Kapitel 25
Acht Jahre waren seit dem Fest vergangen. Acht Jahre, in denen Sibylla sich tatsächlich mehr und mehr aus dem Geschäft zurückgezogen hatte.
Christoph führte nun die Kürschnerei, würde bald seinen Meisterbrief in der Tasche haben. Heinrich kam nur noch ab und zu, um, wie er sagte, nach dem Rechten zu sehen. Vor zwei Jahren war er auf das Altenteil gegangen, doch ohne Arbeit konnte er nicht leben.
Auch Barbara hatte Sibylla verlassen, lebte nun in einem Haus, dass von den Beginen, einer christlichen Frauenvereinigung, geführt wurde.
Eva arbeitete bei Katharina in der Einrichterei. Von Anfang an hatte sie großes Geschick bewiesen. Bald würde sie heiraten. 16 Jahre alt war sie nun.
Susanne hatte zwei Kinder geboren, einen Sohn, den sie nach ihrem Vater, der nie aus Spanien zurückgekehrt war, Wolfgang nannte. Einmal nur war ein wandernder Geselle gekommen und hatte von einem Frankfurter Kürschnermeister erzählt, der sich im elsässischen Straßburg niedergelassen haben sollte, nachdem er zu Fuß den berühmten Pilgerweg nach Santiago de Compostela gegangen war.
Das zweite Kind war eine Tochter, und Susanne hatte sie nach ihrer Stiefmutter Sibylla genannt.
Johannes, Schierens Sohn, hatte der Kürschnerei den Rücken gekehrt. Er war von der Wanderschaft zurückgekommen und hatte verkündet, sein größter Wunsch sei es, ein Leben als Kaufmann zu führen. Nun reiste er durch die Lande, verkaufte die Sachen aus den Schieren’schen Werkstätten und sorgte dafür, dass es nie an Nachschub fehlte.
Sibylla aber tat nichts. Sie hatte es richtig vorausgesehen; ihre Schöpferkraft war versiegt. Sie hatte die Fähigkeit, Kleider zu entwerfen und Wohnungen einzurichten, fast vollständig eingebüßt. Doch das bedrückte sie nicht. Um Schönheit sichtbar zu machen, benötigte man ein sehendes Auge, ein hörendes Ohr, ein fühlendes Herz. Sibyllas Herz war kalt und erstarrt, ihre Augen trüb. Für sie gab es Schönheit nur in der Erinnerung. Weiterhin führte sie die Kontorbücher, überwachte alle Vorgänge in den Werkstätten. Doch sie tat es schweigend. Niemand hörte Lob oder Tadel von ihr. Wie ein Gespenst lief sie durch das große Haus, den Blick meist ins Innere gerichtet.
Meist aber saß sie in einem bequemen Lehnstuhl am Fenster und starrte stundenlang ins Leere. Sie war nun 45 Jahre alt. Eine alte, müde Frau, die ständig fror und sich nach der Erlösung durch den Tod sehnte.
Manchmal, wenn die Tage warm waren und die Sonne schien, ging sie hinunter zum Main, setzte sich auf einen großen Stein und sah den Wäscherinnen bei der Arbeit zu. Noch immer hatte sie Angst vor Krähen, noch immer irrte sie in manchen Nächten allein durchs Haus, nur mit einem Wachslicht in der Hand.
Die Besuche bei anderen Leuten hatte sie aufgegeben. Kamen anfangs noch die Willmerin und die Goldschmiedemeisterin Harms zu Besuch, so unterließen sie diese Besuche bald, da sie von Sibylla nicht erwidert wurden.
Auch Briefe kamen selten, seit Lucia gestorben war. Ein Blitz habe sie getroffen, als sie bei einem Gewitter Schutz unter einer Zypresse gesucht hatte, hatten Kaufleute aus Florenz berichtet.
Wie lange war das jetzt her? Sibylla überlegte. Vier Jahre würden es im Sommer werden. Vier Jahre also, seit der letzte Brief für sie in diesem Hause abgegeben worden war.
Sibylla schrak auf, als es an der Tür klopfte. Sie wurde selten gestört. «Herein!», rief sie, und eine Magd betrat das Zimmer. In der Hand hielt sie eine Nachricht.
«Ein Bote war da, hat dies für Euch abgegeben», sagte sie schüchtern und reichte Sibylla das Papier.
