Kapitel 1

Frankfurt am Main im Jahre 1462

 

Die Turmuhr der nahen Liebfrauenkirche schlug die Mittagsstunde. Martha seufzte. Sie richtete sich auf und streckte mit einem Klagelaut den schmerzenden Rücken. Im großen, hölzernen Waschzuber vor ihr schwammen die Nachthemden des Hausherrn. Auf dem Steinboden daneben lagen mehrere Haufen Tischtücher, Unterzeug und Arbeitskittel.

Wie gut, dass es in diesem Haushalt keine Frau gibt, deren Kleider ich auch noch waschen muss, dachte Martha und wischte sich eine schon ergraute Haarsträhne, die unter ihrer Haube hervorschaute, aus der schweißnassen Stirn.

Seit Jahren schon kam sie an jedem Donnerstag in das Haus des Kürschnermeisters Wöhler, um die Wäsche zu besorgen. Genauso, wie sie an jedem Montag zum Kaufmann Lehrte ging, dienstags die Wäsche des Schulmeisters Hufe machte, mittwochs für den Drucker Horn wusch und freitags und samstags für die Wirtschaft «Zur goldenen Ziege» die Hände in den Waschzuber steckte.

Im Morgengrauen spaltete sie das Holz, das sie brauchte, um das Wasser in den riesigen Kesseln über den gemauerten Kochstellen zu erhitzen. Sobald es kochte, schleppte sie, unter der Last schwankend, die glühend heißen Kessel zu den mächtigen Zubern, schüttete das Wasser hinein, gab erst Seifenlauge, dann die Wäsche hinzu, rührte, schrubbte, schlug jedes einzelne Stück, bis es sauber war. Die wenigsten Haushalte hatten Waschküchen, sodass Martha meist gezwungen war, die Wäsche sommers wie winters und bei jeder Witterung im Hof zu besorgen. Ein Tag begann wie der andere und hörte ebenso auf. Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr.

Nur der Sonntag gehörte ihr. Manchmal, wenn sie nicht zu müde war und sich das Gliederreißen aushalten ließ, besuchte sie ihre 16-jährige Tochter Luisa, die im Dorf Hofheim am Taunus, einen halben Tagesmarsch entfernt, in einem Feldsiechenhaus die Wäsche besorgte und irgendwann die gleichen aufgerissenen, verquollenen, roten Hände haben würde wie ihre Mutter.

Martha rührte mit einem riesigen Holzlöffel die Wäsche im Zuber um, dann holte sie damit die Kleidungsstücke einzeln heraus und warf sie in einen anderen Bottich mit klarem, kaltem Wasser, das sie eimerweise vom städtischen Brunnen herangeschleppt hatte, um die Seifenlauge herauszuspülen. Ihre Arme und Schultern schmerzten, denn die nassen Wäschestücke waren schwer, die Zuber riesig, und am Abend würde sie nicht mehr in der Lage sein, auch nur einen Finger zu rühren.

Das Geräusch der Wäsche, die ins Spülwasser klatschte, war so laut, dass Martha das Klopfen an der Tür zunächst überhörte. Doch dann trocknete sie die Hände an ihrem Kittel ab und ging schlurfend zur Haustür.

«Gott zum Gruße, Frau, ich bringe Nachricht für den Meister Wöhler», sagte der berittene Bote und holte einen versiegelten Umschlag aus seiner Satteltasche.

«Der Herr ist nicht da», erwiderte Martha. «Auch die Magd ist ausgegangen. Nur die beiden Gesellen sind in der Werkstatt.»

Der Bote musterte die Frau von oben bis unten. Er sah eine abgearbeitete, verhärmte Wäscherin unbestimmbaren Alters, deren Rücken von jahrelanger Arbeit krumm geworden war. Ihre blauen Augen blickten ihn gerade an, und ihr Gesicht hatte klare Züge. Früher war sie vielleicht sogar schön gewesen war, doch jetzt sah sie verbittert aus.

«Dann übergebe ich Euch die Nachricht. Ihr werdet sie doch weiterleiten?», fragte er schließlich mit leisem Zweifel in der Stimme.

Martha nickte. «Gewiss.»

Sie streckte die Hand nach dem Umschlag aus und betrachtete ihn. Der Brief kam vom Kloster Engelthal, in das Sibylla, die Tochter des Kürschnermeisters Wöhler, nach dem Tod ihrer Mutter vor vier Jahren gegeben worden war, damit sie eine ordentliche Erziehung bekam.

