Kapitel 5

Je näher der Tag der Hochzeit rückte, umso enger schloss sich Sibylla Christine Geith an, die sie auf dem Markt kennen gelernt hatte. Christine war nur zwei Jahre älter als Sibylla und hatte erst vor kurzer Zeit den Kürschnermeister Geith geheiratet. Sibylla ließ sich von ihr beraten.

«Was wirst du anziehen?», fragte Christine.

«Ich weiß nicht», erwiderte Sibylla. «Was hattest du denn an?»

«Ach, erinnere mich nicht daran.» Christine machte eine wegwerfende Handbewegung. «Ich wollte ein Kleid mit viel Spitze, einen rosa Traum. Aber Geith, der den Stoff dafür nach der Sitte bezahlen muss, war nur bereit, mir ein paar Ellen einfachen Tuches zu kaufen, sodass ich ein Kleid getragen habe, das einem Alltagsgewand täuschend ähnlich sah. Allein die Spitzenhaube, die meine Mutter schon zu ihrer Hochzeit trug, hat ihm einen feierlichen Anstrich verliehen.»

Sibylla überlegte einen Augenblick. Auch Jochen Theiler würde nicht viel Geld für Stoff übrig haben. Die Zobelfelle hatten zwar nicht viel gekostet, doch die Fastenmesse stand vor der Tür, auf der die Kürschner zumeist die Rohfelle für die gesamte Jahresproduktion kauften. Was dann noch übrig blieb, musste für das Fest reichen.

«Komm mit auf den Speicher», forderte sie die Freundin auf. «Lass uns in den alten Truhen stöbern. Vielleicht finden wir dort etwas, das wir gebrauchen können.»

Sie stiegen auf den Dachboden, öffneten eine Truhe nach der anderen und fanden schließlich, was sich Sibylla heimlich erhofft hatte: das Hochzeitskleid, das Sibyllas Mutter bei ihrer Vermählung mit dem Kürschnermeister Wöhler getragen hatte.

Sie zog es behutsam aus der Truhe und hielt es sich vor. Es war ein Kleid aus eierschalenfarbener Seide, das unter der Brust geschnürt war und in weichen, fließenden Falten bis auf den Boden fiel. Der Ausschnitt war mit einem goldenen Band eingefasst, die Ärmel bauschten sich oben und schlossen an den Handgelenken eng ab.

«Wunderbar. Es sieht herrlich aus. Findest du nicht?», fragte Sibylla die Freundin.

Christine wiegte den Kopf hin und her. «Willst du wirklich das alte Ding tragen?», sagte sie zweifelnd. «Du erweist deiner toten Mutter damit Ehre, das ist schon wahr, und die Alten wird es freuen, weil es ihnen immer gefällt, wenn man auf Altes zurückgreift. Der Zunft wäre es schon recht als Zeichen, dass du den Brauch ehrst. Aber bedenke: Du bist jung, und heutzutage zeigt eine junge Frau bei der Hochzeit, was sie hat. So ist die Mode. Die meisten Bräute tragen neue Kleider und nur ein Stück von der Ausstattung der Mutter.»

Sibylla betrachtete noch immer das Hochzeitskleid, das ihr wie angegossen passte. Sie befühlte die leise knisternde Seide, strich mit der Hand über den Wurf der Falten, roch daran und bildete sich sogar ein, den leisen Geruch von Rosenwasser wahrzunehmen. Für einen Moment sah sie eine junge Frau vor sich, die voller Erwartung an der Hand des jungen Wöhler vor den Altar trat. Ihre Eltern; fast glaubte sie es selbst. Es war ein anrührendes Bild, das ihr beinahe die Tränen in die Augen steigen ließ.

Durfte sie dieses Kleid überhaupt tragen? Ein Kleid, das für eine andere aufbewahrt worden war? Für eine, die tot in der Erde lag und deren Platz sie eingenommen hatte? Hätte sie es getragen, oder hätte sie auf einem neuen bestanden? Sie wischte die Gedanken mit einem leichten Kopfschütteln fort. Jetzt war sie Sibylla Wöhler. Mit allem, was dazugehörte. Also auch mit diesem Kleid.

«Ich werde es zur Hochzeit tragen. Dieses und kein anderes», sagte sie bestimmt.

Christine war nicht ihrer Meinung. «Wenn du unbedingt willst, musst du es tun. Aber glaube ja nicht, dass die Leute lange über dein Kleid reden werden. Nach einer Woche werden sie es vergessen haben.» Ihr wehmütiger Blick verriet, dass sie von der eigenen Hochzeit sprach. Ja, Christine hatte gewollt, dass ihr Kleid noch lange danach für Gerede in der Stadt sorgte. Die meisten Bräute hofften und wünschten dies und taten alles, um ihr eitles Ziel zu erreichen. Ellenlange Schleppen, kostbare Stoffe, die mit Gold- und Perlenstickerei überladen waren, Spitzen, wertvoller Schmuck im Ausschnitt. So gehörte es sich, so war es Mode, und für die Abzahlung der Schulden hatte man schließlich das ganze Leben noch Zeit.

