Kapitel 26

Shaye hielt an und studierte die Skizze, die Sissy ihr gemacht hatte. Das Problem bestand darin, dass die Sumpfstraßen nicht beschildert waren. Stattdessen hatte Sissy die Stellen, an denen Shaye abbiegen musste, mit Bemerkungen wie „vom Blitz gespaltener Baum“ markiert. Vor zehn Jahren hätte diese Wegbeschreibung Shaye bestimmt zu dem Haus geführt, aber das Golfwetter hatte im Laufe der Jahre dafür gesorgt, dass manche Markierungen nicht mehr so leicht zu erkennen waren. Sie war bereits zwei Mal in einer Sackgasse gelandet und wollte gerade wieder umkehren.

Mit einer Papierzeichnung im Sumpf herumzuirren war etwas ganz anderes, als sich durch Navis und Google Maps führen zu lassen. Doch selbst wenn die Straßen von Hamet vom Satelliten aus sichtbar gewesen wären, ihr Handyempfang ließ seit dem Highway zu wünschen übrig.

Shayes Telefon piepte. Es war eine Nachricht von Emma.

Muss meinen Pass, meinen Sozialversicherungsausweis und die Eheringe meiner Eltern aus dem Haus holen. Gebe auch Schlüssel bei Patty ab. Die Polizei ist noch dort.

Shaye runzelte die Stirn. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn Emma geradewegs auf die Interstate und so weit weg von ihrem Haus wie möglich gefahren wäre, aber wenn die Polizei immer noch dort war, dann konnte ihr wohl nichts passieren. Ron wäre wohl kaum so dumm, am helllichten Tag am Tatort seines Mords aufzutauchen.

Seien Sie vorsichtig.

Sie schickte die Nachricht ab und seufzte, als sie wegen eines weiteren Funkloches im Postausgang liegen blieb.

Shaye legte den Rückwärtsgang ein und versuchte erneut, drei Zypressenbäume an einer Kreuzung auszumachen, die ein Dreieck bildeten. Nur noch diesen Abzweig musste sie finden, doch er war von allen bisher am schwierigsten aufzuspüren. Nach weiteren zehn Minuten Herumirren war Shaye kurz davor, aufzugeben, als ihr Blick auf zwei Bäume fiel. Daneben standen die Überreste eines dritten. Sie inspizierte die Bäume. Schon möglich, dass es sich um die Gruppe handelte, die Sissy meinte.

Ach, was hatte sie schon zu verlieren? Sie bog auf den Pfad ein. Schlimmstenfalls würde sie einfach wieder umkehren. Der Weg war voller riesiger Schlaglöcher, sodass sie sehr langsam fahren musste, um nicht ständig hoch- und runtergeschüttelt zu werden, was nicht nur ihrem SUV, sondern auch ihr selbst schaden könnte. Das Buschwerk wurde dichter und der Pfad immer schmaler, und schließlich kratzten die Zweige sogar übers Auto.

Die Baumkronen bildeten ein Dach, und je weiter sie fuhr, desto weniger Licht drang durch die Äste, bis sie das Gefühl bekam, es wäre schon Abend statt Nachmittag. Die Äste hingen immer tiefer und die Blätter streiften über das Dach ihres SUV. Sie schaltete die Scheinwerfer ein und nahm den Fuß vom Gaspedal, bis sie nur noch Schrittgeschwindigkeit fuhr. Der Pfad war zwar überwuchert, dennoch schien er nicht unbefahren zu sein. Falls Helen damals mit Jonathon den Ort verlassen hatte, war danach jemand hergekommen und hatte dafür gesorgt, dass der Pfad nicht vollständig zuwucherte.

Trotzdem erschien ihr die Gegend gruselig und wirkte auf sie wie einem Horrorfilm entsprungen. Der Weg bog scharf nach rechts ab und sie folgte ihm. Dann trat sie hart auf die Bremse, als plötzlich unmittelbar vor ihr eine Hütte stand. Der SUV machte einen Satz nach vorn und blieb nur Zentimeter von der Veranda entfernt stehen.

Wenn der Weg Shaye schon an die Kulisse aus einem Horrorfilm erinnert hatte, hätte die Hütte die Hauptrolle spielen können. Sie bestand aus Holz und Aluminium. Das Holz war grau und verwittert, und das Gebäude sank nach rechts hin ab. In den verrosteten Dachblechen konnte Shaye Löcher erkennen.

