Kapitel 21

Am nächsten Morgen gingen Sibylla und Isaak in die Faktorei der Deutschen, die sich nahe am Fluss Arno unweit der großen Palazzi befand.

Ein Träger, der die ausgesuchtesten Stücke aus Sibyllas Kürschnerei schleppte, zeigte ihnen den Weg.

«Ich habe schon auf Euch gewartet», begrüßte Jakob Fugger die junge Frau und stellte sich Isaak Kopper vor.

«Doktor Kopper, viel habe ich in den gelehrten Zirkeln der Stadt von Euch gehört. Es heißt, Ihr zähltet zu den besten Ärzten in ganz Deutschland und verstündet Euch auf alle Arten von Krankheiten. Man erzählt sich, dass Ihr Euch in der Pflanzenkunde hervorragend auskennt und so manches neue Heilmittel gefunden hättet.»

«Ihr schmeichelt mir», erwiderte Kopper. «Meine Aufgabe ist es, den Kranken zu dienen. Mit allem, was ich habe, und mit allem, was ich bin.»

Fugger musterte Kopper aufmerksam. «Ich glaube Euch», sagte er schließlich. «Euch geht es nicht um den Ruhm. In Euren Augen fehlt die Eitelkeit.»

Kopper lächelte und verbeugte sich. Fugger ließ Getränke bringen, und Sibylla betrachtete aufmerksam die Einrichtung des Fugger-Kontors. Es war von überraschender Bescheidenheit. Fugger residierte hinter einem großen Tisch, der zwar aus edelstem Holz, aber von einfacher Machart ohne Schnitzereien war. Die Wände waren mit den besten Hölzern vertäfelt, aber frei von Gemälden oder Behängen. Der Boden war mit dicken Teppichen belegt, sodass es dem Raum trotz aller Schlichtheit nicht an Wärme fehlte.

Während Jakob Fugger sich weiter mit Isaak Kopper über medizinische Neuheiten unterhielt – auch Fugger war ein überaus gebildeter Mann mit großem Interesse an den Wissenschaften –, trat Sibylla an eines der großen Fenster und blickte neugierig hinunter in den großen Hof der Faktorei, auf dem es zuging wie zur Messe auf dem Römerberg. Wagen wurde be- und entladen. Knechte schleppten Tuchballen, rollten Fässer, Kontorschreiber standen mit dicken Büchern neben der riesigen Waage. Rufe und Lachen schallten über den Hof.

Fugger und Isaak gesellten sich schließlich zu ihr. «Ihr seht den Mittelpunkt des deutschen Handels in Italien», erklärte Fugger. «Jeder Kaufmann, der im Ausland Geschäfte macht, hat hier ein eigenes Kontor.» Er zeigte mit dem Finger auf das gegenüber liegende Gebäude. «Seht, da drüben ist das Kontor der Welser aus Augsburg, links davon haben die Hellers aus Frankfurt ihre Zelte aufgeschlagen. Daneben findet Ihr die Pforzheimer Goldschmiede, die Leipziger Buchdrucker und die Diamantenschleifer aus Idar-Oberstein.»

Beeindruckt sah Sibylla sich um. Wer hier in der Faktorei Tedeschi, der deutschen Handelsniederlassung, sein Kontor hatte, der galt in der Welt der Kaufleute etwas, war weit über die Grenzen seiner Stadt hinaus bekannt.

«Nun», erinnerte Fugger an den Grund ihres Besuches. «Habt Ihr einige Pelzwaren, die Ihr mir zeigen könnt?»

Sibylla nickte. Sie fühlte sich plötzlich befangen. Für Frankfurter Verhältnisse reichte ihr Können allemal aus, aber konnten sie und ihre Waren in der Faktorei bestehen? Würde sie sich nicht blamieren?

Schüchtern wies sie den Träger an, die Pelze auszubreiten.

Fugger trat hinzu, befühlte jedes Stück, musterte das Futter, die Verarbeitung mit kundigem Blick.

«Ausgezeichnete Ware, beste Verarbeitung», sagte er schließlich anerkennend. «Eure Leute verstehen ihr Handwerk.»

«Danke», erwiderte Sibylla. Vor Stolz schoß ihr das Blut in den Kopf und färbte ihre Wangen rosig.

Fugger wandte sich ab, ging zu einem großen Kontortisch und begann, ein Formular auszufüllen.