Sie betrachtete Sibylla. Das alte Kleid stand ihr wirklich ausnehmend gut. Nur der Schmuck dazu fehlte noch. «Weißt du was? Ich leihe dir zu deinem Fest meine goldene Kette mit dem roten Rubin. Der Schmuck passt wunderbar zum Kleid. Heißt es nicht, dass man etwas Geliehenes zur Hochzeit tragen soll, damit die Ehe glücklich wird?»

Jochen hörte die aufgeregten Stimmen der beiden Frauen aus der oberen Etage bis hinunter in die Werkstatt, die zu dieser stillen Abendstunde verlassen lag. Er musste lächeln.

Schön ist sie, meine Sibylla, dachte er. Die Schönste von allen. Ich bin froh, dass sie jemanden gefunden hat, der die Hochzeitsvorbereitungen begleitet. Und dass sie eine Freundin hat, die am Abend kommt, sodass ich in der Werkstatt bleiben kann.

Zärtlich betrachtete er das Fell vor sich. Kaninchenfell, so zart und weich wie frisch geschlüpfte Küken. Er legte die einzelnen Stücke auf einen Schnitt, den er aus Papier gefertigt hatte. Ein Leibchen, das über den Brüsten begann und bis zu den Oberschenkeln reichte, sollte es werden.

Jochen strich liebevoll über das Fell. Sein verkrüppelter Fuß schmerzte. Wie immer, wenn sich das Wetter änderte. Seine Gedanken schweiften zurück in eine Zeit, von der er dachte, er hätte sie schon lange vergessen. Wieder erschien die Kate seiner Familie vor seinem inneren Auge. Eine Schlafstelle vor dem Herdfeuer. Seine Brüder und Schwestern lagen dort, eng aneinander gekuschelt, um sich gegenseitig zu wärmen. Vater und Mutter lagen etwas abseits und hielten sich umschlungen. Nur er lag allein am anderen Ende des Raumes, nur mit einigen Fellen zum Schutz vor der Kälte. Seit dem Unfall, der seinen linken Fuß und das Bein bis hoch zum Knie entstellt hatte, schlief er allein in dieser Ecke. Seine Geschwister ekelten sich vor ihm; sie empfanden Abscheu. Selbst die Mutter hatte ihn nicht mehr berührt seit dem Tag, als er unter den Wagen des Abdeckers geraten war, der ihm Bein und Fuß zermalmt hatte. Der Abdecker hatte das klapprige Pferd so abrupt zum Stehen gebracht, als er die durchdringenden Schreie des Jungen hörte, dass der Wagen ein wenig zur Seite kippte und die Kadaver der Tiere auf den Verletzten fielen.

Jochen hatte gesehen, wie seine Mutter, der Vater, die Geschwister und Nachbarn herbeigelaufen kamen – und plötzlich stehen blieben, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.

«Oh, Gott!» hatte die Mutter geschrien. «Mein Junge ist begraben unter toten Tieren. Oh, Gott! Oh, mein Gott!»

Und Jochen hatte vor Schmerz geweint und gebrüllt, doch niemand hatte ihm geholfen, weil alle der Überzeugung waren, dass tote Tiere vom Teufel besessen waren und dass er auf jeden, der die Kadaver berührte, übersprang. Deshalb gab niemand einem Abdecker die Hand, deshalb musste der Schinder vor den Toren der Stadt hausen.

«Mutter, hilf mir!», hatte Jochen geschrien, doch die Eltern hatten sich nicht bewegt. Endlich war der Abdecker vom Wagen gestiegen und hatte den blutenden Jungen, der vor Schmerzen fast ohnmächtig war, unter Wagen und Tieren hervorgezogen, ein Stück seines Kittels abgerissen und das Bein notdürftig verbunden.

Seitdem hatte ihn niemand mehr berührt, niemand seine Haut gestreichelt, ihn an sich gedrückt. Nicht die Mutter, nicht die Geschwister, niemand, sodass er inzwischen vergessen hatte, wie sich ein anderer Körper anfühlte. Die Felle waren das Einzige, das er seither zum Wärmen hatte, das einzig Weiche, das seine Haut gespürt hatte seit diesem Unfall vor mehr als zwanzig Jahren.

Jochen hörte Schritte auf der Treppe. Christine ging nach Hause. Gleich würde sie hereinkommen und sich von ihm verabschieden. Jochen nahm die Kaninchenfelle vom Tisch und versteckte sie im Lager. Morgen würde er daran weiterarbeiten. Morgen und übermorgen, die halbe oder ganze Nacht lang, denn bis zum Hochzeitstag wollte er das Fellkleid fertig haben.

 

Wie schön dieser Rubin ist, dachte Sibylla am Morgen der Hochzeit, als Christine ihr beim Ankleiden half und ihr die Kette um den Hals legte. Wie gut er mir steht! Ganz so, als wär er für mich gemacht.

Bewundernd betrachtete sie ihr Spiegelbild, als es an der Tür klopfte und Martha den Raum betrat. Sie streifte Christine, die gekommen war, um Sibylla beim Ankleiden zu helfen, mit einem Blick, der besagte, dass sie die junge Frau als störend empfand. Sibylla bemerkte Marthas Ansinnen zwar, doch sie wusste, dass es seltsam ausgesehen hätte, wenn sie Christine jetzt hinausgeschickt hätte.