Ein überwältigender Drang überkam sie, den Rückwärtsgang einzulegen und so schnell wie möglich zu verschwinden. Sissy war im Sumpf geboren und glaubte an alte Legenden über Geister. Shaye war zwar nicht abergläubisch, aber in diesem Fall musste sie Sissy recht geben. Mit dem Haus stimmte etwas nicht. Es strahlte etwas Beklemmendes aus.

Hier passierte nichts Gutes.

Angesichts seines Zustandes lebte hier wohl niemand mehr, also konnte es nicht schaden, wenn sich Shaye ein wenig umsah. Möglicherweise gab es irgendwo noch ein Familienfoto. Einen konkreten Beweis, den sie Emma zeigen konnte, wenn Shaye sie über die Vergangenheit ihres mysteriösen Ehemanns aufklärte. Sie holte ihre Neunmillimeter aus der Handtasche. Auch wenn keine Menschen mehr in der Hütte wohnten, waren womöglich irgendwelche Sumpfkreaturen eingezogen. Viele davon waren eine tödliche Gefahr, erst recht, wenn sie das Gefühl hatten, dass man ihren Wohnraum bedrohte.

Sie ließ die Scheinwerfer an, damit sie vielleicht ein bisschen Licht in die dunkle Hütte bringen konnten, holte aber trotzdem ihre Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Vorsichtig setzte sie einen Fuß auf die baufällige Veranda. Ein falscher Schritt und sie würde garantiert nach unten durchfallen. Sie machte sich weniger Sorgen um den Fall als vielmehr um die rostigen Nägel. Es hatte mal eine Zeit in ihrem Leben gegeben, als sie sich mit Wundsalbe eingerieben hatte wie andere Frauen mit Bodylotion. Sie hatte null Interesse daran, das wiederaufleben zu lassen.

Sie spähte durchs Fenster, aber das schmutzige Glas verhinderte, dass der Strahl ihrer Taschenlampe ins Innere drang. Im dämmrigen Licht ließ sich kaum mehr als Schatten ausmachen. Zumindest bewegte sich keiner von ihnen. Die Tür besaß weder Schloss noch Türknauf. Shaye drückte sie auf und ging hinein.

Die hinterlassenen Möbel ließen erahnen, dass der vordere Raum wohl als Küche, Esszimmer und Wohnzimmer gedient hatte. Der Kochbereich bestand aus einer einzigen Kochplatte und kaputtem Geschirr. Daneben stand eine Laterne mit einer zerbrochenen Scheibe auf der Kühlbox. Keine Elektrizität. Shaye war nicht wirklich überrascht. In vielen der abseitsliegenden Bayou-Häuser gab es weder fließend Wasser noch Strom.

Vor der Arbeitsplatte lag ein winziger kaputter Tisch auf dem Boden. Die hölzernen Beine waren verrottet. An der gegenüberliegenden Wand stand eine zerschlissene Couch. Die Füllung war aus den Polstern gezerrt und in den Ecken zu runden Nestern gelegt worden, die so gar nicht zu dem restlichen Chaos passten. Shaye hoffte, dass, was auch immer dort gewohnt hatte, inzwischen ein schöneres Zuhause gefunden hatte.

Der ganze Raum war maximal achtzehn Quadratmeter groß. Es gab eine weitere Tür, die vermutlich zum Schlafzimmer führte. Ein Badezimmer würde es in einer solchen Behausung wohl nicht geben. Mit erhobener Waffe ging Shaye auf die Tür zu.

Im selben Moment klingelte ihr Handy. Unwillkürlich machte sie einen Satz nach hinten und zielte auf die Tür. Dann erkannte ihr Gehirn das Geräusch, und sie zog das Telefon aus der Tasche. Als sie auf dem Display Jacksons Nummer erblickte, beschleunigte sich ihr Puls. Hoffentlich war der Empfang gut genug, um ihn zu verstehen.

„Ja?“ Sie bemühte sich, ganz still zu stehen, damit das Netz nicht verschwand.