«Mir gefällt der Schnitt. Ich schreibe Euch eine Geldanweisung. Ihr könnt sie in Frankfurt einlösen. 200 Gulden. Dafür bestelle ich bei Euch eine Schaube von Hermelin. Sie ist für meine Gattin, die denselben Vornamen trägt wie Ihr. Sibylla. Doch nicht nur der Name erinnert mich an meine Gattin. Ihr ähnelt Euch auch in der Figur. Fertigt die Schaube also nach Euren Maßen an.»

Sibylla fehlten die Worte. Eine Schaube für die Fuggerin! Sie hatte es geschafft! Jakob Fugger hatte ihr einen Auftrag erteilt.

Ihre Stimme zitterte, als sie fragte: «Wann soll die Schaube fertig sein?»

Fugger überlegte einen Moment. «Nun, wir haben Juni. Im Spätsommer, vielleicht auch im Herbst werdet Ihr zurück in Frankfurt sein. Macht Euch nur gleich an die Arbeit, denn der Mantel soll ein Weihnachtsgeschenk für meine Frau sein. Ihr solltet bereits gegerbte Felle zur Herbstmesse ordern. Ich gebe Euch ein Empfehlungsschreiben mit, sodass Ihr sicher sein könnt, von den Lübecker Kaufleuten wirklich hervorragende Waren zu bekommen. Die Order dafür könnt Ihr noch heute von hier aus erteilen. Nachher zeige ich Euch das Kontor der Lübecker Hanse. Kürzlich erst ist ein Schiff aus dem Russischen mit feinstem Hermelin in Rostock eingelaufen, hörte ich. Die Lübecker werden veranlassen, dass ausreichend Felle zu Euch nach Frankfurt gebracht werden.»

Sibylla konnte nur nicken. Sie musste nach Isaaks Arm fassen, um sich zu vergewissern, dass dies kein Traum war.

«Ihr werdet zufrieden sein», versprach Sibylla.

Fugger sah sie an. «Ich bin sicher, dass Ihr mir beste Arbeit liefert. Doch einen Wunsch habe ich noch: Färbt mir das Fell blau ein, wie es hier in Florenz Mode ist.»

«Euer Wunsch ist mir Befehl», erwiderte Sibylla. «Ich habe ausreichend Erfahrungen mit Waid.»

«Mit Waid? Sagt nur, Ihr färbt noch mit Waid?», fragte Fugger erstaunt.

«Womit sonst?» Sibylla war verblüfft. Gab es denn etwas anderes, mit dem man Felle blau einfärben konnte?

Fugger ging zu einem großen Regal und entnahm diesem ein Säckchen von Leinen. Er schnürte es auf und schüttete ein wenig Pulver in seine Handfläche.

«Das ist Indigo», erklärte er. «Ein Farbstoff, der über die Meere zu uns gekommen ist. Seine Leuchtkraft übertrifft die des Waides um ein Vielfaches. Auch der Färbevorgang vereinfacht sich erheblich, denn eine Gärung, die den Pelz doch immer etwas angreift, ist mit Indigo nicht mehr vonnöten.»

Behutsam griff Sibylla ein wenig von dem Pulver, zerrieb es zwischen Daumen und Zeigefinger und roch daran. Mit Erstaunen nahm sie zur Kenntnis, dass ihre Finger bereits blau verfärbt waren.

Fugger lachte. «Da seht Ihr selbst, welche Kraft der neue Farbstoff hat. Da, nehmt das Säckchen. Es reicht aus, um mindestens zehn Schauben einzufärben. Doch nun kommt mit zu den Lübeckern.»

Höflich geleitete Fugger Isaak und Sibylla aus seinem Kontor und führte sie in das gegenüber liegende Gebäude. Ehrfürchtig wurde er von den Kaufleuten der Hanse empfangen. Mit kurzen, knappen Worten schilderte er seine Wünsche und blieb, bis die Lübecker Kaufleute alle für den Hermelinkauf notwendigen Papiere ausgestellt hatten.

«Noch heute schicken wir einen Boten nach Lübeck. Unser bester Pelzhändler vor Ort wird die Felle für Euch ordern», versprach einer der Lübecker Kaufleute namens Hansen. «Pünktlich zur Herbstmesse wird der Hermelin fertig gegerbt in Frankfurt sein.»