Verlegen stand Martha vor den beiden jungen Frauen, beschämt starrte sie auf die wertvolle Kette in Sibyllas Ausschnitt. Sie schluckte und betrachtete ausführlich das Kleid ihrer Tochter.

«Ein schönes Kleid», sagte sie leise und glättete mit der Hand eine kleine Falte. «Es ist das Kleid der Wöhlerin, nicht wahr?» Die Kette würdigte sie mit keinem Wort. Sibylla antwortete nicht. Sie wusste, dass es ihre Mutter schmerzte, sie in dem Kleid einer anderen Frau zu sehen. Doch Christine ergriff an ihrer Stelle das Wort: «Ja, Wäscherin, Sibylla trägt das Kleid ihrer Mutter.»

Martha nickte stumm, dann reichte sie ihrer Tochter ein kleines Päckchen.

«Für Euch», sagte sie leise. «Mein Hochzeitsgeschenk. Ich habe es von meiner Mutter bekommen.»

Sibylla nahm das Päckchen aus Marthas Hand. Irgendetwas in ihr sträubte sich, es zu öffnen. Am liebsten hätte sie geweint, hätte sich in die Arme ihrer Mutter geworfen und an deren Busen geschluchzt, ihr gesagt, wie sehr sie sie liebte – und gleichzeitig wünschte sie sich, Martha wäre in ihrer Waschküche geblieben, eine ferne Zuschauerin der Hochzeit, die nur von weitem die Hand zum beiläufigen Gruß erhebt.

Für einen Moment fühlte Sibylla Zorn in sich aufsteigen. Kann sie mich nicht in Ruhe lassen?, dachte sie wütend. Muss sie mich immer und ewig daran erinnern, wo ich herkomme, wer ich wirklich bin? Solange ich sie sehe, komme ich von meiner Vergangenheit nicht los, kann ich nicht Sibylla werden.

Sie blickte ihre Mutter an, sah die Tränen in ihren Augen, und Marthas Schmerz schnitt ihr ins Herz. Wie schlecht ich doch bin, dachte sie, und Wut und Ärger waren verflogen. Wie gemein und undankbar. Sie hat alles geopfert für mein Glück. Selbst ihr Leben hätte sie für mich gegeben. Niemals kann ich gutmachen, was sie für mich getan hat. Gott weiß, wie gerne ich es täte. Doch sie hat meine Schuld auf sich geladen und mich damit schuldig gemacht. Dadurch sind wir auf immer miteinander verbunden. Und gleichzeitig liebe ich sie, sehne mich nach ihrem Trost, nach ihren mütterlichen Liebkosungen.

Sibylla sagte, so herzlich wie sie konnte: «Ich danke Euch recht schön.» Das war alles, was sie ihrer Mutter in diesem Augenblick geben konnte. Doch es reichte Martha nicht. Sie strahlte Sibylla an und forderte sie auf: «Seht nach, was es ist.«

Sibylla konnte die Freude, die in Marthas Gesicht stand, kaum aushalten und wusste schon jetzt, dass sie sie enttäuschen würde. Doch was konnte sie tun? Der Mutter widersprechen? Ihr die Bitte abschlagen? Nein, die Zunge sollte ihr verdorren, wenn nur ein böses Wort über ihre Lippen drang.

Also wickelte Sibylla das Päckchen aus und erstarrte, als sie die kleine, silberne, billige Halskette mit dem ungeschickt gearbeiteten Medaillon der Jungfrau Maria darin fand. Sibylla wusste, dass dieses Medaillon das Wertvollste war, was ihre Mutter besaß. Wieder hatte Martha sie beschämt, wieder hatte sie ihr ein weiteres Stück Schuld aufgeladen. Sibylla versuchte, das Geschenk zurückzuweisen, doch Martha schüttelte hartnäckig den Kopf.

«Sie gehört Euch. So ist’s der Brauch. Am Tage Eurer Vermählung sollt Ihr sie über Eurem Herzen tragen», beharrte sie und sah Sibylla ernst an. Aus ihrem Gesicht war jedes Lächeln verschwunden.

Sibylla stand da, schwieg, schüttelte stumm den Kopf.

«Eure Mutter hätte es so gewollt», sagte Martha noch, dann drehte sie sich um und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Sibylla starrte auf die Kette und fühlte Tränen in sich aufsteigen.

Christine trat zu ihr, nahm ihr das Medaillon aus der Hand, betrachtete es, wie man den Sandkuchen eines Kindes betrachtet, der an den Rändern bröckelt.

«Wie goldig von der Wäscherin, dir den Familienschmuck zu schenken. Und wie einfältig zu glauben, du würdest dieses Stück zur Vermählung tragen», sagte sie, und in ihren Worten war neben ein bisschen Rührung auch ganz leiser Spott und ein Hauch Verachtung für die Frau aus der Waschküche mit ihrem schäbigen Geschenk.

Sibylla hörte die Zwischentöne in den Worten der Freundin. Wut über die Demütigung ihrer Mutter stieg in ihr auf.

