Kapitel 18
Am nächsten Tag war Ratssitzung. Ein große Menge hatte sich vor dem Rathaus versammelt, um den Ausgang der Sitzung abzuwarten. Sie waren alle gekommen, weil sie erfahren hatten, dass es um den Gerber Thomas gehen würde. Sibylla stand in der ersten Reihe. Sie konnte es kaum aushalten vor Spannung, doch die Ratssitzung schien sich länger als sonst hinzuziehen.
Endlich erschien der Rat und verkündete das Ergebnis seiner Beratungen. Der Gerber Thomas wurde für immer aus Frankurt ausgewiesen. Sollte er je wieder einen Fuß in Frankfurter Stadtgebiet setzen, so drohte ihm die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen. Sibylla war erleichtert. Jetzt war der Albtraum vorbei, und sie musste nie wieder Angst vor ihm haben. Endlich konnte sie wieder unbeschwert durch die Gassen gehen.
Sie wollte schon gehen, als sie Meister Sachs sah. Er stand abseits, wurde von der Menge gemieden. Sein Gesicht war grau und eingefallen. Tiefe Sorgenfalten hatten seine Stirn gefurcht.
«Es tut mir Leid, Meister Sachs», sagte ihm Sibylla.
Sachs schüttelte müde den Kopf. «Nur Unglück hat mir dieser Kerl gebracht. Nur Kummer und Sorgen. Vom ersten Tag an. Alle Kunden hat er mir vertrieben. Ich weiß kaum noch, wovon ich Brot kaufen soll. Werde wohl die Stadt verlassen müssen. Wer wagt sich schon in ein Haus, in dem der Teufel zugange war?»
«Ihr seid ein gottesfürchtiger Mann, Meister Sachs. Die Leute wissen, dass Ihr nichts Unrechtes getan habt. Bald schon werden sie Euch wieder ihre Felle zum Gerben bringen.»
«Euer Wort in Gottes Ohr, Schierin. Doch ein neues Haus bräucht ich mindestens, um weiterleben zu können. Das Geld dafür fehlt mir.»
«Kommt morgen zu mir in die Krämergasse», schlug Sibylla vor. «Ich glaube, ich kann Euch helfen.»
Am nächsten Tag erschien Meister Sachs wie vereinbart nach dem Frühstück bei Sibylla. Sie ging mit ihm in die Meisterstube, weil sie nicht wollte, dass die Gesellen und anderen Angestellten im Haus ihr Gespräch verfolgten.
Meister Sachs wirkte noch immer bekümmert.
Sibylla bot ihm einen Becher Wein an, dann sagte sie: «Ich könnte Euch helfen, Sachs. Ihr habt immer gute Arbeit geleistet, wart immer freundlich und ehrlich.»
Sachs schaute Sibylla erwartungsvoll an.
«Ich kaufe Euch ein Haus mit neuer Werkstatt», sagte sie. «Die Besitzerin der Gerberei Sachs bin dann ich. Ihr gerbt allein meine Sachen, und ich zahle Euch einen Lohn dafür. Euern Sohn verheiratet Ihr mit Maria. Wenn Ihr nicht mehr seid, wird er die Werkstatt weiterführen.»
«Mein Sohn ist versprochen», entgegnete Sachs. «Er soll die Tochter des Färbers Wiedmann heiraten. Die Zunft hat schon Kenntnis davon, das Verlöbnis ist bekannt gemacht, der Junge soll die Färberei übernehmen. Froh bin ich, dass ich ihn untergebracht habe.»
«Hhhm», überlegte Sibylla. «Und wie sollte es mit Eurer Gerberei weitergehen?»
Sachs zuckte mit den Achseln. «Die Zünfte der Färber und Gerber liegen dicht beieinander. Es ist nicht unüblich, dass eine Färber- mit einer Gerberwerkstatt zusammengeht. So ist’s auch abgesprochen mit Wiedmann. Und ich gedenke mich an diese Abmachung zu halten.»
«Wollt Ihr dem Buben das Teufelshaus mit in die Ehe geben?», fragte Sibylla mit leisen Spott.