Martha steckte den Umschlag in ihre Kitteltasche, winkte dem Boten einen Abschiedsgruß zu und blieb noch ein wenig in der Tür stehen, um die milde Septemberluft zu genießen.

Der Herbst wird bald kommen, dachte Martha und seufzte. Ihre Hände würden dann ob der Kälte noch rissiger und wunder sein, der Rücken steifer, und die Knochen würden auch nachts nicht warm werden.

Aber noch war es spätsommerlich mild, noch schien die Sonne, wärmte Marthas Gesicht, trocknete den ewig feuchten Kittel und die roten, klammen Hände. Sie hielt sie in die Sonnenstrahlen und betrachtete sie.

Hände, in die ein ganzes Leben eingezeichnet war. Hände, die so oft schon verbrüht oder erfroren und mit dicken, schmerzenden Frostbeulen oder eitrigen Brandblasen bedeckt gewesen waren. Hände, die noch schneller gealtert waren als der restliche Körper und die auch zuerst sterben würden. Wie viel Zeit blieb ihnen noch?

Die Seifenlauge hatte sich tief in die aufgeschwemmte Haut gefressen und schmale, manchmal eitrige Risse mit grauwulstigen Wundrändern hinterlassen. Besonders schlimm war es zwischen Fingern. Dort trocknete die Haut nie ganz, und jedes Mal, wenn Martha die Hände erneut in die beißende Lauge steckte, durchfuhr sie ein scharfer Schmerz, der ihr fast den Atem nahm. Fingernägel hatte sie schon lange nicht mehr, nur noch Stellen mit einer unnatürlich verdickten Hornschicht von der Farbe uralter Steine. Obwohl sie erst 36 Jahre alt war, hatte die Gicht ihre Gelenke bereits befallen, mit schmerzenden Knoten bedeckt und die Finger zu Krallen gekrümmt, die sich von Tag zu Tag schlechter bewegen ließen. Wie lange würde es noch dauern, bis sie den schweren Holzlöffel nicht mehr greifen konnte?

Und wie lange würde es noch dauern, bis Luisas Hände ebenso aussahen, sie den Rücken nicht mehr strecken konnte und das Gliederreißen auch nachts nicht aufhörte? In Gedanken sah sie ihre Tochter vor sich, die schon seit ihrem zwölften Lebensjahr als Wäscherin arbeitete.

Luisas Zukunft würde aussehen wie Marthas Vergangenheit: schwere Arbeit, wenig Freude, alt vor der Zeit mit kaputten Knochen und ewig schmerzendem Rücken.

Mit einem bisschen Glück und vielen Gebeten bekam Luisa vielleicht irgendwann einen Knecht zum Manne. Einen Feldsiechendiener, der sie zu einer halbwegs ehrbaren Frau machte und der – wie die meisten im Siechenhaus – früh sterben und sie allein mit den Kindern lassen würde, die Brot und Kleider brauchten und die, sobald sie alt genug waren, mit dafür sorgen mussten, dass das Holz im Herd brannte, um am Morgen die dünne Grütze darauf zu kochen.

Einen Mann finden und heiraten, das war das Wichtigste im Leben. Was war eine Frau ohne Mann wert? Nichts, gar nichts. Eine Frau ohne familiäre Bindung und ohne männlichen Schutz war eine freie Frau. Eine Hure selbst dann, wenn sie das Bett noch nie mit einem Mann geteilt hatte. Wenn sie doch wenigstens Witwe wäre! Eine Witwe hatte einen guten Ruf und bekam vielleicht noch einmal einen Mann, selbst wenn die Jugend lange hinter ihr lag. Einen, der alt, krank und gar bösartig war, der sie schlug und dessen Kinder sie großziehen musste. Auch das war kein Vergnügen, aber alles war besser, als eine freie Frau zu sein, eine Wäscherin lebenslang.

So wie es ihr geschehen war.

Martha war elf Jahre alt gewesen, als nach dem frühen Tod ihres Vaters während einer Pockenepidemie auch noch die Mutter starb, sodass sie waschen gehen musste, weil niemand da war, der für sie und die jüngeren Geschwister sorgte. Mit 20 war sie von einem Handwerksgesellen schwanger geworden. Sie hatten sogar heiraten wollen, doch dann starb der Meister, der Handwerksgeselle nahm die Meisterin zur Frau, um die Werkstatt übernehmen zu können, und machte Martha zu einer Dirne mit einem unehelichen Kind. Und Luisa wurde zu einem Bastard, dem lebenslang die Bürgerrechte oder gar eine Verbindung zum ehrlichen Handwerk verwehrt blieben.