«Gib die Kette her», herrschte sie Christine an und riss sie ihr aus den Händen, verschloss sie in ihrer Faust, presste sie für einen Moment gegen ihr laut klopfendes Herz.

Dann nahm sie das silberne Medaillon, packte es mit unendlicher Vorsicht in eine kleine Schachtel, die mit Samt ausgeschlagen war, und verstaute das Kästchen im hintersten Winkel ihrer Truhe.

 

Das zwiespältige Gefühl Sibyllas Martha gegenüber wich den ganzen Tag nicht: Nicht in der Kirche, in der Martha einen Platz auf den hinteren Bänken gefunden hatte, während die Zunftmeisterin auf dem Platz der Brautmutter thronte. Nicht beim Festschmaus im Wöhlerhaus, wo Martha am unteren Ende der Dienstbotentafel saß und ihren Blick beinahe ständig auf Sibylla ruhen ließ.

Sibylla hätte ihre Mutter beim Essen gern neben sich gehabt, hätte ihr die zartesten Fleischstücke auf den Teller gelegt, den besten Wein eingeschenkt, ihr die Geschenke der anderen gezeigt, sie umarmt und geflüstert: «Jetzt bin ich das, was du dir immer gewünscht hast: ein ehrbares, anständiges Eheweib.» Sie hätte gern alles getan, um ihrer Mutter diesen Tag des Triumphes so schön wie möglich zu gestalten, denn war es nicht auch so: Erfüllten sich heute nicht ihre Wünsche? Und war sie, Sibylla, es – angesichts der vielen Opfer Marthas – ihrer Mutter nicht auch schuldig, heute strahlender, glücklicher Mittelpunkt zu sein und sie dabei an ihrer Seite zu haben?

Sie saß da, ließ sich hochleben und wich den Blicken der Mutter aus, reichte ihr nur kurz die Hand, während sie eine Umarmung von Barbara, der Magd, duldete. Ja, Sibylla ließ es sogar geschehen, dass Jochen Theiler dem Zunftmeister und seiner Frau anstelle der fehlenden Brauteltern silberne Becher schenkte, während die Dienstboten nach der Sitte kleine Geschenke bekamen; die Männer Leder für Schuhe, die Frauen, und so auch Martha, Stoff.

Und der Zunftmeister war es auch, der die Rede hielt, die dem Brautvater zugestanden hätte. Geschickt und schlau waren seine Worte, erstickten jeden Anflug von Verwunderung über seine gewandelte Einstellung zur Theiler-Ehe.

«Ich trinke auf das junge Paar», dröhnte er und hob den silbernen Becher. «Ich trinke auf die Liebe, deren himmlische Macht uns diese beiden, Sibylla und Jochen, vor Augen geführt haben. Der Mensch ist klein und schwach, maßt sich an, über Dinge zu urteilen, die er nicht in aller Größe begreifen kann. Ein solches Ding ist die Liebe, der wir Menschen uns beugen müssen, der wir uns nicht in den Weg stellen dürfen und der wir erlauben sollten, nach ihren eigenen Gesetzen zu leben – auch, wenn diese Gesetze nicht immer den allgemeinen Regeln entsprechen.»

Diese kleine Rede erstickte auch noch die letzten Bemerkungen über die Ungewöhnlichkeit einer der Heirat zwischen der Meisterstochter und dem Junggeselle, ja, sie erteilte sogar all denen die Absolution, die im Namen der Liebe handelten, wie immer dieses Handeln auch aussehen mochte. Selbst die Verbannung eines verkrüppelten Ehemannes zugunsten eines alten, aber mächtigen Nebenbuhlers wäre nach dieser Rede ein heiliger Akt der Liebe, dem sich der Mensch in seiner Schwachheit beugen muss.

Dann stand der Gang ins Schlafzimmer an. Nach dem Brauch gaben die Gäste dem jungen Paar das Geleit.

«Ein tüchtiger Mann steht niemals schon nach dem ersten Gang von Frau Venus’ Tische auf», erklärte Geith und erntete mit dieser Bemerkung einen spöttischen Blick von Christine.

Der Zunftmeister warf sich in die Brust: «Einmal ist die Kost der Kranken, zweimal ist der Herren Weise, dreimal ist des Kürschners Pflicht, viermal heißt der Frauen Recht.»

Die Zunftmeisterin kicherte trunken, stieß ihren Alten mit dem Ellbogen derb in die Seite und krakeelte: «Dann bist du ja seit Jahren ein kranker Herr, dem die Kürschnerpflicht nicht gilt?»

Die anderen grölten, Ebel tötete seine Alte mit Blicken, schließlich lachte auch er, allerdings zu laut, und gab dem Priester ein Zeichen, das Bett zu segnen.

Dann waren Sibylla und Jochen allein.

Sibylla schloss die Augen, denn sie wusste nicht, was jetzt auf sie zukam. Die Hochzeitsnacht. Mein Gott, wie viel hatte sie darüber gehört. Wie viel Unterschiedliches! Ein schreckliches Ereignis, das Verdruss brächte, widerlich sei, sagten die einen. Die anderen schwärmten vom Feuer, das den Schoß verzehre und von dem sie nicht genug bekämen. Für die Dritten war es eine Angelegenheit, die es zu erledigen galt, ähnlich wie das Kochen und Putzen oder der Kirchgang. Wie würde es bei ihr sein?

