von Zauberhand. Sie entstanden im Laufe der Zeit.
Sie hat Mrs Pearson und den Sanitäter ermordet. Sie hat versucht, Corrine zu töten, um Shaye zu treffen, und Shaye war der einzige Mensch, der mir geglaubt hat.
Emma presste die Zähne zusammen. Sie würde sterben, aber ganz gewiss nicht kampflos.
Ihr blieb nur Zeit genug für eine Aktion, und die musste gut sein. Auch ohne das Polster war Patty immer noch eine große Frau, die Emma mindestens um zehn Zentimeter und fünfzehn Kilo überlegen war. Sie musste schnell handeln. Und stark sein. Und clever.
Emma sah über Pattys Schulter hinweg durch das Fenster im gegenüberliegenden Zimmer, und eine Idee formte sich in ihrem Kopf. Sie starrte noch ein paar Sekunden länger dorthin und lächelte. „Du blöde Kuh. Du wusstest nicht, dass sich die Polizei hier mit mir treffen wollte. Gerade ist der Streifenwagen vorgefahren. Du kannst mich zwar töten, aber du wirst nicht ungeschoren davonkommen. Sobald die Patrone den Lauf verlässt, stürmen sie das Haus.“
Emma deutete auf das Fenster hinter Patty und hoffte inständig, dass sie den Köder schluckte. Patty runzelte die Stirn und schaute zum Fenster. Dieser winzige Konzentrationsverlust war Emmas einzige Chance, und sie nutzte sie. Sobald Patty den Blick von ihr genommen hatte, setzte sie zum Sprung an. In guter Form war sie schon immer gewesen, doch das Kampfsporttraining in jüngster Zeit hatte ihre Reflexe trainiert. Emmas Bewegungen kamen schnell und akkurat. Sie stieß Patty mit der Schulter in die Seite und legte ihr ganzes Körpergewicht hinein.
Patty verlor das Gleichgewicht und taumelte gegen die Kommode, wobei ihr die Waffe aus der Hand fiel. Emma versuchte, an ihr vorbeizusprinten, doch Patty packte sie am Bein. Emma strampelte wie wild um sich und schaffte es, ihren Fuß Pattys Griff zu entreißen. Dann schoss sie aus der Schlafzimmertür und die Treppe hinunter. Sie hörte Pattys Schritte hinter sich, und lautes Fluchen.
Emma war gerade von der letzten Stufe gesprungen, als die erste Kugel an ihr vorbeiflog. Geduckt rannte sie zur Haustür und hoffte inständig, dass sie es bis zu ihrem Auto schaffte, ehe Patty die Treppe herunterkam. Ohne eigene Waffe wäre sie draußen ein leichtes Ziel, und Patty schien inzwischen alles egal zu sein. Hauptsache, Emma starb. Als Emma gerade die Haustür aufriss, knallte ein zweiter Schuss. Sie schrie auf, als die Kugel ihren Arm streifte und sich nur Zentimeter neben ihrem Kopf in die Wand bohrte.
Sie würde es nicht schaffen.
Aber sie würde ganz sicher dafür sorgen, dass jeder in der Nachbarschaft genau wusste, wer sie getötet hatte. Sie riss die Fliegengittertür fast aus den Angeln und rannte schreiend die Verandastufen hinunter. Der dritte Schuss traf sie an der Schulter, die Wucht des Aufpralls und der plötzliche Schmerz ließen sie stolpern und sie stürzte auf den Gehweg. Sie sah zum Haus. Patty stand in der Tür und richtete die Pistole auf sie.
Lächelnd begann sie zu pfeifen. Emma schloss die Augen und wurde ohnmächtig, als der letzte Schuss fiel.