Sachs hob die Arme. «Ein anderes habe ich nicht. Und einen Käufer dafür werde ich auch nicht finden.»
Wieder überlegte Sibylla. Unvernünftig wäre es, Sachs noch weiter zu drängen. Ich muss mir etwas anderes überlegen, um in den Besitz einer Gerberei zu gelangen. Sachs ist ein Ehrenmann. Er soll nicht noch mehr Schaden haben.
«Wenn Ihr mir wirklich helfen wollt, Schierin, so habe ich da einen Einfall, der vielleicht etwas taugt», brachte sich Sachs wieder in Erinnerung. «Der Teufel, sagte man, hat keine Macht über ein Haus, in dem eine Jungfrau lebt. Wenn Ihr eine Jungfrau wüsstet, die ich in Ehren bei mir aufnehmen kann, so könnte ich die Werkstatt und das Haus halten.»
«Eine Jungfrau?», fragte Sibylla. «Woher soll ich eine Jungfrau nehmen?»
Sachs zuckte mit den Achseln. «Ich weiß es nicht, Schierin. Wüsste ich mir einen Rat, so hätte ich ihn längst befolgt.»
«Gut», erwiderte Sibylla. «Ich werde darüber nachdenken. Kommt morgen zu selben Zeit noch einmal. Vielleicht weiß ich dann, was zu tun ist.»
Unruhig lief Sibylla in der Meisterstube auf und ab. Woher sollte sie eine Jungfrau nehmen? Und überhaupt: Was nützte es ihr, wenn Sachs eine Jungfrau bekam? Deshalb hatte sie noch immer keine Gerberei, die sie ihr Eigen nennen und deren Preise sie bestimmen konnte. Auf der anderen Seite tat Sachs ihr Leid. Er hatte es wahrlich nicht verdient, unter Thomas leiden zu müssen. Sibylla hatte ihre Rache, hatte den Mann, der sie schänden wollte, bestraft. Doch Sachs hatte es auch getroffen. Sibylla fühlte sich verantwortlich. Sie würde Meister Sachs helfen. Das war sie ihm schuldig. Schuldig war sie es auch Gott, vor dem sie vor vielen Jahren einen Schwur getan hatte.
Den halben Tag lief sie nachdenklich in der Werkstatt auf und ab. Als die Dämmerung sich gerade über die Stadt senkte, wusste sie, was zu tun war.
Wieder hüllte sie sich in ihren Umhang und eilte die Krämergasse entlang. Meister Schulte saß noch bei der Arbeit, als sie in seinem Haus eintraf.
«Nach Susanne, der Stieftochter, wollt ich sehen und hören, wie sie sich macht», sagte Sibylla und hielt Ausschau nach dem Mädchen.
Schulte seufzte. «Was soll ich sagen, Meisterin. Sie ist Eure Stieftochter. Wäre sie es nicht, hätte ich sie längst davongejagt.»
Sibylla nickte. «Hat sie nichts gelernt bei Euch?»
Schulte schüttelte betrübt den Kopf. «Wie soll ich ihr etwas beibringen, wenn sie den ganzen Tag im Bett verbringt?»
«Faul ist sie also, Meister Schulte? Faul in der Werkstatt und auch im Haus?»
«Ja», bestätigte Schulte. «Wenn ich daran denke, dass mein Sohn sie zum Weib bekommen soll, dann bedaure ich den Jungen schon heute.»
Wieder nickte Sibylla. Sie wusste, dass Susanne ein faules, eitles Weibsstück war, das in dem Glauben lebte, zu Besserem geboren zu sein.
«Es ist an der Zeit, dass ihr jemand Gehorsam beibringt», überlegte Sibylla laut.
«Wie wäre es, wenn ich sie mitnehme und Euch stattdessen Maria schicke? Sie ist jung und von guter Wesensart, fleißig und anstellig. Ihr könntet sie gut in der Werkstatt gebrauchen, und auch für den Haushalt wäre gesorgt. Und Euer Sohn wäre auch besser beraten, sie zu heiraten als diese faule Trine von Stieftochter, die mir Schieren ins Haus gebracht hat.»