Eine Hand strich ihr leicht übers Haar. «Ich habe ein Geschenk für dich», hörte sie Jochen sagen. Seine warme Stimme, der vertraute Klang, beruhigte Sibylla.

Sie schlug die Augen auf, lächelte ihn an.

«Die Morgengabe? Bekommt man dieses Geschenk nicht erst am Morgen nach der Hochzeitsnacht?», fragte sie.

Jochen schüttelte den Kopf und sah sie an. In seinem Blick lag so viel Wärme, dass Sibyllas Angst verschwand. «Ich möchte es dir jetzt geben.»

Er holte ein Päckchen und legte es verlegen vor Sibylla auf die Bettdecke. Langsam wickelte sie es aus.

«Ein Fellkleid?», fragte sie verwundert und sah Jochen an, bemerkte, dass er Mühe hatte, ihrem Blick standzuhalten. Er schien verlegen zu sein. «Ein Unterkleid aus Pelz? So etwas habe ich noch nie gesehen. Wann soll ich es tragen?»

«Nachts. Bei mir. Zieh es jetzt an», erwiderte Jochen leise, und in seinem Blick lag eine solch dringliche Bitte, dass Sibylla die Lichter ausblies, langsam das Hochzeitsgewand abstreifte und in das beidseitig mit Fell bestückte Kleid schlüpfte, das ihr wie angegossen passte. Sie spürte den weichen Pelz auf ihrer Haut, war erstaunt darüber, wie wohl und geborgen sie sich darin fühlte.

Dann legte sie sich ins Bett, schloss die Augen und wartete. Ihre Lider flatterten, und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Doch die Bangigkeit war verflogen. Seit sie das Fellkleid trug, wusste sie, dass alles gut werden würde.

Langsam und mit unendlicher Behutsamkeit streichelte Jochen ihren Körper durch das Fellkleid hindurch. Er berührte nur das Fell, doch Sibylla spürte, dass die Zärtlichkeit einzig ihr galt, dass Jochens ganze Liebe darin lag, ja, mehr noch. In seinen Liebkosungen spürte sie sein ganzes Wesen, das ihr zugetan war, bereit, ihr zu vertrauen und das Leben mit allem, was dazugehörte, mit ihr zu teilen. Und sie fühlte auch Jochens Schmerz, dessen Ursache sie nicht kannte, der sie jedoch im Innersten berührte, sodass ihr die Tränen kamen. Vorsichtig streckte sie ihre Hand nach ihm aus, ließ ihre Finger behutsam über seine Haut streichen, hörte nicht auf, als sie sein Zurückweichen spürte, streichelte einfach weiter, bis Jochen sich entspannte und seine Muskeln unter ihren Händen ganz weich wurden. Sie vergaß alles um sich sie herum, nur sie beide zählten, sie fühlte sich ihrem Mann so nah wie noch nie jemandem zuvor. Sie genoss seine Hände, die ihr alles gaben, was sie brauchte – und doch weder die Haut der Wäscherin noch die der Wöhlertochter berührten. Ein Gefühl von Dankbarkeit stieg in ihr auf. So groß und warm, dass sie sich aufrichtete, seinen entstellten Fuß in beide Hände nahm, ihn mit der eigenen Haut wärmte, vorsichtig darüber strich, immer und immer wieder. Sie spürte das Beben von Jochens Körper bis hinunter in den Fuß, spürte die Erschütterung – und konnte alles das gut aushalten, weil sie geschützt war in einem Kleid aus Fell. Noch nie hatte sie solch eine Zärtlichkeit erfahren, noch nie sich selbst so sehr gespürt wie in diesem Augenblick. Jetzt war sie nicht Wäscherin, nicht falsche Kürschnerstochter. Jetzt war sie sie. Nicht Luisa, nicht Sibylla, sondern sie selbst. Die Frau im Fellkleid – das war sie. So wahr, so bei sich wie nie zuvor. Das bin ich, dachte sie wieder und voller Glück.

 

Später, als die Ehe vollzogen war und Jochen längst schlief, stand Sibylla leise auf, schlüpfte noch einmal in ihr Hochzeitskleid und schlich hinunter in die Küche. Das Fellkleid hatte sie abgelegt. Es gehörte in das Schlafzimmer. In den einzigen Raum, der nur Jochen und ihr gehörte, zu dem sonst niemand Zutritt hatte. Dort sollte es bleiben. In der Hand trug sie das blaugrüne Kleid mit dem roten Besatz, das sie getragen hatte, als sie zum ersten Mal die Schwelle des Wöhlerhauses übertreten hatte. Eigentlich wäre sie lieber im Bett geblieben, hätte sich lieber in ihr Fellkleid geschmiegt, Jochens Atem gelauscht und über sein seltsames Geschenk, das so wunderbar zu ihr passte, nachgedacht. Doch eine Aufgabe war noch zu erledigen, die keinen Aufschub duldete.

