Kapitel 11
Kopper behielt Recht. Jochen ging es von Tag zu Tag besser. Zwei Wochen noch lag er im Bett, doch dann stand er auf, zuerst nur für kurze Zeit, doch bald schon saß er wieder für ein, zwei Stunden in der Werkstatt und arbeitete an der Schaube für den Patrizier Rorbach. Wenn alles gut ging, würde der Mantel tatsächlich im September fertig sein.
Ein Monat blieb noch bis dahin.
Die Sonne schien mit ganzer Kraft vom Himmel. Die Luft war schwül und drückend, sodass Sibylla durchgeschwitzt war, als sie vom Besuch bei einer Kundin zurückkam.
Sie war froh über die große Kundschaft, die nicht nur Pelzwerk kaufte, sondern auch ihre Beratung suchte. Aber noch waren es nicht die Kunden, die sie sich heimlich wünschte. Noch kamen nur Handwerker, Krämer, kleine Kaufleute, Ärzte und Juristen zu ihnen. Die reichen Familien, die Zunftoberen, der Adel und Klerus, die großen Kaufleute und all die anderen, die in der Stadt etwas zu sagen hatten, die über Einfluss und Macht verfügten, fanden den Weg zum Hause Theiler noch nicht.
Wenn erst Rorbach ein Stück mit der eingestickten Sonne trägt, wird sich alles ändern, dachte Sibylla. Wenn er uns empfiehlt, wird Jochen eines Tages Zunftmeister werden und in den Rat der Stadt einziehen. Aber noch war es nicht so weit. Zunächst musste die Herbstmesse vorbereitet werden.
Sibylla seufzte und lief langsam die Schnurrgasse hinauf. Um einen Stand brauchten sie sich nicht mehr zu kümmern; ihr alter Platz in der Krämergasse war bestellt, ein Regendach dazu. Doch Sibylla selbst konnte nicht dort sein. Jochen war noch zu schwach, konnte noch nicht auf den Rauchwarenauktionen sitzen und Felle einkaufen. Sie würde das erledigen. Und Heinrich und Katharina würden abwechselnd den Stand betreuen.
Sibylla genoss die Stimmung auf der Rauchwarenmesse. In der Mitte der Halle war ein großer Tisch, auf dem die Ware lag. Die Rauchwarenhändler zeigten die einzelnen Partien hoch, beschrieben Herkunft, Qualität und – soweit geschehen – die Gerbung, machten ein Anfangsgebot und warteten auf die Reaktion der umstehenden Kürschner, Gerber und Wiederverkäufer.
«Beste Ware, beste Gerbung», schrie der Händler, ein zierlicher Mann aus Lübeck mit überraschend kräftiger Stimme, der Pelze aus den Nordlanden anbot.
«Zweionddreißig Gulden», rief ein Abgesandter der Leipziger Kürschnerzunft, an seiner Sprache gut zu erkennen.
«Fünfunddreißig Gulden», brüllte ein Kölner Rauchwarenhändler.
Sibylla stand zwischen den Männern und suchte mit den Augen nach Santorin, einem Fernkaufmann aus Kiel, bei dem Jochen manchmal gekauft hatte. Als sie ihn nirgends entdecken konnte, fragte sie ihren Nebenmann.
«Habt Ihr Santorin aus Kiel schon gesehen?»
Der Mann nickte und lachte ein wenig hämisch. «Gesehen habe ich ihn nicht, doch gehört, er soll in der Weinstube sitzen.»
«In der Weinstube? Während der Auktion?»
«Ja. Er hat allen Grund zum Saufen. Seine Ware ist nicht hier, liegt vor Kassel fest.»
«Wieso das?»
Der Mann beugte sich zu Sibylla und raunte ihr ins Ohr: «Man sagt, einer der Kolonnenführer hätte den schwarzen Tod. Alle Wagen aus Kiel liegen fest, dürfen nicht weiter, um die Pest fern zu halten.»
Sibylla dankte für die Auskunft und nickte. Dann drehte sie sich entschlossen um und ging in die Weinstube.