Der liebe Gott wusste, dass Martha alles getan hatte, um ihrem Kind dieses Schicksal zu ersparen. Sie war sogar bei einer Kräuterkundigen gewesen, bei einer Zauberschen, die ihr Tränke gegeben hatte, von denen Martha die Besinnung verlor, und die mit zangenähnlichen Geräten in ihren Schoß gedrungen war, um das Kind aus Martha herauszuholen und zurück in Gottes Reich zu schicken. Noch Tage danach hatte sie hohes Fieber gehabt, einzelne Blutstropfen waren ihr immer wieder die Beine hinabgelaufen, doch das Kind war stärker, ließ sich nicht wegschicken. Im Gegenteil, es trieb ihr den Leib auf, machte die Brüste groß und schwer und war bald sichtbar für jeden. Martha hatte nacheinander die meisten ihrer Waschstellen verloren.

Eine immer schwerfälliger werdende Wäscherin mit dickem Bauch und ohne Mann zu beschäftigen, das machte fast niemand. Sie hatte manches Mal gehofft, im Kindbett zu sterben oder wenigstens ein totes Kind zur Welt zu bringen, um das sie trauern konnte, ohne es versorgen zu müssen. Doch Luisa war gesund, und irgendwann hatte Martha sich von der Geburt erholt und war wieder waschen gegangen. Die Kleine nahm sie mit, ob es stürmte oder schneite. Sobald sie alt genug dafür war, ließ sie sie allein in der winzigen Kammer zurück, die sie im schäbigen Haus eines Besenbinders bewohnte. Einen Mann gab es nicht mehr in Marthas Leben. Wer wollte schon eine Frau mit einem Bastard? Niemand. Noch nicht einmal der ärmste Grabenfeger, der schäbigste Bettelvogt oder der kümmerlichste Feldsiechendiener. Es hätte wohl manchen gegeben, der das Lager, nicht aber das Leben mit ihr geteilt hätte, doch die Angst, noch einen weiteren Bastard zur Welt zu bringen, kühlte ihr das heiße Blut.

Und Luisa selbst würde es auch schwer haben, einen Mann zu finden. Der Makel der unrechten Geburt klebte an ihr wie ein Kainsmal, machte sie schon jetzt zu einer freien Frau, auch wenn sie noch nie die Haut eines Mannes an ihrem warmen Leib gespürt hatte. So musste sie waschen gehen, seit sie groß und stark genug war, die schweren Waschzuber zu füllen und die Wäschestücke auszuwringen.

Martha war keine gebildete Frau, aber eines wusste sie genau: Eine Zukunft hatte Luisa nicht, ihr Leben war bereits vorgezeichnet. Sie würde ihr Leben lang auf die eine oder andere Art für sich selbst sorgen müssen und vor der Zeit alt und müde werden. Genau wie ihre Mutter.

Martha seufzte noch einmal, ihre Blicke schweiften durch die Trierische Gasse, in der das übliche Treiben eines ganz normalen Werktages herrschte.

Die Kürschner hatten die hölzernen Laden vor den Werkstätten im Erdgeschoß weit aufgestoßen. Hier und da hingen Pelze und Rauchwaren zum Lüften, doch der ätzende Geruch von Gerbsäure lag wie ein zerfressenes Tuch über den Häusern und vermischte sich mit dem Gestank des Abfalls.

Aus den Werkstätten drangen vielerlei Geräusche. Gegenüber klopfte ein Lehrjunge die Felle aus, dass Staub und Holzspäne in die Luft stiegen, daneben stand ein Geselle hinter dem Rumpelbock und schnitt mit dem Scherdegen die Lederseite eines Felles so dünn es eben ging, um später den fertigen Umhang so leicht wie möglich zu halten.

Die Straße war ungepflastert, nur in der Mitte waren dicke Holzbohlen in die Erde gelassen. Rechts und links der Bohlen türmte sich der Abfall aus den Häusern. Herrenlose Hunde stöberten darin nach Essbarem und wurden von einem Knecht mit dem Knüppel verjagt, als sie sich an die Hühner heranmachen wollten.

Ein wandernder Scherenschleifer bog in die Gasse ein, und die lauten Rufe, mit denen er seine Dienste anbot, schallten von den Mauern der schmalen, meist dreigeschossigen und tief gestaffelten Giebelhäuser aus Fachwerk zurück. Fensterläden wurden aufgestoßen und aus den weit überhängenden Obergeschossen der Nachbarhäuser, in denen sich die Wohnräume befanden, beugten sich die Hausfrauen und Mägde, riefen nach dem Scherenschleifer oder schwatzten miteinander über die Gasse hinweg.