«Wir haben eine Abmachung, Meisterin», erwiderte Schulte. «Darin steht, dass mein Sohn Susanne heiraten muss. Fändet Ihr aber eine bessere Frau, so wären wir nicht unglücklich darüber.»
«Dann werde ich sie noch heute mitnehmen. Zeigt mir den Weg zu ihrer Kammer.»
Schulte tat, wie ihm geheißen, und Sibylla betrat ohne anzuklopfen die Kammer. Susanne lag im Bett, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und schrak zusammen, als sie ihre Stiefmutter plötzlich vor sich stehen sah. Doch sie fasste sich sofort und sagte frech: «Seid Ihr gekommen, um mich endlich aus dieser ärmlichen Hütte wegzuholen? Bestimmt habt Ihr Nachricht von meinem Vater, der es befohlen hat.»
«Pa!» Sibylla lachte auf. «Es gibt keine Nachricht von deinem Vater. Niemand hat seit seinem Weggang von ihm gehört. Froh und dankbar kannst du sein, wenn du ihn überhaupt jemals wiedersehen solltest. Du hast Recht, ich bin gekommen, dich zu holen.»
Susanne überlegte und kam rasch zu der Erkenntnis, dass ihrer jetzigen Bleibe eine noch üblere folgen würde, ginge sie mit ihrer Stiefmutter.
«Ich bleibe hier», verkündete sie trotzig. «Ich gehe nicht mit Euch.»
«Oh, doch, mein Kind», entgegnete Sibylla eisig, öffnete die Kleidertruhe und fuhr Susanne an: «Pack deine Sachen und ziehe dich an. Ich gebe dir nicht viel Zeit. Wenn ich mit Meister Schulte alles Notwendige besprochen habe, kehre ich zurück und nehme dich mit, egal, ob angezogen oder im Nachtgewand.»
Mit Meister Schulte wurde sich Sibylla schnell einig. Maria würde schon am nächsten Tag einziehen.
«Was wird aus Susanne?», fragte Meister Schulte.
Sibylla zuckte mit den Achseln: «Ich gebe sie zu Gerbermeister Sachs. Er ist ein gütiger, aber strenger Mann. Vielleicht schafft er es, dass etwas Rechtes aus ihr wird.»
Schulte bejahte. «Sie wird es gut haben bei ihm.» Damit war die Sache für ihn abgeschlossen.
Sibylla nickte, dann ging sie in Susannes Kammer. Das Mädchen war fertig angezogen und saß wartend auf der Kleidertruhe.
«Komm!», sagte Sibylla, fasste nach ihrer Hand und zog die Widerstrebende, die sofort erfahren wollte, was mit ihr geschehen würde, mit sich fort, ohne ihr eine Antwort zu geben.
Erst in ihrem Haus in der Krämergasse rief sie Susanne und Maria in die Meisterstube und teilte den Mädchen Folgendes mit:
«Du, Maria, wirst ab morgen im Hause des Meisters Schulte leben. Sein Lehrmädchen wirst du sein und eines Tages seinen Sohn heiraten. Ihr werdet eine gut gehende Werkstatt führen, die Euch zeitlebends genügend Geld einbringen wird, um ordentlich leben zu können. Sobald Schultes Sohn den Meisterbrief errungen hat, heiratet ihr, und du bekommst das Bürgerrecht. Was sagst du dazu?»
Maria wirkte verstört, aber nicht unglücklicher als sonst.
«Seid Ihr nicht zufrieden mit mir, Meisterin?», fragte sie nach.
«Doch, Maria, sehr sogar. Und gerade deshalb biete ich dir die Möglichkeit, eines Tages eine eigene Werkstatt und einen eigenen Haushalt zu führen. Du wirst einen guten Mann haben und vielleicht auch Kinder. Aber das Wichtigste: Du wirst eine ehrbare Frau sein.»
«Womit habe ich das verdient?», Maria konnte es kaum fassen. «Warum seid Ihr so gut zu mir?»