Sie gaben sich die Hand, um das Geschäft zu besiegeln, dann wünschte Fugger Sibylla und Isaak eine gute Heimreise und verabschiedete sich.

Sibylla war überglücklich. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Eine Schaube für die Fuggerin. Selig lief sie durch Florenz, strahlte jeden an und gab jedem Bettler ein Geldstück.

 

Doch der Abschied rückte unaufhaltsam näher. Die nächsten Tage war Sibylla beschäftigt mit dem Einkauf verschiedenster Dinge für die Einrichterei. Sie erstand eine komplette Wagenladung: feinstes Geschirr, kostbare Stoffe, Döschen und Schönheitsmittel, falsche Zöpfe, Dutzende von Nasentüchern, Kämme aus Elfenbein, Schuhe mit Brokat- und Spitzenbesatz und andere Kostbarkeiten, die die Herzen der Frankfurter würden höher schlagen lassen.

Isaak verbrachte die Tage an der medizinischen Fakultät der Florentiner Universität und tauschte sich mit den einheimischen Ärzten aus. Unzählige Rollen Papier schrieb er voll, und am Abend hatte sich an seinem rechten Zeigefinger eine Blase vom Halten der Feder gebildet.

Lorenzo de Medici hatte Sibylla eine schwere Truhe mit kostbarem Silbergeschirr und feinstem Leinenzeug schicken lassen, und Sibylla bedankte sich bei ihm mit einer warmen Kopfbedeckung aus Zobel, die mit Goldfäden bestickt war.

Doch dann waren alle Einkäufe erledigt, alle Gespräche geführt. Nur noch drei Tage, dann würde die Kolonne nach Deutschland zurückreisen.

«Ich habe eine Überraschung für euch», verriet Lucia am Abend, als sie, erschöpft vom Tagesgeschäft, bei einem Glas Rotwein aus dem nahen Chianti beisammensaßen.

«Eine Überraschung?», fragte Isaak.

Lucia nickte. «Eine Stunde von hier entfernt habe ich ein kleines Landhaus, das ganz versteckt liegt. Nur Olivenhaine und Zypressen sind die Nachbarn. Gleich wird eine Kutsche kommen, um euch für die letzten zwei Tage dort hinauszubegleiten. Die Köchin hat bereits Körbe mit Speisen und Getränken gepackt.»

«Stören wir dich?», fragte Sibylla mit leisem Schreck.

«Aber ganz im Gegenteil, meine Liebe. Am liebsten würde ich euch für immer in meiner Nähe behalten wollen. Doch eure Zeit in Florenz war anstrengend. Bald seid ihr wieder in Frankfurt, müsst getrennte Wege gehen. Ich schenke euch zwei Tage ungestörte Zweisamkeit und wünsche euch, dass euch diese beiden Tage in ewiger Erinnerung bleiben.»

 

Lucias Landhaus lag auf einer Anhöhe und bot eine großartige Ausschicht auf die wundervolle Landschaft der Toskana. Sibylla stand neben Isaak und betrachtete die Hügel am Horizont, die sich wie Perlen einer Kette aneinander reihten. Der Himmel war tiefblau, die Sonne brannte. Vor ihnen lag ein Olivenhain. Mannshohe ausladende Bäume, deren silberne Blätter leise im Wind raunten. Lerchen erfüllten die Luft mit ihrem Gesang, Grillen zirpten, die Zypressen warfen lange Schatten.

«Es ist wunderschön hier», sagte Sibylla verträumt, reckte sich genüsslich und sah Isaak an.

Sie hatten eine wundervolle Nacht verbracht, die sie einander noch näher gebracht hatte.

Bald nach ihrer Ankunft hatten sie die Körbe, die mit leckersten Speisen und köstlichem Wein gefüllt waren, geöffnet und unter einem Olivenbaum ein fürstliches Picknick veranstaltet.

«Ich fühle mich wie im Paradies», hatte Sibylla gesagt. Und Isaak hatte erwidert: «Aber Adam und Eva waren nackt. Zieh dich auch aus, damit ich dich im Abendlicht betrachten kann.»

Sibylla hatte gezögert. Es ziemte sich nicht, sich nackt und ohne Scham vor einem Mann zu zeigen. Doch sie waren in Italien, und Lorenzo de Medici war es, der ihr den Satz von Epikur gesagt hatte: Jedes Vergnügen darf als unschuldig gelten, bis sein Gegenteil bewiesen ist. Doch sie zögerte noch immer.