Martha fröstelte. Der Waschkittel klebte feucht auf ihrer Haut und verursachte unangenehme Schauer wie von leichtem Fieber. Noch einmal zog sie die wehen Schultern nach hinten, um die steifen Muskeln zu lockern, dann ging sie zurück ins Haus.

Sie war gerade dabei, Handtücher aus feinem Leinenstoff auszuwringen, als sie Meister Wöhler heimkommen hörte. Ihr fiel der Brief ein, und sie stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf in die Meisterstube.

Meister Wöhler saß hinter einem großen, abgenutzten Kontortisch aus Eichenholz und hatte das Auftragsbuch vor sich liegen. Nachdenklich sah er hinein, die Feder schreibbereit in der Hand. Sein schwerer Körper wirkte selbst hinter dem Tisch noch massig, das dunkelbraune dichte Haar lag wie eine Fellmütze auf seinem Kopf, unter den buschigen Brauen sahen ihr zwei haselnussbraune Augen fragend entgegen.

«Nun, Martha, was gibt es? Ist die Seife alle? Ein Tischtuch zerissen?»

Die Wäscherin schüttelte den Kopf.

«Ein Bote brachte eine Nachricht aus dem Kloster Engelthal.»

Sie griff in ihre Kitteltasche und holte den Brief hervor, der von der Feuchtigkeit in der Waschküche ein wenig gewellt war.

«Aus dem Kloster», wiederholte Wöhler, nahm den Brief entgegen und erbrach das Siegel.

Martha sah ihm beim Lesen zu. Sorgsam faltete er den Bogen auseinander, studierte Datum und Unterschrift, dann begann er zu lesen. Plötzlich wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Die Lippen verfärbten sich blauviolett. Er starrte auf den Bogen, als täte sich vor ihm die Hölle auf. Martha fühlte sich unbehaglich. Sie strich unruhig mit beiden Händen wieder und wieder ihren Kittel glatt und wartete darauf, dass Wöhler sie entließ. Doch der stöhnte plötzlich auf, ließ den Brief zu Boden fallen und drückte beide Hände auf die linke Hälfte der Brust.

«Meister Wöhler, was ist?», rief Martha besorgt, hob den Brief vom Boden auf und hielt ihm dem Meister wieder hin.

Doch Wöhler antwortete nicht, sondern sah Martha nur mit blicklosen Augen an, sackte auf dem Lehnstuhl zusammen, die Arme fielen kraftlos herab, dann sank sein Kopf auf die Brust, der Oberkörper kippte nach vorn, und er schlug mit der Stirn hart auf der polierten Platte des Schreibtisches auf. Der Schlag hallte im Raum. Martha stand wie festgefroren und blickte fassungslos auf den Meister.

«Meister Wöhler? Meister Wöhler!», rief sie zuerst leise und fragend, dann lauter und voller Schrecken und rüttelte an seiner Schulter.

Aber Wöhler rührte sich nicht mehr.

Martha lief zur Treppe und rief angsterfüllt: «Gesellen, kommt schnell! Schnell doch!»

Die Magd Barbara, inzwischen vom Markt zurückgekehrt, schaute aus der Küche.

«Martha, was schreist du so?»

«Meister Wöhler», Martha rang nach Atem. «Ich glaube, er ist tot.»

«Herr Jesus!»

Barbara raffte ihr bodenlanges Tuchkleid und rannte die Treppe herauf, bekreuzigte sich dabei und blieb an der Schwelle zur Meisterstube wie erstarrt stehen. Martha hielt noch immer den Brief in den Händen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, faltete sie ihn ordentlich zusammen und steckte ihn zurück in ihren Kittel.

Inzwischen waren auch die Gesellen aus der Werkstatt herbeigeeilt. Der Jüngere ging zu Wöhler und presste sein Ohr auf dessen Rücken, richtete ihn auf und hielt eine kleine, zarte Feder vor den Mund des Kürschnermeisters.

«Sein Herz schlägt nicht mehr, glaube ich. Und die Feder bleibt still, also atmet er nicht», stotterte der Geselle unsicher.

Er blickte die anderen Rat suchend an, zuckte hilflos mit den Schultern und sagte dann mit dunkler Stimme: «Der Meister ist tot.»

«Tot?», fragte die Magd mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen und bekreuzigte sich erneut. Die anderen taten es ihr nach, murmelten ein Gebet.