Sie stand barfuß vor dem Herdfeuer, das noch glomm, und strich zart über das alte Kleid, schmiegte ihre Wange in den billigen Stoff, hoffte und fürchtete zugleich, darin ihren Geruch, den Geruch der Wäscherin Luisa zu finden. Doch das Kleid roch nach Lavendel, wie alle Kleidungsstücke hier im Haus. Kein Duft nach Seife und Waschlauge, keine Ausdünstungen der Feldsiechen, nicht der Geruch der Besenbinderkate hing im Kleid, sondern einzig Lavendel und vielleicht ein Hauch von Pelz- und Rauchwaren.

Sibylla atmete ganz tief ein, dann warf sie das Kleid mit einer energischen Bewegung in die Glut, goß ein wenig Öl darüber. Die Flammen schoßen hoch, versengten zuerst die Ränder, dann fraßen sie sich wie gierige Tiere durch den Stoff. Übrig blieb ein Häuflein Asche, weniger als eine Hand voll. Sibylla stand davor, starrte in die Flammen und in den Rauch und genoß das Gefühl der Freiheit. Wie eine warme Welle durchströmte sie dieses Gefühl, spülte alle Bürden des alten Lebens, alle Demütigungen und Hindernisse einfach weg.

Langsam breitete sie die Arme aus und begann sich im Kreis zu drehen. Das Hochzeitskleid schwang mit. Sibylla drehte sich schneller, flog dem Hochzeitskleid hinterher, ihrem neuen Leben hinterher, bis ihre Bewegungen mit den Schwingungen des Kleides verschmolzen. Kleid und Frau wurden eins, umschlangen einander wie ein seltsames Liebespaar und drehten sich, bis sich das Kleid schließlich um Sibyllas Körper wickelte und sie zum Stehen brachte.

Keuchend stand sie da, sah erst jetzt den schwarzen Schatten, den das silberne Mondlicht auf die Küchenwand malte. Langsam, ganz langsam hob Sibylla ihre Arme, als folge sie einem inneren Zwang, und der Schatten tat es ihr gleich. Wie ein großer, schwarzer Vogel, wie eine Krähe lauerte er an der Wand, bewegte die Schwingen auf und ab, wirkte äußerst lebendig. Sibylla erstarrte.

«Bist du das?», flüsterte sie, und vor ihren Augen erstand aus dem Schatten eine junge Frau, die ihr verblüffend ähnlich sah und die in dieser Nacht dem Totenreich entstiegen zu sein schien. Um sie zu mahnen und zu erinnern, dass sie sich angeeignet hatte, was ihr nicht gehörte. Angst kroch in Sibylla hoch, Entsetzen. Sie ist gekommen, um mich zu strafen für das, was ich ihr genommen habe, dachte sie und starrte auf den Schatten, darauf wartend, dass dieser sich von der Wand löste, sich auf sie stürzte und sie unter sich begrub.

Doch nichts geschah, nur eine Wolke schob sich vor den Mond, wischte den Schatten mit Leichtigkeit zur Seite.

Sibylla atmete auf, doch ihr Herz schlug zum Zerspringen. Unheimlich erschien ihr die Küche jetzt. Unheimlich das Haus, unheimlich war sie sich selbst ein wenig. Sie versuchte, sich zu beruhigen. «Es war nur ein Schatten», flüsterte sie. «Ein dummes Schattenspiel, weiter nichts.»

Allmählich wurde sie ruhiger, doch beinahe gleichzeitig begannen ihre Hände zu brennen und sich spröde und rau anzufühlen. Genau wie früher im Feldsiechenhaus.

***

Einige Monate nach der Hochzeit saßen Sibylla und Christine an einem Freitagabend im Wohnzimmer. Die Männer waren in der Zunftstube, Barbara auf Besuch bei einer Anverwandten, das Haus lag still.

Die beiden Frauen saßen im Schein mehrerer Kerzen am großen Tisch. Christine hatte einen Stickrahmen vor sich, und vor Sibylla lag ein weißes Blatt Papier, in der Hand hielt sie ein Stück Kohle.

«Was grübelst du?», fragte Christine und betrachtete abwechselnd und mit großer Zufriedenheit ihre Stickarbeit und ihren schwellenden Leib, in dem ein Kind wuchs. «Nimm dir lieber auch einen Rahmen und besticke eine Decke oder Kissenhülle. Wenn man so ein Gesicht zieht wie du, bekommt man früh Falten.»

Unwirsch schüttelte Sibylla den Kopf. «Ich habe keine Zeit, an Falten zu denken», erwiderte sie und kritzelte auf dem Blatt herum. «Ich möchte eine Zeichnung für den Zobelmantel machen. Was meinst du? Wie könnte eine Schaube für einen reichen Mann aussehen?»

Christine kicherte. «Sie muss seinem Selbstbild schmeicheln, was sonst?»

Sibylla ließ das Kohlestück sinken. «Das ist es!», sagte sie. «Du hast Recht. Die Eitelkeit muss gekitzelt werden, der Mantel nicht nur wärmen, sondern seinem Träger schmeicheln, ihn breiter und größer erscheinen lassen, als er in Wirklichkeit ist.»

Sie überlegte. «Wie sehen sich die reichen Männer?»