Weil ich weiß, woher du kommst, und weil ich die Möglichkeit habe, dir das Schicksal einer Wäscherin zu ersparen. Weil es mir selbst ähnlich gegangen ist und ich vor Gott einen Schwur getan habe, dachte Sibylla. Aber auch, weil du mir im Schulte-Haus noch gute Dienste leisten kannst. Doch laut sagte sie, ohne dabei zu lügen: «Ich habe dich lieb gewonnen, Maria. Lieb wie eine Schwester, die ich nicht habe. Ich möchte, dass es dir gut geht.»
Schon wieder kämpfte das empfindsame Mädchen mit den Tränen, doch an großartigen Dankesbezeigungen wurde sie von Susanne gehindert.
«Und ich? Was geschieht mit mir? Komme ich jetzt endlich in ein Kloster, um eine vornehme Erziehung zu genießen?»
«So ähnlich», antwortete Sibylla. «Ich habe tatsächlich beschlossen, aus dir einen Menschen zu machen, der etwas taugt. Doch nicht in einem Kloster, nein. Du gehst ab morgen zum Gerbermeister Sachs und wirst ihm als Magd dienen.»
«Niemals!», schrie Susanne und stampfte vor Wut mit dem Fuß auf. «Niemals gehe ich als Magd! Ihr wisst wohl nicht, wen Ihr vor Euch habt? Ich bin die Tochter eines Kürschnermeisters! Bin nicht zur Magd geboren.»
Sibylla zuckte gleichgültig mit den Achseln. «Du wirst es nicht verhindern können», entgegnete sie. «Dein Vater, der Kürschnermeister, ist nicht da, wie du weißt. Ich vertrete ihn in allen Angelegenheiten. Und wenn ich bestimme, dass du für einige Zeit als Magd zu Sachs gehst, so wirst du es wohl oder übel tun müssen. Vielleicht zeigst du dich anstellig, sodass ich dich eines Tages zu mir in die Werkstatt nehmen kann. Aber noch bist du dafür zu dumm und zu ungehorsam.»
Wieder stampfte das Mädchen mit dem Fuß auf: «Ich gehe nicht zu Sachs, nein!»
«Gut. Wie du willst. Ich habe dir die Möglichkeit gegeben, eines Tages die ehrbare Frau eines Handwerksmeisters zu werden. Du hast diese Gelegenheit nicht genutzt. Nun wirst du tun, was ich sage, oder aber versuchen, dich auf eigene Faust durchs Leben zu schlagen. Mach, was du willst.»
«Ich werde zu meinem Paten gehen. Ich werde mich beschweren!», kreischte Susanne.
«Tu das», antwortete Sibylla ruhig. «Doch mit deinem Paten, dem Zunftmeister Wachsmuth, habe ich bereits gesprochen. Auch er ist nicht gewillt, dich aufzunehmen. Er nicht, und die anderen Kürschnermeister auch nicht. Niemand möchte sich ein junges Weib ins Haus holen, das keinen roten Heller besitzt und obendrein noch dumm und faul ist. Froh kannst du sein, dass Sachs dich will. Er braucht eine Jungfrau im Haus, um den Teufel zu vertreiben. Ich denke, dafür bist du genau die Richtige.»
Jetzt, da Susanne merkte, dass es keine Rettung für sie gab, verlegte sie sich aufs Bitten.
«Stiefmutter, ich gelobe Besserung. Schickt mich zurück zu Schulte. Ich werde alles tun, was er sagt, werde fleißig und strebsam sein. Maria ist keine von uns. Ihr könnt sie doch nicht mir vorziehen.»
«Du hast die Gunst des Augenblicks nicht genutzt. Jetzt nimm, was du noch kriegen kannst. Wenn du dich übers Jahr gebessert hast, dann sehen wir weiter», erwiderte Sibylla unnachgiebig und beendete damit das Gespräch.
Schon am Mittag des nächsten Tages war der Tausch vollbracht. Meister Sachs nahm Susanne sofort mit, auch wenn das Mädchen sich dagegen wehrte.
Maria dagegen packte ihre wenigen Sachen und lächelte zum ersten Mal seit Monaten wieder, als Volker, Schultes Sohn, sie in ihr neues Zuhause geleitete.