Sibylla dankte, und die Magd verließ das Zimmer. Lange hielt Sibylla die Nachricht in der Hand, ohne das Siegel aufzubrechen. Sie hatte es sofort erkannt. Eine Schlange mit einem Stab. Eine Schlange, die es auch als Türklopfer gab. An einem Haus in der Schäfergasse. Dem Haus Isaak Koppers.
Sibyllas Herz, das sie erstarrt geglaubt hatte, begann heftig in ihrer Brust zu schlagen. Eine warme Welle durchflutete ihren Leib, wärmte für einen Augenblick ihre Knochen.
Schließlich brach sie mit zitternden Händen das Siegel. Es war nicht Isaaks Schrift, die das Blatt bedeckten. Ida war es, die geschrieben hatte:
Liebe Sibylla,
Isaak ist krank. Er hat sich bei den Blatternkranken, die er behandelt hat, angesteckt. Gestern musste er ins Feldsiechenhaus gebracht werden. Du weißt selbst, dass Blatternkranke nicht in der Stadt verbleiben können.
Er wird wahrscheinlich sterben, Sibylla. Und vielleicht ist es auch besser so. Er sucht den Tod, schon seit Jahren.
Geh zu ihm, Sibylla, wenn du ihn noch einmal sehen willst. Ich weiß, dass er auf dich wartet. Schließe deinen Lebenskreis, dann wirst auch du Frieden finden.
Ida
Isaak! Sibylla erschrak. Plötzlich waren alle Müdigkeit, alle Schwere verflogen. Jetzt wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie musste Isaak retten. Er durfte nicht sterben. Sie rief nach der Magd, ließ nach Eva schicken, einen Wagen holen. Eilig suchte sie nach ihrer Schmuckschatulle, der Kette mit der römischen Glasscherbe. Behutsam packte sie den Anhänger in ein kleines, mit Samt ausgeschlagenes Kästchen und verstaute ihn in ihrem Beutel.
Als der Wagen vor dem Haus stand, Eva unten auf sie wartete, nahm Sibylla ihren Umhang und sah sich noch einmal in dem Zimmer um, das sie seit Jahren bewohnt hatte. Es war ein Abschiedsblick. Sibylla würde nie wieder hierher zurückkehren. Jetzt, nach Idas Brief, wusste sie endlich, was sie zu tun hatte. Ja, sie würde ihren Lebenskreis schließen. Würde dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen war. Ins Feldsiechenhaus vor den Toren Frankfurts. Ins Feldsiechenhaus nach Hofheim.
Ein Lächeln stand auf Sibyllas Gesicht.
Sie war den Weg gegangen, den sie vor vielen Jahren, als 16-Jährige eingeschlagen hatte. Jetzt war sie an der letzten Weggabelung angelangt. Isaak rief nach ihr. Diesmal würde sie in die richtige Richtung gehen. Als Sibylla hatte sie alle Aufgaben erfüllt. Es gab hier nichts mehr für sie zu tun.
Mit leichten Schritten, die ihr Alter vergessen ließen, lief sie die Treppe hinunter. Im Vorübergehen warf sie noch einen letzten Blick in die Verkaufsräume, in denen ein reges Treiben herrschte. In ihrem Blick lag keine Wehmut. Sie war bereit, Abschied zu nehmen. Jetzt würde sie nur noch für Isaak leben, ihn nie wieder im Stich lassen.
Eva wartete bereits. Sibylla nahm wortlos ihren Arm und bedeutete ihr, in die Kutsche zu steigen.
«Wohin fahren wir, Mutter?», fragte das Mädchen.
«Zu deinem Vater», antwortete Sibylla. Und dann erzählte sie Eva von Isaak Kopper, erzählte ihr die ganze traurige Geschichte einer verlorenen Liebe, die nun ihr gutes Ende finden sollte.
Kurz vor Hofheim ließ Sibylla den Wagen halten. Das letzte Stück wollte sie zu Fuß gehen. Genauso wie damals, als Martha sie aus dem Feldsiechenhaus geholt hatte.
Sie dachte an Martha, die alles geopfert hätte, sogar das eigene Leben, um ihrer Tochter das harte Los einer Wäscherin, einer Frau ohne Ehre und Bürgerrecht, eines Bastards zu ersparen.