Stumm standen sie da, schauten auf den toten Meister, der vor wenigen Stunden noch mit festen Schritten durch Haus und Werkstatt geeilt war.

«Was wird nun aus uns?», heulte die Magd. Niemand wusste eine Antwort. Innerhalb von wenigen Augenblicken hatte sich ihr Leben verändert. Aus Gesellen und Magd waren Herrenlose geworden, die sich um das tägliche Brot sorgen mussten. Die Erkenntnis ließ sie verstummen. Was sollte aus ihnen werden? Wie würde es weitergehen? Was würde passieren?

Martha fasste sich als Erste. «Vielleicht sollte einer von uns den Arzt holen. Wenn jemand noch etwas machen kann, dann er. Wenn nicht, kann er den Totenschein ausstellen», sagte sie und bemerkte dabei kaum, dass ihre Hände sich in den Stoff des Kittels verkrallt hatten und an dem dünnen Tuch rissen.

Bei diesen Worten brach die Magd Barbara erneut in Tränen aus und hielt sich laut jammernd die Hände vors Gesicht.

Martha sah den Altgesellen fragend an, und als dieser zustimmend nickte, stieg sie die Treppe hinunter. Sie eilte durch die Trierische Gasse, lief über den Liebfrauenberg weiter in Richtung Römer, am Bartholomäus-Dom vorbei bis hin zum Viertel der Ärzte, Bader und Bartscherer.

Vor einem schmalen Haus blieb sie schließlich stehen und griff nach dem Türklopfer. Eine Magd öffnete.

«Der Arzt muss in die Trierische Gasse kommen. Meister Wöhler ist wohl tot oder doch nahe dran.»

Die Magd ließ sie ein, und Martha erzählte dem Arzt, was mit dem Kürschnermeister passiert war.

«Blaue Lippen, sagst du?», fragte der Arzt.

«Ja, Herr, und ein weißes Gesicht, grau beinahe.»

«Geatmet hat er noch?»

Martha schüttelte den Kopf. «Nein, und auch kein Herzschlag mehr, sagt der Geselle.»

«Nun», erwiderte der Arzt und streckte seine Nase in Richtung Küche, aus der köstliche Gerüche nach Gebratenem drangen. «Nun, ich bin sicher, er ist tot, und ich muss mich nicht eilen. Geh schon vor, ich komme später nach.»

Langsamer, als sie zum Haus des Arztes gelaufen war, ging Martha durch die Stadt zurück zur Kürschnerei. Wöhlers Tod entsetzte auch sie. Sie würde eine langjährige Waschstelle verlieren, eine Stelle, die sie brauchte, um wenigstens genügend Holz und Brot kaufen zu können. In ihrem Alter war es schwierig, einen neuen Haushalt zu finden. Die jungen Wäscherinnen waren gesünder, kräftiger und schneller als sie.

Plötzlich war ihr kalt. Sie steckte die Hände in die Taschen ihres Kittels und fand darin den Brief.

Der Brief aus dem Kloster Engelthal. Martha blieb stehen und holte ihn vorsichtig heraus. Was wohl darin steht?, überlegte sie und ging langsam weiter. Wenn darin steht, dass Sibylla heimkommen, heiraten und Meisterin werden wird, dann könnte ich die Stelle vielleicht behalten. Aber dann hätte den Meister bestimmt nicht der Schlag getroffen, es sei denn, vor Freude.

Sie war inzwischen auf dem Römer angekommen. Die rote Fahne hing vom Rathaus herab und verkündete, dass Marktrecht geboten war. Der Handel war in vollem Gange.

Ein Karren mit Brennholz, gezogen von einem klapprigen Esel, rumpelte über das holprige Kopfsteinpflaster in Richtung Holzmarkt, und Martha wich ihm aus.

Beinahe wäre sie dabei mit einem Bettelmönch zusammengestoßen, dessen schäbige und staubige Kutte von seinem weiten Weg erzählte.

«Habt Ihr ein Stück Brot für einen armen Gottesdiener auf Wanderschaft, gute Frau?», fragte der Mönch.

Martha schüttelte den Kopf, doch dann fiel ihr der Brief wieder ein. «Könnt Ihr lesen?»

«Ja, lesen und schreiben auch», erwiderte der Mönch.

Martha reichte ihm den Brief.

«Lest mir vor, was darin geschrieben steht», bat sie.