Der Fremde hatte Recht gehabt. Santorin saß in einer Ecke, einen Becher vor sich, und blickte trübsinnig auf die Tischplatte.
«Gott zum Gruß, Santorin. Darf ich mich zu Euch setzen?», fragte Sibylla und sah sich aufmerksam in der Wirtschaft um. Es war nicht üblich, dass Frauen ohne Begleitung und noch dazu am hellen Tag in eine Weinstube gingen. Und unziemlich war es, sich obendrein an den Tisch eines fremden Mannes zu setzen. Doch Sibylla sah niemanden, den sie kannte.
«Setzt Euch, Theilerin, und trinkt mit mir», erwiderte Santorin missmutig.
Der Wirt brachte noch einen Krug mit Apfelwein und einen Becher. Als sie getrunken hatten, begann Sibylla das Gespräch.
«Ihr habt Pech gehabt, hörte ich. Eure Ware liegt vor Kassel. Es tut mir Leid für Euch, dass es deswegen mit den Geschäften nicht klappt.»
«Ja», nickte Santorin. «Ein gottverfluchtes Pech, das kann man wohl sagen. Es wird noch dauern, ehe die Ware frei wird und ich sie verkaufen kann. Wie soll ich aber die Bestellungen der Kieler Handwerker jetzt auf der Frankfurter Messe besorgen, wenn ich kein Geld habe? Mit leeren Fässern werde ich nach Kiel zurückkehren müssen und meine Kunden verlieren.»
Santorin schnaufte und trank einen neuen Becher in hastigen Zügen leer.
«Habt Ihr keine Kreditgeber in der Stadt?», fragte Sibylla.
Santorin lachte bitter auf. «Kreditgeber, ha! Halsabschneider sind das. Für einen Kredit braucht man eine Sicherheit. Und Rauchwaren, die mit dem schwarzen Tod in Verbindung gebracht sind, eignen sich nicht als Sicherheit. Nichts habe ich, Theilerin, gar nichts.»
Sibylla sah Santorin mitleidig an. «Die Zeiten sind hart, Santorin, wem sagt Ihr das. Doch erzählt, wie viel Rauchwaren sind Euch verloren gegangen?»
Santorin winkte ab. «Zwei Wagenladungen. Eine mit Edelpelzen aus den Nordländern. Seehund und Bär, Zobel und Hermelin. Die andere mit einheimischen Fellen wie Marder, Waschbär, Fuchs und Feh.»
«Sind die Pelze gut verpackt?», fragte Sibylla.
Santorin nickte. «Natürlich. In Fässern stecken sie, die mit Pech verschmiert sind, um sie vor Wettereinflüssen zu schützen. Doch wenn sie noch lange in den Fässern liegen, dann werden sie muffig und glanzlos.»
«Ein großer Verlust für Euch», stimmte Sibylla zu.
Die beiden schwiegen eine Weile. Sibylla, weil sie nachdachte, und Santorin, weil er erneut in Trübsinn versank.
«Wie viele Gulden hattet Ihr von den beiden Wagenladungen erhofft?», fragte Sibylla schließlich und legte Santorin tröstend eine Hand auf den Arm.
«An die 200 wohl. Vielleicht etwas mehr, vielleicht etwas weniger. Die Konkurrenz ist stark vertreten diesmal. Die Sachsen holen auf, und wenn wir nicht aufpassen, wird der Mittelpunkt der Rauchwarenherstellung bald in Leipzig liegen.»
«Santorin, ich zahle Euch die Hälfte, genau 100 Gulden, sofort, wenn Ihr mir die beiden Wagen überlasst», sagte Sibylla mit leicht gepresster Stimme. 100 Gulden waren eine gewaltige Summe Geld. Beinahe alles, was die Kürschnerei Theiler an Barem besaß. Aber sie musste das Wagnis eingehen. Solch eine gute Gelegenheit ergab sich nie wieder.