Jetzt, nachdem alle Angelegenheiten zu Sibyllas Zufriedenheit gediehen waren, der kleine Christoph noch immer prächtig wuchs und gedieh und jedes Mal lächelte, wenn Sibylla ihm und der Amme einen Besuch abstattete, konnte sie sich wieder um ihre Geschäfte kümmern.
In der Kürschnerei lief dank Heinrichs alles wie am Schnürchen. Die Gesellen erledigten ihre Arbeiten pünktlich und ordentlich, und Pelzwaren aus dem Haus in der Krämergasse erfreuten sich nach wie vor des besten Rufes. Endlich kamen nun auch die Kunden, die Sibylla seit Jahren herbeisehnte. Die meisten der angesehenen Familien Frankfurts kauften inzwischen bei ihr und ließen sich auch die Wohnungen richten. Doch noch immer gab es einige wenige, deren Namen nicht auf ihrer Kundenliste auftauchten. Die reiche Kaufmannsfamilie Heller gehörte dazu, die Familien Stalburg und von Melem, die von Holzhausen und von Metzler. Doch diese, hieß es, ließen zumeist in Italien fertigen.
Ich muss die italienische Mode nach Frankfurt bringen, überlegte Sibylla und erinnerte sich wieder an die gefärbten Pelze, die auf der letzten Messe für Aufsehen gesorgt hatten.
Noch einmal ging sie in Gedanken alle Möglichkeiten der Färberei durch, die sie kannte. Da war zum Beispiel der rote Farbstoff, der aus dem Drüsensekret der Purpurschnecken gewonnen wurde. Doch für ein einziges Gramm benötigte man 12 000 Schnecken, darum war Purpur auch unglaublich teuer.
Eine andere Möglichkeit, rote Farbe aus Tieren herzustellen, bot der Kermesscharlach. Er wurde aus Schildläusen gewonnen, die im April und Mai von den Blättern gekratzt und anschließend getrocknet wurden. Aber jeder wusste, dass Kermesscharlach weitaus weniger kräftig färbte als Purpur.
Die Krappwurzel hingegen war ein gutes Färbemittel, wenn man sie trocknete, zerkleinerte und aufkochte. Doch auch sie färbte rot, und die Kleiderordnung verbot Rot für Schauben und Umhänge, denn das war noch immer die Farbe der Könige.
Außerdem waren die gefärbten Pelze aus Italien blau und grün gewesen. Sibylla holte noch einmal Lucias Brief hervor und erinnerte sich dabei wieder an die Waidpflanze. Sie hatte bei ihrem Aufenthalt auf dem Land vergessen, danach zu fragen, doch sie ahnte, dass sie aus der Wetterau keine Hilfe bekommen hätte.
Wer könnte etwas über die Waidpflanze wissen? Wer?
Sibylla überlegte, und plötzlich fiel ihr Ida ein. Ida, die Hausangestellte Isaak Koppers. Wenn jemand in Frankfurt etwas über diese geheimnisvolle Pflanze wusste, dann sie. Und bei Ida konnte sich Sibylla obendrein ganz sicher sein, dass sie nicht darüber schwatzte.
Doch sollte sie wirklich zu Kopper gehen? Sie musste damit rechnen, ihm zu begegnen. Oder, was vielleicht noch schlimmer war, seiner schwangeren Frau. Und was dann? Würde sie es ertragen, Kopper glücklich zu sehen? Würde sie es aushalten, zu erfahren, dass Isaak sie und die wunderbare einzige Nacht, die sie gemeinsam verbracht hatte, vergessen hatte?
Unentschlossen ging Sibylla zu Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf. Nach einer langen Zeit der Ruhe träumte sie wieder. Zuerst von der Wahrsagerin, die ihr einst, als sie Lucia kennen gelernt hatte, aus der Hand gelesen hatte.
«Die Liebe ist das Wichtigste im Leben. Wenn Ihr sie verschmäht, so verschmäht Ihr das Leben. Ohne sie werdet Ihr niemals heil werden. Sie ist es allein, die Euch helfen kann», hatte die Alte gesagt.