«Was ist, wenn jemand hier vorbeikommt?»

«Wer soll vorbeikommen? Es gibt nur uns hier.»

Langsam öffnete Sibylla ihr Kleid und streifte es über die Schultern.

«Warte einen Augenblick», sagte Isaak. Er nahm eine Himbeere aus dem Korb und fuhr ihr damit über die Schultern. Die rote, pralle Furcht strömte einen berauschend süßen Duft aus und hinterließ ein zartes rotes Muster auf ihrer weißen Schulter. Isaak zog das Kleid bis zu ihren Hüften hinab und fuhr mit der Himbeere zwischen ihren Brüsten entlang. Ein Schauer durchrieselte Sibylla, als die kühle Frucht mit der empfindlichen Haut ihrer Brüste in Berührung kam. Sie schloss die Augen, doch Isaak hielt ihr die Himbeere unter die Nase.

«Da, riech. Das ist dein Geruch.»

Sibylla ließ sich die Himbeere auf die Zunge legen.

«Da, schmecke. Das ist dein Geschmack.»

Nie hatte ihr etwas besser geschmeckt. So wie die Sünde: Die süße Frucht, die ihr im Munde zerging, schmeckte wie die Sünde. Wild und köstlich.

Mit langsamen Bewegungen entkleidete Isaak sie, bis sie nackt vor ihm stand. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und die Dämmerung war wie ein schützendes Tuch über sie hereingebrochen.

«Warte einen Augenblick», sagte Isaak und lief zum Haus.

Wenig später kam er zurück, steckte Fackeln in einem Kreis in die warme Erde, die den Geruch des Sonnentages gespeichert hatte, und entzündete sie.

Dann umkreiste er langsam die Geliebte, betrachtete sie von allen Seiten. Sibylla fühlte seine Blicke auf ihrer Haut. Sie erschauerte.

«Du bist schön. Schön wie eine griechische Göttin», sagte Isaak. Er kam näher und verband ihr mit einem Stück weichen Stoffes die Augen.

«Ich möchte, dass du die Nacht auf deiner Haut spürst. Der Wind soll deinen Leib streicheln, die Flammen der Fackeln ihn erwärmen, die Düfte sich mit deinem vermischen. Ich möchte, dass du dich mit allen Sinnen spürst. Diese Nacht soll sich dir in die Haut, in die Seele, in das Gedächtnis brennen. Nie sollst du sie vergessen, nie nackt sein können, ohne an diese Nacht denken zu müssen.»

Er nahm ihre Hand und half ihr, sich in die Mitte des Fackelkreises zu legen. Und Sibylla lag da mit verbundenen Augen und spürte die warme Erde unter ihrem Rücken, unter ihrem Po, unter den Schenkeln. Sie fühlte den Wind, der ihren Körper mit zärtlichen Händen streichelte, und die Wärme der Fackeln, die ihren Leib golden färbten.

Wie von selbst suchten ihre Hände ihren flachen Bauch und streichelten ihn selbstvergessen. Alle Scham war von ihr abgefallen wie Blätter von einem herbstlichen Baum. Sie war geschützt durch den Kreis der Fackeln, durch die Dunkelheit, geschützt und geborgen in Isaaks Liebe, der schweigend neben ihr saß und ihr selbstvergessenes Spiel betrachtete.

Isaak musste an sich halten, um seine Hände nicht neben ihren auf dem nackten Körper tanzen zu lassen. Eine wilde Woge der Erregung packte ihn, ließ ihn schwindeln. Er beugte sich über Sibylla. Und sie wölbte sich ihm entgegen, umklammerte mit ihren Schenkeln den Körper des Geliebten. Wie junge Tiere oder spielende Kinder umschlangen sie sich, hielten sie sich, als wäre eines ohne den anderen verloren.

Isaak rollte herum, sodass er nun auf dem Boden lag und Sibylla auf ihm. Mit einer Hand riss er ihr die Augenbinde weg, nahm ihr Gesicht in seine beiden Hände und sah ihr so tief in die Augen, dass seine Blicke sich bis in die Tiefen von Sibyllas Seele bohrten und dort einen unauslöschbaren Abdruck hinterließen.

«Ich liebe dich», sagte er mit rauer Stimme, in der Traurigkeit und Verzweiflung klangen. «Ich liebe dich mehr als irgendetwas sonst auf der Welt.»