Christine zuckte mit den Achseln. «Wie du schon sagst! Groß und stattlich wollen sie sein, mit breiten Schultern, schmalen Hüften und mächtigem Geschlecht. Wahre Helden, die vor keiner Gefahr zurückschrecken.» Sie grinste und streichelte ihren Bauch.

Sibylla aber nickte und begann wie wild das Kohlestück über das Papier zu führen. Sie zeichnete eine Schaube, deren Kragen so gearbeitet war, dass er bis über die Schultern reichte und so den Eindruck von Stattlichkeit erweckte. Der obere Teil sollte bis zur Taille locker am Körper anliegen und dann in einer geraden, strengen Linie, welche eine optische Streckung bewirkte, auslaufen.

Als sie fertig war, betrachtete sie das Blatt mit schräg gelegtem Kopf, dann schob sie es zu Christine hinüber.

«Gut», stellte Christine fest. «Vollkommen. Ich kann die Patrizier direkt darin sehen. Sie werden diesen Mantel lieben und euch die Tür nach Aufträgen einrennen. Endlich werden sie jemanden gefunden haben, der sie so sieht wie sie sich selbst.»

«Der Mantel ist schon versprochen. Ebel wird ihn bekommen.»

«Ebel? Der Zunftmeister?»

Sibylla nickte. Christine betrachtete sie einen Moment lang und sagte dann verlegen: «In der Zunft heißt es, mit eurer Hochzeit wäre nicht alles nach Recht und Sitte verlaufen. Nur dem alten Ebel sollt ihr es zu verdanken haben, dass sie überhaupt stattfand. Die Leute fragen sich außerdem, woher dein Mann plötzlich die rohen Zobel hat. Zobel, die bereits Ebels Stempel tragen sollen. Und nun sagst du, der Mantel wäre versprochen. Hat die Zunftmeisterin Recht, wenn sie sagt, du hättest ihrem Alten den Kopf verdreht?»

Sibylla lächelte. «Er ist mein Pate, nichts weiter. Ein Freund meines Vaters war er. Ist es da nicht natürlich, dass er sich für mich und mein Glück verantwortlich fühlt?»

Christine zog die Augenbrauen ein Stück in die Höhe. «Das wäre ja das erste Mal, dass sich der Ebel für etwas einsetzt, was nicht ihm gehört.»

Sie senkte plötzlich die Stimme und legte Sibylla eine Hand auf den Arm. «Verstehen könnt ich schon, dass du einen Liebsten hast. Theiler ist ein Krüppel. Über ein halbes Jahr seid ihr nun schon verheiratet, aber du bist noch immer nicht schwanger. Pass gut auf, was du machst. Schon manche ist schneller gefallen, als ihr lieb war. Ich möchte dich jedenfalls nicht mit dem Strohkranz der Ehebrecherin auf dem Kopf den Strafgang zur Kirche gehen sehen.»

«Die Leute reden, wie sie es verstehen», erwiderte Sibylla mit leichter Schärfe in der Stimme. «Ich habe keinen Liebsten, Theiler ist mir genug. Er ist ein guter Mann. Ich liebe ihn auf meine Art.»

Überrascht blickte Christine sie an. «Du hast keinen Liebsten, doch mit Theiler verbindet dich nur wenig? Du bist schon so lange verheiratet. Hast du dich nicht an das Beilager gewöhnt?»

Sibylla presste die Lippen aufeinander und schwieg. Sie dachte an die Nächte im Fellkleid, die ihr so kostbar waren, dachte aber auch daran, dass Jochen ihre Haut nur streichelte, wenn sie von Fell bedeckt war. Es war, als fürchte er, eine andere zu berühren. Zwar hatten sie in der Hochzeitsnacht die Ehe vollzogen, doch die Nächte danach waren nicht so verlaufen, dass ein Kind daraus hätte entstehen können. Trotzdem waren sie schön, gaben ihr alles, was sie brauchte an Schutz und Geborgenheit, an Zärtlichkeit und Wärme.

Christine sah Sibylla mit einer Mischung aus Mitleid und Besorgnis an und sagte dann, als hätte sie ihre Gedanken gelesen: «Gott hat alle Körperteile mit einem Sinn ausgestattet. Auch die Leibesmitte, damit wir von ihr den rechten Gebrauch machen. Die Vernachlässigung des Schoßes aber kann uns großen Schaden zufügen und närrische Gedanken erzeugen. So manche Frau ist daran zugrunde gegangen. Das beste Mittel, so sagen die Ärzte, um gesund und heiter zu bleiben, ist die regelmäßige fleischliche Beiwohnung, und zwar seitens kräftiger, wohlgebauter Männer.»

«Amen», sagte Sibylla, lachte unfroh und setzte eine Miene auf, die zeigen sollte, dass sie dieses Gespräch am liebsten beenden würde. Doch Christine ließ nicht locker.

«Und was ist mit Kindern?», fragte sie. Sibylla überlegte. Sie konnte Christine nichts von dem Fellkleid erzählen, nichts von Theilers Eigenart, die für sie normal war, in den Augen der anderen aber seltsam wirken würde.