Sibylla hatte die Liebe verschmäht. Hatte sie damit auch die Möglichkeit verspielt, jemals glücklich zu werden?
Dann kam die tote Sibylla. Sie trug das Kostüm einer Krähe, hackte mit dem Schnabel nach ihr. «Du bist nicht wie ich, wirst niemals sein wie ich. Eine Diebin bist du, hast mir den Tod gestohlen, kannst auf Erden nicht glücklich sein.»
Doch dann tauchte die Wahrsagerin wieder auf und widersprach: «Die Liebe kann sie heilen, einzig die Liebe.»
Schweißgebadet erwachte Sibylla. Obwohl es noch nicht einmal dämmerte, stand sie auf und setzte sich in der Meisterstube über die Kontorbücher. Floh vor ihren Träumen, ihrem Geheimnis, das sie immer begleitete, wohin sie auch ging.
Zwei Tage lang überlegte sie, doch dann gewannen die geschäftlichen Interessen und ihre Neugierde.
Am Abend, nach vollbrachtem Tagwerk, machte sie sich auf den Weg in die Schäfergasse. Ihr Herz schlug rasend schnell, und Sibylla wusste nicht, welche Gebete sie im Gehen vor sich hin murmeln sollte: «Lieber Gott, mach, dass Isaak auf Reisen und nicht zu Hause ist» oder «Lieber Gott, mach, dass er da ist und ich ihn sehen kann»?
Viel zu rasch war sie vor dem Haus angelangt. Der Weg schien diesmal sehr viel kürzer als sonst. Vorsichtig schaute sie zu den Fenstern hinauf. Das Haus lag im Dunkeln, die Räume waren nicht erleuchtet.
Sibylla atmete auf, gleichzeitig wurde sie wehmütig. Er ist nicht da, dachte sie. Sie wusste nicht, ob sie froh oder traurig darüber sein sollte, doch sie beschloss, sich nicht länger Gedanken darum zu machen. Sie wollte zu Ida, wollte das Geheimnis der Waidpflanze lüften. Deshalb war sie hergekommen, und das allein zählte in diesem Augenblick. Ida würde da sein. Einer musste das Haus hüten. Wo sollte sie auch sonst sein?
Es war kalt, der eisige November war in einen noch kälteren Dezember übergegangen. Der Wind heulte durch die Gassen, löschte die wenigen Fackeln und zerrte an Sibyllas Umhang. Sie atmete noch einmal tief durch, dann betätigte sie den Türklopfer und lauschte, ob sich im Haus etwas rührte. Alles blieb still. Nur der Wind jammerte und heulte.
Noch einmal packte sie die Messingschlange und schlug sie, diesmal kräftiger, gegen den Beschlag an der Haustür. Endlich hörte sie Schritte. Schnelle, kraftvolle Schritte waren es, und noch ehe Sibylla begriff, dass sie nur von einem Mann stammen konnten, öffnete sich die Tür, und Isaak Kopper stand vor ihr.
«Sibylla? Du? Ist etwas passiert?», fragte er verwundert und trat einen Schritt zur Seite, sodass sie schnell an ihm vorbei in die wohlige Wärme des Hauses schlüpfen konnte.
«Es ist nichts passiert, Isaak. Und guten Abend auch. Ich möchte zu Ida, wollte sie etwas fragen.»
Isaak hob bedauernd die Achseln. «Ida hat Isabell ins Haus ihrer Eltern begleitet. Die Entbindung steht bevor, und Isabell wünscht sich den Beistand ihrer Mutter.»
«Ich verstehe», erwiderte Sibylla mit heiserer Stimme. «Dann habe ich wohl Pech gehabt und muss später noch einmal wiederkommen.»
«Es ist schön, dich zu sehen», murmelte Isaak so leise, dass Sibylla ihn kaum hören konnte. Dann sagte er laut: «Kann ich dir nicht helfen? Frag mich, was du Ida fragen wolltest.»
«Ach», winkte Sibylla ab. «Ich glaube nicht, dass du dich so gut in der Pflanzenwelt auskennst.»