Langsam, den Blick nicht von seinem nehmend, beugte sich Sibylla über ihn und ließ ihr langes Haar wie ein dichtes Zelt herabfallen. Sie legte ihre heißen Lippen auf die seinen, schmeckte Himbeeren und Sommer, und schon vereinigten sich ihre Münder in einem Kuss, der nicht enden wollte.

Wildes Begehren ließ ihre Körper erzittern. Sie hatten alles rings um sich vergessen. Alles in Sibylla drängte danach, sich mit ihm zu vermischen, zu vereinen, unauflösbar eins zu werden mit ihm.

Ganz fest packte Isaak sie nun an den Hüften, hob sie hoch und setzte sie auf sein langes, schweres Glied, das sofort ihre warme Höhle fand. Sibyllas Aufschrei vermischte sich mit dem Zirpen der Grillen, mit den Geräuschen der Nacht. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt, vom ihm genommen zu werden.

Mit langsamen Bewegungen überließ sich Sibylla der Erregung. Isaaks Hände griffen nach ihren Brüsten, umfassten die empfindsamen Spitzen, streichelten sie sanft, rieben sie fester, während Sibylla auf seinem Leib tanzte, immer schneller, mit keuchendem Atem, bis sich ihre Lust schließlich in einem gemeinsamen Schrei entlud, der durch das Tal irrte und den Schlafenden unruhige, sinnliche Träume bescherte.

 

Jetzt, einen Tag später, standen sie an beinahe derselben Stelle und lauschten dem Rascheln der Olivenblätter, die ihr Geheimnis kannten.

«Lass uns ein Stück spazieren gehen», schlug Isaak vor. Sibylla nickte. Hand in Hand schlenderten sie durch den Olivenhain. Sie waren still. Die Nähe des anderen reichte aus zum Glück.

Doch dann begann Isaak zu sprechen. «Erzähl mir von dir», bat er. «Wie warst du als Kind? Was hast du dir gewünscht damals? Wovon hast du geträumt?»

Sibylla erschrak, und Isaak spürte ihre Furcht.

«Und du?», fragte sie zurück. «Wovon hast du geträumt? Wie warst du als Kind?»

Isaak sah sie einen Augenblick lang an, dann begann er zu erzählen: «Wir lebten schon damals in der Schäfergasse. Mein Vater war Arzt. Arzt wie ich. Er hieß Adam, wie mein Sohn. Auch er wollte den Menschen helfen, konnte seine Ohnmacht beim Anblick der Krankheiten, die er nicht heilen konnte, kaum ertragen. Darum suchte er nach einer Kräuterkundigen, die mit ihm zusammen nach neuen Heilmitteln forschte. Schließlich fand er Ida. Sie war die Tochter eines Apothekers, ein hässliches junges Mädchen, von dem niemand glaubte, dass es je einen Ehemann finden würde. Also kam sie zu uns ins Haus. Mein Vater und Ida gingen häufig in die Wälder, suchten Kräuter und Pflanzen, trockneten sie, zerrieben sie zu Pulver, mischten sie. Sie arbeiteten gut miteinander. Oft lachten sie gemeinsam in der Küche, Ida sang. Sie waren erfolgreich. Ihre Hustentropfen, die sie aus Fenchel, Honig und Thymian brauten, halfen vielen Frankfurtern. Sogar den Kindern, die die Süße der Tropfen liebten.

Meine Mutter duldete die Zusammenarbeit der beiden, doch ich glaube, in der Tiefe ihres Herzens bedauerte sie es sehr, dass Ida meinem Vater wichtiger war als sie.

Auch der ehrbaren Frankfurter Gesellschaft war die Freundschaft zwischen meinem Vater und Ida ein Dorn im Auge. Ein anderer Arzt war es wahrscheinlich, der Adam Kopper seinen Erfolg neidete und ihn darum beim Rat anzeigte. Mein Vater wurde beschuldigt, mit zwei Frauen unter seinem Dach eheliche Beziehungen zu unterhalten. Es kam zu einer Untersuchung, bei der auch meine Mutter befragt wurde. Doch sie schwieg, obwohl sie hätte bestätigen können, dass zwischen Ida und Adam nicht mehr bestand als eine tiefe Freundschaft und gegenseitige Achtung.