„Wir haben Ron Duhon gefunden.“

Erleichterung durchzuckte Shaye, und sie spürte, wie sich ihr Körper entspannte. „Das ist ja wunderbar!“

„Ich wünschte, es wäre so. Er ist tot. Und das seit mindestens einem Tag.“

Shaye war verwirrt. „Das ist nicht möglich. Er hat gestern Abend den Sanitäter ermordet und die Patientin …“

„Das kann er nicht gewesen sein. Shaye, der Stalker läuft immer noch frei rum, und Emma geht nicht an ihr Handy.“

Shaye kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. Sie musste nachdenken. „Emma wollte ein paar Sachen aus ihrem Haus holen. Die Polizei war immer noch dort.“

„Die letzten Forensiker sind vor zehn Minuten gegangen und hierher ins Motel gekommen, wo wir Ron gefunden haben.“

„Sie müssen zu ihr fahren. Bringen Sie sie in Sicherheit. Verdammte Scheiße!“

Etwas schlug an die Rückseite der Hütte, und Shaye ließ beinahe das Handy fallen.

„Was ist los?“, fragte Jackson. „Wo sind Sie?“

„In der Hütte, wo David gewohnt hat“, flüsterte sie. „Aber hier ist noch irgendwer. Einen Moment.“

„Warten …“

Sie schob das Handy in die Tasche und hielt die Pistole wieder schussbereit, während sie Schritt für Schritt auf die Tür zuging. Der angrenzende Raum war kleiner als der erste und enthielt drei Matratzen, die nebeneinander in der Ecke lagen. Wie bei der Couch war auch hier die Füllung herausgezogen und von Gott weiß was als Zuhause benutzt worden. Ihr Herz klopfte so heftig, dass die Schläge in Shayes Kopf widerhallten und die absolute Stille durchbrachen. Auf der linken Seite befand sich eine weitere Tür, und mit der Pistole im Anschlag ging Shaye langsam darauf zu.

Was sich darin befand, traf sie völlig unvorbereitet.

Die mit einem Arm ans Bett gekettete Frau bestand aus kaum mehr als Haut und Knochen. Zerrissene Lumpen hingen über ihrer runzligen Haut. Jeder Zentimeter ihres Körpers, den Shaye einsehen konnte, war mit Narben bedeckt. Die roten und lilafarbenen Schlitze glühten förmlich auf der weißen Haut. Der Kopf war nach einer Seite gerollt und die Zunge hing zwischen den trockenen weißen Lippen heraus. Doch das Schlimmste waren die Augen, beziehungsweise das, was davon übrig war. Sie waren ihr bei lebendigem Leibe herausgestochen worden. Eine getrocknete Blutspur verlief von den Höhlen bis zur Brust. Obwohl ihr Gesicht eingefallen und blutunterlaufen war, fiel Shaye die Ähnlichkeit sofort auf.

Es musste Helen Bourg sein.

Ein Stück Dach lag auf dem Boden am Fußende des Bettes. Von dem Aluminium stieg immer noch Staub auf. Das erklärte das Geräusch, aber noch lange nicht, was der Frau zugestoßen war.

Die Verwesung hatte noch nicht eingesetzt, also konnte sie noch nicht lange tot sein. Doch die eigentliche Frage war: Wie lange war sie an ihr eigenes Bett gekettet gewesen, und wichtiger noch, von wem? War Jonathon nach Hause zurückgekehrt, um sich um die Person zu „kümmern“, die ihn zu dem gemacht hatte, was er war?

Der Nachttisch neben dem Bett war umgefallen und die Schublade herausgerutscht. Shaye konnte vergilbte Dokumente und Fotos darin erkennen. Sie zögerte, ging dann jedoch langsam hinüber und zog zwei Fotos heraus. Das erste zeigte Helen Bourg mit ihren Babys.

Ihren drei Babys!

Shayes Puls schlug schneller. Das Foto war zwar verknittert und vergilbt, aber es gab keinen Zweifel – drei Babys in blauen Decken. Sissy hatte gar kein drittes Kind erwähnt. Shaye stieß den Atem aus. Denk nach. Helen war eine arme Frau und hatte wahrscheinlich eine Hausgeburt gehabt. Eins der Babys hatte vermutlich nicht überlebt.

Sie besah sich das nächste Bild und schnappte überrascht nach Luft. Die drei Jungs, die vor der Hütte standen, waren mindestens zehn Jahre alt. Einer war ein wenig kleiner als die anderen beiden, aber es gab keinen Zweifel daran, dass sie Geschwister waren. Alle drei trugen nichts außer Jeansshorts. Obwohl ihre Arme und Beine voller blauer Flecken waren und sie ganz offensichtlich an Mangelernährung litten, wirkte keiner von ihnen behindert. Warum wusste also niemand in Port Sulphur, ganz zu schweigen von der Schulbehörde, von einem dritten Kind?