Isaak lachte. «Was meinst du wohl, wie ein Arzt zu seinen Arzneimitteln kommt? Die meisten Heilmittel werden aus Pflanzen gewonnen. Ein schlechter Arzt wäre ich, kennte ich mich damit nicht aus.»
Behutsam nahm er ihr den Umhang von den Schultern und führte sie in das elegante Wohnzimmer, das noch genauso aussah, wie Lucia es eingerichtet hatte. Isabell hatte darin keine Spuren hinterlassen, und obwohl Sibylla dies merkwürdig fand, freute sie sich darüber. Hier hatte sie sich immer wohl gefühlt, tat es auch jetzt wieder.
«Leistest du mir bei einem Glas Glühwein Gesellschaft?», fragte Isaak Kopper und warf noch einige Holzscheite in den Kamin.
Sibylla nickte. Die Wärme im Zimmer machte sie schläfrig. Am liebsten wäre sie für alle Zeiten hier sitzen geblieben. Einfach nur in die lodernden Flammen sehen und keinen Gedanken an Geschäfte verschwenden. Wie schön das wäre.
Isaak war hinunter in die Küche gegangen, um den Wein zu bereiten. Jetzt kam er zurück, reichte Sibylla einen Becher und setzte sich neben sie auf die Bank. Sie trank einen Schluck. Das Getränk war köstlich, schmeckte nach Nelken und Zimt und wärmte ihren ganzen Körper. Sibylla genoss es, neben Isaak zu sitzen, seine Nähe zu spüren. Wieder überkam sie große Wehmut, als sie daran dachte, dass sie selbst die Möglichkeit, immer in Isaaks Nähe zu sein, verschenkt hatte. Doch geschehen war geschehen. Nichts ließ sich mehr rückgängig machen, und es war dumm, vertanen Gelegenheiten hinterherzutrauern.
Schweigend tranken sie die Becher leer.
«Was also wolltest du mich fragen?», erinnerte Isaak Sibylla an den Grund ihres Besuches.
Sibylla blickte ihn an. Seine maingrünen Augen sahen sie so intensiv an, dass sich Sibylla fragte, ob man mit Blicken streicheln konnte. Ein wohliger Schauer lief ihr den Rücken hinab.
«Ich habe zur Messe gefärbte Pelze aus Italien gesehen, und Lucia hat mir einen blauen Umhang geschickt und dazu geschrieben, er wäre mit Hilfe der Waidpflanze eingefärbt worden. Ich kenne diese Pflanze nicht, weiß nicht, woher ich ihr Pulver bekommen kann, wie man mit ihr färbt.»
«Ich kenne die Waidpflanze», sagte Isaak. «Sie kommt aus Thüringen. Der Waid gehört zur Familie der Kreuzblütler und ist in der Lebensdauer zweijährig. Der Farbstoff wird aus den Blättern der Pflanze gewonnen. Seine Herstellung ist sehr aufwändig und zeitraubend. Nach der Ernte werden die Blätter in einem Fluss oder Bach gewaschen und auf Wiesen zum Trocknen und Anwelken ausgebreitet.
Dann werden sie auf speziellen Mühlen zu einer breiartigen Masse zerrieben. Aus den zerquetschten Blättern formen Frauen von Hand ungefähr faustgroße Waidballen, die nach ihrer Trocknung von den Bauern auf den Markt in der Stadt gebracht werden. Der Ballenwaid stellt ein Halberzeugnis dar, das die Bauern nicht weiter aufbereiten dürfen, da auch in Thüringen das Gesetz gilt, dass Gewerke und Gewerbe nur in Städten betrieben werden dürfen.
Waidhändler kaufen den Ballenwaid und verarbeiten ihn in den Herbst- und Wintermonaten zu Farbpulver. Dazu werden die Waidballen zuerst mit Hämmern zerschlagen und dann mit großen Mengen heißen Wassers begossen. Dadurch beginnt unter starker Dampf- und Hitzeentwicklung ein Gärungsvorgang, der sich über mehrere Wochen hinzieht. In dessen Verlauf wird die Waidmasse mehrmals gewendet, zerkleinert sowie erneut aufgehäuft und mit Wasser befeuchtet. Entscheidend für die Färbekraft des erzeugten Pulvers ist die Einhaltung einer gleichbleibenden Wärme.