Santorin sah überrascht hoch. Sein Gesicht wirkte plötzlich hellwach. «100 Gulden?», hakte er nach «Das ist zu wenig. Damit decke ich gerade meine Kosten. Ein schlechtes Geschäft.»
«Gut, Santorin», entgegnete Sibylla. «Ihr müsst ja nicht verkaufen, und ich muss auch nicht kaufen.»
Sie stand auf und wandte sich zum Gehen.
«Wartet, Theilerin. 100 Gulden sagt Ihr?»
Sibylla nickte.
«Legt noch 20 Gulden drauf, dann ist die Ware Euer.»
«10 Gulden, keinen Heller mehr.»
«Abgemacht.»
Santorin reichte Sibylla die Hand, und Sibylla schlug ein.
«Kommt am Abend in die Trierische Gasse und holt Euer Geld. Ich erwarte Euch nach dem Abendläuten», schloss Sibylla das Geschäft ab, und Santorin nickte. Sie lächelte, drehte sich um und verließ die Weinstube.
Draußen atmete sie noch ein paar Mal kräftig ein und aus. Das Geschäft war ein Wagnis. Zwei Wagenladungen Pelze! Sie würden Jahre brauchen, um sie zu verarbeiten. Doch der Preis dafür war atemberaubend günstig. Nein, Jochen konnte nichts dagegen haben. Santorin war ein ehrlicher Kaufmann. Er war für gute Ware zu einem anständigen Preis bekannt. Sibylla hatte noch nie gehört, dass jemand etwas Schlechtes über den Kieler geäußert hatte.
Langsam ging sie durch die belebten Gassen der Altstadt, in denen das Messegetümmel seinen Höhepunkt erreicht hatte.
Sie machte noch ein paar kleinere Geschäfte, tauschte hier einen Marderumhang gegen Mailänder Samt, dort einige Gürtel gegen Spezereien, Decken aus Kanin gegen Augsburger Tuch, Spielzeugtierchen gegen Hirschhornknöpfe und Schnallen.
Es war schon später Nachmittag, als sie in die Gasse der Buchdrucker gelangte. Gemächlich ging sie von Stand zu Stand, betrachtete dort ein Buch in lateinischer Schrift, da ein paar Holzschnitte. Sie blieb stehen und lauschte den Philosophen und Gelehrten, die über die Frage nach der Gestalt der Erde in ein Streitgespräch ausgebrochen waren, kaufte einem Dominikanermönch ein Traktat ab, las in einem Flugblatt einen Text gegen den Ablasshandel und machte schließlich neben einem Stand halt, an dem ein junger Maler Skizzen mit Kohle auf Papier zeichnete.
Eben bildete er einen Buchhändler ab, der auf einem Schemel saß und versunken in einer Handschrift blätterte.
Sibylla bewunderte den Schwung der Falten, die er am Umhang zeichnete.
«Eure Arbeit gefällt mir», sprach sie den jungen Mann an.
«Vielen Dank auch, Herrin», entgegnete dieser und betrachtete sie von oben bis unten. «Habt Ihr nicht Lust, eine Zeichnung von Euch anfertigen zu lassen?»
Sibylla lachte. «Nein, nein, Eitelkeit ist eine Todsünde, wie Ihr wohl wisst.»
«Das ist wahr», erwiderte er mit einem verschmitzten Lächeln. «Aber ist es nicht auch die Pflicht, Schönheit festzuhalten und auf Papier zu bannen?»
«Schönheit festhalten und auf Papier bannen», sprach Sibylla nachdenklich seine Worte nach.
«Ihr habt Recht», antwortete sie ihm schließlich. «Bestimmte Dinge lohnen es, festgehalten zu werden. Wann habt Ihr Zeit?»
Der junge Mann ließ das Blatt sinken. «Wenn Ihr wollt, jetzt gleich. Ich habe mir mit dieser Zeichnung nur die Zeit vertrieben. Nehmt also Platz, dann können wir beginnen.»
«Nein», widersprach Sibylla. «Ihr sollt nicht mich zeichnen. Wir werden zusammen durch die Gassen gehen, und ich zeige Euch Kleider, deren Schnitt Ihr mir aufmalen sollt. Könnt Ihr das?»