Ein lebender Bruder änderte alles. Es würde erklären, warum Emma ihren Ehemann selbst nach seinem Tod gesehen hatte. Es würde erklären, warum der Stalker so viel über ihr Leben wusste. Jonathon musste in Kontakt mit ihm gestanden haben.

Sie wandte sich zum Gehen, da legte sich eine knochige Hand um ihr Handgelenk. Schreiend riss Shaye sich los und sprang vom Bett weg, während die Frau, die sie für tot gehalten hatte, lebendig wurde. Helen richtete sich auf, das Gesicht wutverzerrt. Die leeren Höhlen schienen Shaye böse anzustarren.

„Verschwinde aus meinem Haus, du Schlampe! Ich rieche den Gestank von Lotion.“ Schaum kam aus Helens Mund und blubberte auf ihren Lippen. Sie machte einen Satz auf Shaye zu und fuchtelte wie wild mit dem freien Arm, um sie wieder zu schnappen, doch die Kette am anderen Arm verhinderte das. Ihre knochigen Finger sahen aus, als gehörten sie einer Leiche statt einem Menschen. Ihre Fingernägel waren gelb und krümmten sich um ihre Fingerkuppen.

Ekel, Angst und Panik durchzuckten Shaye, und sie machte einen Schritt zurück. Trotzdem konnte sie den Blick nicht von dem Grauen abwenden. „Sind Sie Helen Bourg? Wer hat Ihnen das angetan?“

„Es hat gesagt, es ist die Rache dafür, was ich ihm angetan hab. Dabei hab ich gar nichts gemacht. Ich konnte es nicht freilassen. Es war böse. Genau wie du.“

„Ich?“

„Ihr Frauen seid ein hinterhältiges, heimlichtuerisches Pack, ihr stehlt anderen Frauen die Männer und nehmt euch Rechte heraus, die euch nicht zustehen. Ihr seid alle gleich. So etwas Böses konnte ich hier nicht dulden. Es musste sich ändern. Aber es war gerissen. Es hat nicht gehört, also musste ich es anketten. Das musste ich, verstehst du? Bis es begriffen hat, wo es hingehört. Bis es gelernt hat, was richtig ist.“

Shaye starrte die Frau an und ihre Gedanken überschlugen sich. Ihre Worte ergaben keinen Sinn, aber sie mussten etwas zu bedeuten haben. „Hat Ihr Sohn Ihnen das angetan?“

„Es war nie mein Sohn!“, schrie Helen und Spucke flog ihr aus dem Mund. „Es war ein Monster und musste angekettet werden, aber jetzt läuft es frei herum. Es ist irgendwo da draußen und ich kann die Welt nicht länger vor ihm beschützen.“ Sie brach auf dem Bett zusammen und richtete die augenlosen Höhlen zur Decke.

Shaye versuchte verzweifelt, den Worten der Frau einen Sinn zu entlocken. Sie fuhr sich mit einer Hand über den Kopf. Was zum Teufel sollte sie jetzt tun? Erst mal die Polizei anrufen und einen Rettungswagen. Helen musste eindeutig ärztlich versorgt werden, aber Shaye musste in Erfahrung bringen, wie sie den dritten Sohn finden konnte. Der musste der Stalker sein.

Sie nahm die Pistole in die linke Hand und zog mit der rechten das Handy aus ihrer Tasche. Und als sie den Blick auf das Telefon senkte, bemerkte sie es. Zwischen zwei Bodenbrettern ragte eine Visitenkarte hervor, hinter einem der Bettpfosten. Sie steckte das Handy ein und bückte sich, die Augen wachsam auf Helen gerichtet. Durch den Verlust ihres Sehvermögens waren die anderen Sinne der Frau geschärft, und das Letzte, was Shaye wollte, war, noch einmal die Skeletthand auf ihrer Haut zu spüren. Helen immer im Blick, hob sie die Karte auf.

Patty Hebert

Immobilienmaklerin

Plötzlich ergab alles einen Sinn. Einen schrecklichen, entsetzlichen Sinn.