Der blaue Farbstoff wird erst während der Gärung sichtbar. Nach der Trocknung und Siebung wird das fertige Waid-Farbpulver, das wie Taubenmist aussieht, in Fässern aus Tannenholz verpackt.
Das Färben mit Waid ist ein schwieriger Vorgang, für den jeder Färber seine eigenen Rezepturen hat. Die Färbebrühe wird mit warmem Wasser in Kupfergefäßen angesetzt und enthält neben dem Waidpulver Zusätze von Kleie, Krapp und vor allem Pottasche. Krapp und Kleie fördern die Gärung, während die Pottasche der Vernichtung der bei der Gärung entstehenden Säuren dient. Abhängig von der Dosierung des Farbpulvers, von der Nutzungsdauer der Brühe und der Menge des zugefügten Krapps, werden mit Waid die Farben Schwarz, Blau, Braun und Grün erreicht.»
Sibylla lächelte. «Du hast mich überzeugt. Ich glaube dir nun, dass du dich bestens mit Pflanzen auskennst.»
Isaak lachte. «Verzeih mir, wenn ich wie ein Priester oder Schulmeister gesprochen habe.»
«Gibt es in Frankfurt einen Färber, der den Umgang mit der Waidpflanze kennt und auch das nötige Farbpulver hat?»
Isaak Kopper überlegte einen Augenblick, dann schüttelte er den Kopf. «Ich glaube nicht», sagte er. «Vor Jahren holte sich mancher das Pulver vom Niederrhein, doch die Farbe war wenig kraftvoll, also ließ man es bald wieder.»
«Das heißt also, dass es in Frankfurt kein Waidpulver gibt?», fragte Sibylla mutlos. «Womit soll ich dann meine Felle färben?»
Isaak Kopper war aufgestanden. Er reichte Sibylla seine Hand und forderte sie auf: «Komm mit!»
Gehorsam ließ Sibylla sich hochziehen, ging an Isaaks Hand die Treppe hinunter in seine Laborräume und sah zu, wie der Arzt in einem großen Schrank mit unzähligen kleinen Laden kramte.
«Hier ist es», murmelte er und holte ein Leinensäckchen von der Größe eines kleinen Stubenkissens hervor.
Er reichte es Sibylla, und sie las den kleinen Zettel, der am Zugband des Säckchens befestigt war: «Waidpulver.»
«Oh, Isaak!», entfuhr es ihr, und ehe sie sich’s versah, warf sie sich auch schon dankbar in seine Arme. Wie von selbst fanden ihre Lippen seinen Mund, ihr Atem verschmolz mit seinem, ihre Körper drängten sich aneinander und wurden zu einem Leib.
Es dauerte lange, bis sie sich wieder ihrer Umgebung bewusst wurden.
Zärtlich umfassten Isaaks Hände Sibyllas Gesicht. Leise sagte er: «Ich liebe dich noch immer, Sibylla. Obwohl ich es nicht will. Ich lebe mit Isabell und kann doch nur dich lieben. Gott verzeih mir.»
«Es ist besser, wenn ich jetzt gehe», erwiderte Sibylla, doch das Zittern ihres Körpers, ihr verlangender Blick straften ihre Worte Lügen.
Isaak räusperte sich, ließ Sibylla los und trat einen Schritt zurück. Seine Miene war ernst.
«Ja, es ist wohl besser, wenn du gehst», wiederholte er Sibyllas Worte. «Nimm das Waidpulver mit und versuche, die Pelze zu färben.»
Noch einmal tauschten sie einen Blick, in dem alles geschrieben stand, was sie einander niemals gesagt hatten. Dann flüchtete Sibylla aus dem Keller, eilte in die Diele, riss ihren Umhang vom Haken und stürmte in die kalte Winternacht hinaus, in der Hoffnung, dass diese ihr das heiße Blut kühlen würde.