Du hast dieses Opfer nicht vergebens gebracht, Mutter. Und doch kehre ich zurück, woher ich gekommen bin. Ein gestohlenes Leben ist kein Leben, in dem das Glück zu Hause sein kann.
Dann waren sie am Feldsiechenhaus angelangt, einem zweistöckigen Bau, der schon von weitem den Eindruck von Krankheit und Tod erweckte.
Entschlossen nahm Sibylla ihre Tochter bei der Hand und betätigte den Türklopfer.
Ein Bediensteter in abgerissener und schmutziger Kleidung öffnete ihr.
«Was wollt Ihr? Hier ist das Siechenhaus. Ihr müsst Euch verlaufen haben.»
«Zu Isaak Kopper wollen wir», erwiderte Sibylla ungerührt. «Ich weiß, dass er hier ist.»
Der Bedienstete stellte sich breitbeinig in die Tür und versperrte den Zugang.
«Kopper ist krank. Ich kann Euch nicht zu ihm lassen. Ihr könntet Euch anstecken und die Krankheit in die Stadt einschleppen.»
Sibylla lächelte und griff fester nach Evas Hand.
«Das Mädchen ist seine Tochter. Er hat sie noch nie gesehen.»
Der Bedienstete biss sich auf die Unterlippe.
«Vielleicht kann man ihn zum Fenster tragen», überlegte er. «Aber hinein dürft Ihr nicht.»
«Ich habe verstanden», erwiderte Sibylla. «Doch vielleicht sucht Ihr noch eine Wäscherin?»
«Pah! Wie meint Ihr das? Wollt Ihr etwa als Wäscherin zu uns kommen? Wisst Ihr überhaupt, wie man wäscht? Ihr seht nicht aus, als wären Eure Hände jemals mit Seifenlauge in Berührung gekommen.»
«Ihr irrt Euch, Mann. Ich war jahrelang Wäscherin. Früher, als ich so alt war wie meine Tochter jetzt. Hier habe ich gelebt und gewaschen. Hier in diesem Haus. Und ich bin zurückgekommen. Zu Isaak Kopper will ich. Mein ganzes Leben lang habe ich ihn geliebt, ohne mit ihm gelebt zu haben. Doch sterben soll er nicht allein. Und da ich nicht zurück in die Stadt kann, so werde ich eben hier bleiben und mein Brot als Wäscherin verdienen.»
Der Bedienstete betrachtete die vornehm gekleidete Frau von oben bis unten.
«Ihr seid entschlossen, wie?», fragte er.
«Ja», erwiderte Sibylla. «So entschlossen, wie man nur sein kann.»
Der Bedienstete trat beiseite und ließ Sibylla eintreten, während Eva vor dem Haus stehen blieb.
Der Bedienstete wies Sibylla den Weg zu Isaaks Kammer.
Mit klopfendem Herzen, aber so froh wie seit Jahren nicht mehr, betrat Sibylla den Raum.
In einem Bett lag eine dürre Gestalt und schien zu schlafen.
«Isaak», rief Sibylla leise.
Mühsam öffnete der Angesprochene die Augen.
«Sibylla», flüsterte er mit rauer Kehle. «Bist du es, oder gaukelt mir der Fieberwahn ein Bild vor?»
Vorsichtig setzte sich Sibylla auf den Rand von Isaaks Schlafstatt, nahm seine Hand in die ihre und streichelte sie.
«Ich bin es wirklich, Isaak. Ich bin gekommen, um zu bleiben.»
Die Sonne fiel durch das Fenster und schien das Gesicht des Kranken zu glätten.
«Warum?», fragte Isaak. «Warum hast du mich damals verlassen?»
«Ich war schwanger, Isaak, habe unter Olivenbäumen ein Kind von dir empfangen. Wir haben eine Tochter, Isaak. Eva heißt sie und ist inzwischen 16 Jahre alt.»
«Eva?», fragte er. «Eva? Mein Sohn heißt Adam. Habe ich wirklich zwei Kinder mit Namen Adam und Eva? Adam und Eva, vertrieben aus dem Paradies?»
«Nein, Isaak. Adam und Eva, geboren, um das Paradies neu zu bauen.»
Isaak lächelte.
«Sie steht draußen, unsere Eva. Ich werde einen Pfleger rufen, damit du sie sehen kannst.»