Der junge Maler zuckte mit den Schultern. «Natürlich, aber zu welchem Zwecke?»
«Das lasst meine Sorge sein. Ihr werdet schließlich dafür bezahlt.»
Eine Woche war die Herbstmesse vorbei, die Frankfurter trafen sich zur Dippemess auf dem Römer, und Sibylla saß mit Jochen in der Meisterstube über den Büchern.
«Die Messe war ein großer Erfolg für uns», sagte Sibylla. «Wir haben sowohl gut eingekauft als auch gut verkauft, sind im Besitz neuer Ware, die wir in einigen Wochen sicher aus Kassel kommen lassen können, wenn bis dahin die Pest verschwunden sein wird.»
Jochen nickte. Er war mit Sibyllas Einkäufen zufrieden gewesen, doch ihm fehlte die Kraft, sich darüber zu freuen. Er war noch immer schwach und schaffte es nicht, den ganzen Tag über zu arbeiten. Schweißausbrüche überfielen ihn tags und nachts, er ermüdete noch immer leicht, und auch sein Appetit war bisher nicht vollständig zurückgekehrt.
«Aber am meisten freue ich mich über unser Musterbuch», sprach Sibylla weiter und strich liebevoll über den braunen Leineneinband eines Folianten, in dem sich viele Zeichnungen von Schnitten nach der neuesten Mode befanden. Der junge Maler hatte ein Gespür für Farben und Formen mitgebracht, dass dem von Sibylla in nichts nachstand. Gemeinsam hatten sie die Kleider der Messfremden betrachtet, und Lukas hatte eine Zeichnung nach der anderen gemacht.
Auch jetzt, nach der Messe, beschäftigte die Kürschnerei Theiler den jungen Maler weiter. Im Moment arbeitete er an einem Musterbuch für die Einrichung von Wohnräumen und zeichnete zwischendrin immer wieder neue Schnitte von Pelzen und Kleidern, die Sibylla eingefallen waren oder die Lucia in ihren regelmäßigen Briefen beschrieb.
«Dein Musterbuch, ja», entgegnete Jochen. «Deine Entwürfe sollen für die Ewigkeit erhalten bleiben. In einem Buch. Aber was ist mit uns?»
«Wie? Mit uns? Was meinst du damit?», fragte Sibylla.
Jochen holte hörbar Luft, dann sagte er: «Sibylla, ich denke, es ist an der Zeit für Kinder.»
«Warum?», fragte Sibylla.
«Weil Kinder unser Schicksal sind, darum. Weil sie bleiben, wenn wir lange schon gegangen sind.»
«Schicksal!» Sibylla lachte bitter auf. In ihr zog sich alles zusammen.
«Wählen wir das Schicksal, oder wählt es uns?», fragte sie, stand auf, ohne eine Antwort abzuwarten, und lief aus der Meisterstube, eilte die Treppen hinunter, verließ das Haus und rannte durch die Gassen, als wäre sie auf der Flucht.
Sie lief, immer schneller, blicklos für die Menschen, die sie traf, grußlos für Bekannte, die ihr verwundert nachsahen. Sie spürte ein Stechen in der Brust, doch sie kümmerte sich nicht darum. Sibylla rannte einfach weiter, bis der Main ihrem Lauf ein jähes Ende bereitete. Atemlos stand sie da und hielt sich die schmerzenden Rippen.
Wählen wir das Schicksal, oder wählt es uns?, dachte sie wieder und ließ sich auf einen großen Stein am Ufer sinken. Sie betrachtete den Fluss, der träge vorüberfloss, so, wie es seine Aufgabe war.
Am Anfang hatte ihr das Schicksal einen Platz als Wäscherin zugewiesen. Dann hatte es Sibylla Wöhler sterben lassen. Und dann war sie gekommen, hatte ihr Los selbst gewählt und sich an Sibyllas Platz gestellt. Unfähig jedoch, an diesem glücklich zu sein.