«Immer kann ich mich Theiler nicht verweigern, deshalb habe ich von einem fahrenden Händler Schafsdärme gekauft. Vom Mann beim Beischlaf angewandt, verhindern sie eine Schwangerschaft», antwortete sie schließlich in der Hoffnung, dass Christine ihr die Frau, die die Lust noch nicht gefunden hatte, abnahm.

Christine schaute regelrecht entgeistert. «Heißt das, dass du keine Kinder möchtest?»

Sibylla nickte. «Jedenfalls jetzt noch nicht.»

«Warum in Gottes Namen hast du dann geheiratet? Der Sinn einer Frau, der Sinn einer Ehe sind Kinder! Du kannst dich dem nicht verweigern, Sibylla. Jede normale Frau wünscht sich ein Kind. Was ist los mit dir?»

Christine fühlte sich für einen Augenblick, als wäre sie verraten worden. Schützend legte sie beide Hände auf ihren Bauch, als wolle sie nicht, dass das ungeborene Kind den Blicken einer Frau ausgesetzt war, die keines bekommen wollte. Wie kam Sibylla dazu? Jede Frau kriegte Kinder, das war einfach so. Keine stellte sich hin und sagte, dass sie keine wolle. Auf solch einen unglaublichen Gedanken kam niemand. Das wäre ja genauso, als würde ein Hund sich weigern zu bellen. Hunde bellten aber, und Frauen bekamen Kinder. So und nicht anders hatte Gott die Welt eingerichtet. Sie war schließlich auch schwanger. Kein Mensch, auch sie selbst nicht, hatte vorher gefragt, ob sie Kinder wollte oder nicht.

Wozu war sie sonst auf der Welt? Was war los mit Sibylla, dass sie nicht schwanger werden wollte?

«Frauen, die keine Kinder wollen, gibt es nicht», stellte Christine mit Nachdruck fest. «Also, was ist los mit dir?»

«Nichts ist los. Ich möchte jetzt einfach noch kein Kind, das ist alles.»

Christine schluckte und sah die Freundin lange an. «Manchmal machst du mir Angst», sagte sie leise.

Sibylla hatte Christine beobachtet. Sie hält mich für verrückt, dachte sie. Sie versteht nicht, dass ich kein Kind will, und deshalb fürchtet sie sich tatsächlich vor mir. Um Gottes willen, alles, bloß das nicht. Aber ist es nicht so, dass es mir ganz recht ist, noch nicht schwanger zu sein? Wessen Kind wäre es, das ich gebären würde? Das der Wäscherin Luisa oder das der toten Sibylla? Muss ich nicht erst noch meinen Platz finden, wenn ich ihn weitergeben soll? Aber Christine würde auch das nicht verstehen, nicht Jochens Eigenart, nicht meine Zweigeteiltheit. Doch sie soll keine Angst vor mir haben, soll sich mir ähnlich fühlen. Sehen soll sie, dass wir einander gleichen: zwei junge, ganz normale Kürschnermeistersfrauen mit ähnlichen Wünschen und Ansichten.

«Christine, verstehe doch, wenn ich im Kindbett sterbe, bevor Jochen die Meisterwürde hat, dann kann die Zunft ihm die Würde verweigern. Hat er keine Meisterstochter mehr zur Frau, so hat er alle verbrieften Rechte verwirkt. Wenn es auch so nicht in den Zunftregeln steht, so kann er den Titel doch nicht einklagen. Es wäre unvernünftig, jetzt ein Kind zu bekommen.»

Erleichtert atmete Christine auf. Sibylla war klug, vorausschauend, nicht verrückt. Sie war so normal wie jede andere. So normal wie sie selbst.

«Jetzt verstehe ich auch, warum du jeden Morgen in aller Frühe zur Messe in die Liebfrauenkirche gehst. Nicht, weil du die Eltern so früh verloren hast, wie die anderen sagen», stellte Christine fest, und Sibylla lächelte. Natürlich wusste die Freundin den wahren Grund nicht, konnte nicht ahnen, dass Sibylla Morgen für Morgen auf den kalten Steinplatten kniete und Gott um Vergebung bat für die Sünde, die sie an der wahren Sibylla begangen hatte und die sie von Tag zu Tag mehr quälte. War es die Strafe Gottes, dass sie nicht mehr wusste, wer sie war, seit sie das Wöhlerhaus betreten hatte? War es sein Zorn, der bewirkte, dass sie in sich selbst nicht mehr zu Hause war, zwei Leben lebte, das der Wäscherin und das der Meistersfrau, und doch keines von ihnen richtig? War es Gottes Wille, der ihre Seele in zwei Stücke geteilt hatte? Sibylla wusste es nicht, doch der Drang, eine Person werden zu wollen, trieb sie jeden Morgen erneut in die Kirche.

Christine unterbrach die Gedanken der Freundin, indem sie ihr eine Hand auf den Arm legte und beinahe feierlich sagte: «Ich möchte dich bitten, Patin meines ersten Kindes zu werden, Sibylla.»

Sibylla stand auf, nahm die Freundin in die Arme und küsste sie sanft auf die Wange. «Ich werde mich bemühen, deinem Kind eine gute Patin zu sein», schwor sie.