Gemeinsam mit dem Pfleger half Sibylla dem Kranken, der nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien, auf die Beine. Beinahe trugen sie ihn zum Fenster. Die Anstrengung trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Er stöhnte, und immer wieder mussten sie auf den wenigen Metern innehalten. Doch dann, als er sein Kind, seine Tochter Eva vor dem Fenster in der Sonne stehen sah, wirkte er stärker als zuvor.
«Sie ist schön», flüsterte er. «Schön wie ihre Mutter.»
«Und gut wie ihr Vater», ergänzte Sibylla.
Sie rief den Namen ihrer Tochter. Und Eva kam näher, war nur wenige Meter von ihrem Vater entfernt.
«Guten Tag, Vater», sagte sie und winkte ihm zu.
Als sie die Tränen sah, die dem alten Mann über die eingefallenen Wangen liefen, da weinte auch sie.
«Wir sehen uns wieder, Vater», sagte sie.
«Gott behüte dich, mein Kind.»
Vor Anstrengung versagten dem Kranken die Beine. Zusammen mit dem Pfleger schleppte Sibylla den kranken Liebsten zurück auf sein Lager.
Dann schickte sie den Pfleger hinaus, um mit Isaak ungestört sein zu können, und gab Anweisungen, dass Eva mit einem Wagen zurück in die Stadt gebracht wurde.
Als die Dämmerung hereinbrach, waren sie endlich allein. Allein nach so vielen Jahren.
«Ich liebe dich, Isaak», sagte Sibylla. «Ich habe dich immer geliebt. Kein Tag in meinem Leben verging, ohne dass ich an dich gedacht habe.»
«Auch ich liebe dich, habe nie aufhören können, dich zu lieben, Sibylla. Gebetet habe ich jeden Tag, dass du zu mir zurückkehren würdest. Nun hast du es getan.»
«Ja, Isaak. Ich bin zurückgekommen. Zurück zu dir und zurück von dort, woher ich einst gekommen bin. Zurück auch zu mir.»
Sie nahm Isaak in die Arme. Sein Atem ging schwer, doch ein Lächeln lag noch immer auf seinem Gesicht.
«Wie gern würde ich noch einmal deine Haut spüren.»
Sibylla lachte und weinte zugleich, als sie diese Worte hörte. Sie stand auf, zog ihre Kleider aus. Dann schälte sie auch Isaak vorsichtig aus dem weißen, weiten Krankenkittel, bis auch er so nackt und bloß war, wie er zur Welt gekommen war.
Sie schlug die Decke zurück, schlang ihre Arme um den mageren Körper, der sich im Fieber schüttelte, und wärmte seinen Leib mit ihrem. Ihre Hände streichelten beruhigend über seinen Rücken, ihre Beine umklammerten seine kalten Schenkel. Sie spürte die Wärme seines Leibes, roch seinen vertrauten Geruch. «Wie schön», flüsterte sie. «Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich so glücklich, dass ich wunschlos bin. Alles ist, wie es sein soll.»
Behutsam strich sie dem Liebsten über die Wangen, sprach leise auf ihn ein: «Die Liebe ist stärker als der Tod. Isaak, du wirst wieder genesen, und wir werden ein neues Leben weit weg von hier anfangen. Wir werden die Jahre, die uns noch bleiben, glücklich miteinander verbringen, du wirst sehen. Ich weiß es, Isaak.»
Sie schloss die Augen, spürte die Nähe des Geliebten mit jeder Faser ihres Körpers. Plötzlich stieg ein Bild aus ihrem Inneren hoch. Sie sah eine Frau in einem weißen Kleid, die ein Wachslicht in den Händen hielt. Sibylla Wöhler. «Ich lasse dich jetzt», sagte die Tote, die niemals richtig gestorben war. «Jetzt bist du mehr als ich, bist über mich hinausgewachsen. Ich habe nie geliebt. Der Tod hat keine Macht über die Liebe. Auf Wiedersehen, Sibylla-Luisa.» Das Bild löste sich auf, die wahre Sibylla entschwand. Sie öffnete die Augen und betrachtete Isaaks Gesicht. All ihre Liebe lag in diesem Blick.
Isaak lächelte. «Ja, lass uns weit weggehen. Nach Florenz, um die Sonne auf unserer Haut zu spüren, um das Leben zu fühlen.»
Er schloss die Augen und schlief ein. Sibylla schmiegte sich an ihn, froh, dass sie ihren Geliebten endlich wieder in den Armen hielt.