Der Mönch sah sie misstrauisch an. Der Brief konnte nicht an diese einfache Frau gerichtet sein. Zu kostbar war das Papier, zu edel das Siegel. Und überhaupt: Wer sollte einer Wäscherin schreiben? Dann konnte man den Brief ja gleich an den Hofhund schicken! Doch was kümmerte ihn das? Er hatte Hunger und es war ihm gleichgültig, wer der Adressat dieses Briefes war. «Einen viertel Heller, gute Frau, dann lese ich ihn Euch vor.»

Martha gab ihm den viertel Heller, verzichtete damit auf ein bisschen Schmalz, das sie davon kaufen wollte, und sah mit Verwunderung, wie schnell das Geldstück in den Tiefen der ärmlichen Mönchskutte verschwanden. Der Mönch räusperte sich, dann begann er zu lesen: «Wir müssen Euch leider anzeigen, dass Eure Tochter Sibylla am gestrigen Abend, versehen mit den Sterbesakramenten, heim ins Reich Gottes gegangen ist. Ihr Leiden war kurz und die Aufnahme in den Himmel ist ihr gewiss …»

Sibylla? Tot?, dachte Martha und schüttelte fassungslos den Kopf.

Kein Wunder, dass dem Meister der Schreck so ins Herz gefahren war, dass es gleich stehen geblieben und ihm der Atem für immer versiegt war. Sie selbst merkte ja, wie ihr Herz bei dieser Nachricht für einen Moment aussetzte. Sibylla würde nie mehr nach Hause kommen, und Martha war ihre Stellung los. Sie seufzte und wünschte sich für einen Augenblick an die Stelle der jungen Sibylla.

Sie hörte kaum zu, als der Mönch weiterlas, merkte sich nur, dass Sibylla auf dem Klosterfriedhof beigesetzt und ihre persönlichen Sachen unter den Armen verteilt werden sollten. Genauso, wie es damals, bei Sibyllas Ankunft im Kloster mit Meister Wöhler vereinbart worden war.

Martha dankte dem Mönch, steckte den Brief zurück in die Tasche, ging langsam weiter und erinnerte sich dabei an Sibylla, die sie vor mehr als vier Jahren zum letzten Mal gesehen hatte.

Sibylla, die kleine Sibylla mit den langen braunen Haaren, die in der Sonne ein bisschen rötlich leuchteten, und den graublauen Augen, die wie gefrorene Pfützen im Winter aussahen. Sie war schon eine Freude gewesen, die hübsche Kleine, und Martha hatte sie gern gehabt. Vielleicht, weil Sibylla ihrer eigenen Tochter Luisa so ähnlich sah. Das gleiche Haar, die gleichen Augen, nur dass die von Luisa vielleicht ein bisschen mehr ins Grüne gingen und ihr in manchen Augenblicken etwas Katzenhaftes verliehen. Martha fühlte große Traurigkeit und Verzweiflung in sich und wusste nicht, wem sie galten: Sibylla, Meister Wöhler und dem Verlust ihrer Stellung oder Luisa, der eigenen Tochter, die lebte, aber von der niemand wusste, wie lange noch.

Einmal hatten sich die beiden Mädchen getroffen. An einem Sonntag beim Kirchgang war das gewesen. Sibylla hatte die Wäscherin freundlich begrüßt und auch Luisa die Hand gereicht.

Und Luisa hatte ihre Hand am Kleid abgewischt und verschämt die spröde Haut angesehen, ehe sie sie Sibylla zum Gruße hinhielt.

Martha war dieser Anblick schmerzhaft in Erinnerung geblieben. Die rote, wunde Hand Luisas, die schon damals erste Spuren von Wasser und scharfer Seifenlauge trug, und die weiche, weiße Hand Sibyllas, die makellos war. Und der bewundernde Blick Luisas angesichts der Schönheit Sibyllas. Ihrer eigenen war sie sich nicht bewusst. Doch selbst wenn Luisa geahnt hätte, dass sie, wenn schon nicht schön, so doch reizvoll war, hätte das nichts geändert. Schönheit war kein Pfund, mit dem ein Bastard wuchern konnte.

«Du hattest neulich Recht, Martha, wir sehen uns wirklich sehr ähnlich», hatte Sibylla gut gelaunt und unbeschwert Marthas düstere Gedanken unterbrochen und dabei gekichert, wie es Mädchen in diesem Alter tun. «Luisa und ich könnten Schwestern sein.»

Dann war dem Mädchen ein Einfall gekommen, bei dem es noch mehr kicherte: «Schwestern, ja. Und wir könnten, wenn wir uns einen Schabernack ausdenken wollten, die Rollen tauschen. Dann würde ich als Luisa die Wäsche waschen, und du», sie zeigte mit dem Finger auf die Tochter der Wäscherin, «du müsstest meinen Vater versorgen.»