Ida wurde ins Kloster geschickt. Sie kam nach Engelthal, sosehr sich mein Vater auch gegen diese Entscheidung des Rates sträubte.

Viele Jahre blieb Ida dort. Meine Mutter starb, kurz darauf mein Vater. Ich war inzwischen erwachsen, studierte schon die medizinische Wissenschaft. In einem Buch hat mein Vater alle Rezepte seiner Heilmittel aufgeschrieben, die er zusammen mit Ida hergestellt hatte. Ich arbeite noch heute nach diesen Rezepten.

Vor einigen Jahren dann – es muss kurz nach deiner Hochzeit mit Jochen Theiler gewesen sein – traf ich am Stadttor eine alte abgerissene Frau in verschmutzter und zerrissener Nonnentracht. Ich erkannte Ida sogleich. Man hatte sie aus dem Kloster verstoßen, ihr vorher die Zunge herausgerissen.»

«Warum?», fragte Sibylla, die zu zittern begonnen hatte, als Isaak das Kloster Engelthal erwähnte.

«Tja, warum?», wiederholte Isaak und sah Sibylla aufmerksam an. Was weiß er?, dachte Sibylla und wich seinem Blick aus.

«Es gab dort ein Mädchen. Eine Klosterschülerin aus Frankfurt. Kürschnerstochter soll sie gewesen sein. Eines Tages war sie schwanger. Niemand wusste, von wem sie ein Kind erwartete. Das Mädchen selbst sagte nichts, verlor sich im Schweigen. Nicht einmal Schläge vermochten es, ihr das Geheimnis ihres Leibes zu entlocken. Dann kam die Geburt. Ida war dabei, half. Es war eine schwierige Geburt, bei der das Mädchen viel Blut verlor und der Säugling starb. Die Nonnen, die um ihren Ruf fürchteten, ließen das Mädchen verbluten und bestatteten sie neben ihrem toten Kind. Ida begehrte dagegen auf, beschuldigte die Nonnen, einen Mord begangen zu haben, indem sie dem Mädchen die Hilfe verweigert hatten. Sie drohte damit, zum Erzbischof zu gehen und zu erzählen, was in Engelthal vorgefallen war. Sie wollte es um des Mädchens willen, ahnte längst, dass es aus Angst verschwiegen hatte, wer der Vater des Kindes war. Sie muss das Mädchen sehr gern gehabt haben, wollte unbedingt seinen Tod klären, um sicher sein zu können, dass es seinen Platz im Himmel fand. Nun, die Äbtissin des Klosters verbot ihr die Reise. Doch als Ida sich nicht abhalten ließ, schmuggelte man ihr einen goldenen Kelch in ihre Kammer, beschuldigte sie daraufhin des Diebstahls. Ein Gericht tagte. Ida wurde für schuldig befunden, und zur Strafe wurde ihr die Zunge herausgerissen.»

«Diese Strafe ist bei Diebstahl nicht üblich», warf Sibylla ein. «Man hackt den Dieben die Hände ab, nicht die Zunge.»

«In diesem Falle war es anders. Man wollte ja verhindern, dass Ida erzählen konnte, was in Engelthal vorgefallen war. Deswegen die Zunge.

Ida verließ das Kloster, sobald sie konnte, und kam nach Frankfurt. Dort traf ich sie dann und holte sie nach Hause in die Schäfergasse.»

«Woher weißt du, was ihr widerfahren ist?», fragte Sibylla noch immer ängstlich. Konnte es vielleicht sein, dass es Sibylla Wöhler war, die im Kindbett gestorben war? Was wusste Isaak?

«Ida hat es mir aufgeschrieben.»

«Hat sie den Namen des Mädchens genannt?», fragte Sibylla. Ihr Herz schlug jetzt so stark, dass sie befürchtete, Isaak könnte es sehen. Und er bemerkte es. Er blieb stehen, zog Sibylla zu sich heran und legte ihr eine Hand auf das wild klopfende Herz.

«Warum erregst du dich so?», fragte er und sah ihr in die Augen.

«Ich weiß nicht», stammelte Sibylla.

«Warst du nicht auch in Engelthal?», sagte Isaak leise. «Du musst also wissen, was dort geschehen ist.»