Wenn es doch so wäre!, hatte Martha gedacht und Luisa über das Haar gestrichen.

Luisa aber hatte nicht gelacht. Sie hatte die Hände hinter ihrem Rücken verborgen und auf den bestickten Gürtel Sibyllas geblickt, der ihr Kleid verzierte.

«Der Gürtel, er passt nicht zu deinem Kleid», hatte Luisa schließlich schüchtern und trotzig zugleich gesagt, und Sibylla und Martha hatten die kleine Wäscherin verwundert angesehen.

«Wie kommst du darauf? Kleid und Gürtel sind von einem guten Schneider», hatte Sibylla geantwortet und verlegen beobachtet, wie sich Luisa zu dem Gürtel herabbeugte, ihn sich so genau anschaute, als wolle sie ihn später malen, und behutsam mit dem Finger darüber strich.

«Die Materialien passen nicht zueinander. Seide und Filz, nein, das geht nicht», hatte Luisa schließlich erwidert und war rot geworden, als sie den tadelnden, angstvollen Blick ihrer Mutter spürte.

Bevor Sibylla antworten konnte, war Meister Wöhler dazugekommen, hatte seine Tochter am Arm genommen und sie mit sich gezogen, als wolle er nicht, dass sich die Wäscherin und deren Bastard mit Sibylla unterhielten.

Martha hatte Luisa Vorwürfe gemacht. Wie kam sie, eine kleine Wäscherin, dazu, einer Meisterstochter zu sagen, dass ihre Garderobe nicht stimmte? Sibylla war die Vornehmheit angeboren, eine Vornehmheit, die ihrem Stand entsprach und von der Luisa keine Ahnung hatte.

Luisa hatte zwar den Kopf gesenkt, doch in ihren Augen zeigte sich keine Scham oder Reue. Trotzig, wenn auch leise, erwiderte sie: «Die Sachen haben nicht zueinander gepasst. Ich weiß es besser, ich habe es gesehen.»

«Dann soll Gott dich mit Blindheit strafen», hatte Martha geschrien und sich gefragt, woher das Mädchen diesen Hochmut hatte.

War es nicht auch ihr Hochmut gewesen, der Luisa schließlich ins Feldsiechenhaus gebracht hatte?

Martha erinnerte sich noch genau an diesen Schicksalstag nur wenige Wochen nach dem Treffen der beiden Mädchen.

Luisa hatte in einem Putzmacherhaushalt die Wäsche besorgt. Schon sehr früh am Morgen war sie mit den beiden Mägden zum Main hinuntergelaufen, um die Kleider der Herrschaft zu waschen. Die vollen Körbe auf den Köpfen balancierend, waren sie gegen Mittag zurück in die Stadt gekommen, hatten die Kleider im warmen Sommerwind auf der Bleiche trocknen lassen und anschließend mit heißen Steinen geglättet.

Was war nur über Luisa gekommen, dass sie sich plötzlich das Kleid der Meisterin vor dem Spiegel aus poliertem Metall anhielt? Und warum, mein Gott, warum nur hatte sie dieses Kleid auch noch anprobieren müssen? Die Meisterin hatte sie dabei erwischt und Zeter und Mordio gebrüllt.

«Eine Diebin bist du, hast dich an meinen Kleidern vergriffen», hatte sie geschrien und den heißen Stein nach Luisa geworfen, der sie an der Schulter traf und dort verbrannte.

«Ich wollte das Kleid nur anprobieren, gewiss nicht stehlen», hatte Luisa beteuert, doch die Putzmacherin hatte nicht hören wollen.

Mit dem Finger hatte sie auf die Haustür gewiesen, Luisa wie einen räudigen Hund davongejagt und sie nicht einmal mehr angeblickt.

Martha hatte am Abend davon erfahren. Luisas Gesicht war ganz verschwollen gewesen vor lauter Tränen, dennoch hatte Martha ihre Tochter nicht ganz verstanden. «Warum?», hatte sie sie gefragt, doch Luisa hatte nur mit den Achseln gezuckt und geantwortet: «Ich wollte sehen, ob mir das Kleid besser steht als der Putzmacherin.»

Martha hatte es nicht geschafft, den Eigensinn und die Dünkelhaftigkeit aus Luisa herauszuprügeln. Und da die Putzmacherin Luisas «Diebstahl» in der ganzen Stadt herumposaunte, war Martha schließlich nichts anderes übrig geblieben, als ihre Tochter ins Feldsiechenhaus nach Hofheim zu geben.

Und Luisa hatte trotzig ihre Sachen genommen und in jedes Ding eine kleine gelbe Sonne gestickt.

Die kleine gelbe Sonne. Woher hatte Luisa dieses Verlangen, alles, was sie besaß, das denkbar Wenige, mit einem eigenen Kennzeichen zu versehen? Weshalb das Bedürfnis, alles zu markieren, was ihr gehörte? Jeden schäbigen Fetzen Stoff, jedes ärmliche Haarband, jedes noch so triste Kleidungsstück? Und woher dieses Bestreben, alles, was sie besaß, zu verschönern? Ein buntes Band an das Kleid, einen Ring aus einem Lederrest. Eine Kette gar aus trockenem und gebranntem Hartweizen, die auf der Haut scheuerte. Warum? Und für wen? Sie war eine Wäscherin und nicht gemacht für Putz und Tand. Keine der anderen Wäscherinnen schmückte sich. Sowieso wurden die meisten Dinge nach kurzer Zeit unansehnlich, weil durch die feuchte Luft in den Waschküchen die Farben verblassten, die Bänder sich wellten, der Lederring hart wie Stein am Finger wurde und die Kette am Hals zerbröselte.

Es war, als hadere Luisa mit ihrem Schicksal, als wolle sie sich von den anderen Wäscherinnen unterscheiden. Sie war anders als diese, hatte sich nie bescheiden können mit dem, was sie war: ein Bastard, der anderer Leute Dreckwäsche wusch. Aber warum nur? Martha wusste es nicht. Sie seufzte, als sie sich an Luisas allererste Waschstelle bei einem Schulmeister erinnerte. Stumm hatte das Mädchen dagestanden, als der Schulmeister seinen wenigen Schülern das Lesen und Schreiben beibrachte. Schweigend und beharrlich war sie gewesen und hatte sich nicht zurück in die Waschküche schicken lassen. So lange, bis er ihr hin und wieder erlaubte, beim Unterricht zuzuhören, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war.

Martha gab zu, dass es sie stolz machte, eine Tochter zu haben, die ein bisschen lesen und schreiben konnte. Niemand aus ihrer Familie war je so weit gekommen. Trotzdem: Eigensinn und Träumerei, das waren Luisas große Schwächen. Sie hatten Luisa ins Feldsiechenhaus gebracht.

Und dort überlebte man nicht lange. Die Siechen litten an ansteckenden, tödlichen Krankheiten, die auch durch die Wäsche, die durch Luisas Hände ging, weitergegeben wurden. Wie lange würde der junge Körper sich dagegen behaupten können?

«Es ist nur für eine kurze Zeit», hatte die weinende Martha ihre verstummte Tochter getröstet. «Bald wird vergessen sein, was die Leute heute über dich reden, und du kannst zurückkommen. Ich werde neue Stellen für dich finden. Irgendetwas wird sich schon ergeben.»

«Warum?», hatte Luisa gefragt, und Martha wusste, dass sie nicht das Feldsiechenhaus meinte, sondern die Art, wie sie behandelt worden war.

«Dein Hochmut ist es. Und vielleicht, dass du anders bist als die anderen. Die Leute mögen es nicht, wenn man nicht so ist, wie es einem gebührt. Es macht ihnen Angst, und das macht sie wütend.»

Aber es hatte sich seitdem nichts ergeben, und so war Luisa schon das dritte Jahr im Feldsiechenhaus, wurde von Mal zu Mal blasser, ihre Augen glanzlos und ihr Haar stumpf.

Sie stirbt mir vor den Augen weg, dachte Martha jedes Mal, wenn sie Luisa sonntags besuchte. Aber vielleicht ist es besser so. Vieles bliebe ihr erspart, holte Gott sie jetzt schon zu sich.

Sibylla wäre niemals so behandelt worden. Im Gegenteil: Die Putzmacherin hätte sich darum gerissen, der Tochter des Kürschnermeisters Wöhler das Kleid zu schenken. Aber Sibylla war tot, und Luisa lebte. Noch.

Plötzlich kam Martha ein Einfall. Er schien ihr selbst so gewagt, so ungeheuerlich, dass sie mitten auf der Gasse wie angewurzelt stehen blieb, nach Luft schnappte und nicht einmal bemerkte, dass sie von links und rechts angerempelt wurde.

Was wäre, wenn sie jetzt die Rollen tauschen würden? Wenn aus Luisa Sibylla werden und sie die Rolle als Tochter und Erbin des Meister Wöhler übernehmen würde?