«Ich … ich war nicht lange dort, war sicher schon zurück in Frankfurt, als das geschehen ist», stotterte Sibylla und wich seinem Blick aus. «Ich weiß nichts von einer schwangeren Klosterschülerin, weiß nichts von ihrem Tod. Es ist lange her. Warum fragst du jetzt danach?»

Isaak antwortete nicht. Noch immer sah er sie an. Schließlich nahm er ihre Hand und zog sie weiter. Nach einer Weile erst sagte er einen Satz, der Sibylla zu Tode erschreckte.

«Ida kennt dich. Das merke ich an ihrem Verhalten, obwohl sie niemals ein Wort darüber verloren hat. Und sie mag dich», sagte Isaak. Er blieb stehen und nahm ihr Gesicht in seine Hände.

«Ich liebe dich, Sibylla. Es ist mir egal, wer du früher gewesen bist. Ich liebe dich jetzt und werde dich immer lieben. Du brauchst keine Angst zu haben. Nichts wird meine Liebe zu dir schmälern können. Nichts, hörst du, gar nichts. Ich liebe die, die du heute bist, liebe deinen Leib, deinen Geist und deine Seele.»

Isaak atmete tief durch, dann sagte er leise und mit fast verschwörerischer Stimme:

«Lass uns in Florenz bleiben, Sibylla. Für immer. Ich bin bereit, Isabell und Adam zu verlassen, um für immer mit dir leben zu können. Lass uns hier bleiben. Ich habe auch hier einen guten Ruf als Arzt. Wir könnten uns ein Haus in Lucias Nähe kaufen. Vielleicht kannst du sogar mit ihr zusammenarbeiten. Bitte, Sibylla. Nur in Florenz können wir zusammenleben. Sag ja, Sybilla. Lass uns zusammen ganz neu anfangen und ein Leben führen, in dem die Liebe die Essenz ist.»

Sibylla erstarrte. Ihre Seele schrie auf vor Verlangen. Sie wollte mit Isaak in Florenz bleiben, mit ihm ein neues Leben beginnen. Doch ihr Verstand widersprach, gewann nach kurzem Kampf die Oberhand und führte Sibyllas Antwort.

«Es geht nicht, Isaak. Ich kann mein Geschäft nicht im Stich lassen. Jahre habe ich gebraucht, um es hochzubringen. Jetzt gehöre ich zu den angesehensten Handwerkerinnen Frankfurts. Hier in Florenz hat sich mein größter Wunsch erfüllt. Jakob Fugger hat mir einen Auftrag erteilt. Nein, Isaak, ich kann nicht hierbleiben. So gern ich es möchte. Das Geschäft braucht mich. Versteh doch, der Auftrag Fuggers.»

Bei diesen Worten zerriss etwas in ihr. Doch sie war an Frankfurt wie mit eisernen Ketten gefesselt. Das Geschäft, ihre Vergangenheit. Sie musste zurück, musste zu Ende bringen, was sie vor Jahren als falsche Sibylla begonnen hatte. Erklären konnte sie es nicht, da sie es selbst nicht verstand. Hier, in Florenz, war sie zum ersten Mal in ihrem Leben glücklich gewesen. Glücklich und ganz und gar im Frieden mit sich selbst. Und doch musste sie zurück. Musste den Weg, den sie mit 16 Jahren eingeschlagen hatte, bis zu Ende gehen.

Sie wagte nicht, Isaak anzusehen, bemerkte jedoch, wie auch er sich plötzlich versteifte.

«Ich hatte gehofft, dass die Liebe dir mehr wert ist als Geld und Ruhm», sagte er und löste sich aus ihren Armen.

«Nein, Isaak, das ist es nicht. Es geht mir nicht um Geld und Ruhm.»

«Worum geht es dir dann?», fragte er.

Sibylla schwieg. Was sollte sie ihm antworten? Worum ging es ihr denn? Ihr ganzes Leben lang hatte sie gekämpft. Ja, aber wofür?

Unabhängigkeit. Befreiung von den Schatten. Anerkennung und Achtung. Liebe. Auch das.

Und jetzt hatte sie das alles, und doch reichte es ihr nicht. Was wollte sie noch?

Ich bin nicht für das Glück gemacht, dachte sie. Ich darf nicht glücklich sein auf Dauer, ich kann es auch nicht. Zu sehr habe ich gesündigt. Habe mich selbst an einen Platz gestellt, der mir nicht zustand. Nun muss ich an diesem Platz verharren. Das ist wohl der Preis.