Ich muss wieder wählen, überlegte Sibylla. Wenn man einmal angefangen hat, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen, dann gibt es keine höhere Gewalt mehr. Schicksal und Eigenverantwortung schließen einander aus. Und deshalb war sie nun bis zu ihrem Lebensende dazu gezwungen, für sich allein zu entscheiden. Sie hatte kein Schicksal mehr.
Ich bin ich. Bin nicht die Wöhlertochter, und mein Leben verläuft nicht so, wie es ihr bereits vorgezeichnet war. Auch wenn sie nicht loslassen will, einmal muss sie mich gehen lassen. Einmal wird sie merken, dass es nichts mehr gibt, was uns verbindet, dachte sie und fühlte sich erleichtert.
Aber diese Erkenntnis musste noch bis zu ihrer Seele vordringen. Erst dann würde sie nachts nicht mehr von der Anderen träumen.
Sibylla stieß einen tiefen Seufzer aus. Zwei schwarze Vögel zogen am Himmel ihre Kreise. Sie kamen immer näher. Es wären Krähen. Sibylla sah genauer hin und erblickte ein winziges Kätzchen, das mit seinen ungeschickten Pfoten nach einigen Grashalmen schlug und nichts von der Gefahr ahnte, in der es sich befand.
Plötzlich stieß eine der Krähen nieder, landete schwer auf dem zarten Körper, ihr spitzer schwarzer Schnabel hackte auf das Köpfchen ein. Die Katze schrie und wollte weglaufen, doch die Krähe hatte sich auf das kleine Tier gesetzt, sich im Fell festgekrallt und hackte weiter auf es ein. Nun stieß auch der andere Vogel herab, sein Schnabel zielte in die Augen der Katze.
Sibylla saß wie erstarrt.
«Nein», flüsterte sie. «Oh, mein Gott, nein!»
Sie fühlte die Schnabelhiebe, als träfen sie ihren Körper. Das Gekrächze kam ihr wie ein höhnisches Gelächter vor.
Sie wollte hinlaufen, das Kätzchen retten, doch ihre Angst vor den Krähen lähmte ihre Glieder.
Die kleine Katze versuchte mit den Pfoten nach dem Riesenvogel zu schlagen, doch sie brach unter dem Gewicht der anderen Krähe auf ihrem Rücken zusammen, schrie nicht mehr, wimmerte bloß leise und hatte die Augen geschlossen, als wartete sie nur noch auf ihren Tod. Sibylla erschauerte.
Nein, die kleine Katze war ihrem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert. Sibylla war da, um sie zu retten.
Ihre Erstarrung ließ nach, und plötzlich konnte sie sich erheben, nach einem Knüppel greifen und zu dem Kätzchen stürzen. Eine der Krähen wandte den Kopf in Sibyllas Richtung und stieß drohende Laute aus. Die Vögel waren nicht bereit, ihre Beute herzugeben, freuten sich schon auf das zarte Fleisch des kleinen Tieres. Sibylla sah, dass das Kätzchen zitterte, sah das Blut, das ihm aus der linken Augenhöhle floss, und dass die andere Krähe immer wieder nach dem noch vorhandenen Auge hackte.
Sibylla schwang drohend den Knüppel, doch die Gier der schwarzen Vögel war größer als die Angst vor dem Tod. Wenn ich die Krähen treffe, treffe ich auch Sibylla, dachte sie, schloss die Augen und holte mit aller Kraft aus.
Sie spürte den Knüppel zu Boden krachen, hörte das Zerbrechen von Knochen und den kreischenden Schrei des anderen Vogels. Langsam öffnete sie die Augen. Vor ihr auf dem Boden lag die Krähe, die mit dem Schnabel nach den Augen des Kätzchens gestoßen hatte. Sibylla hob erneut den Knüppel und ließ ihn auf den Krähenkopf krachen, der unter der Wucht des Schlages aufsprang wie eine Nussschale. Blut spritzte, Knochen knackten, das leise Gekrächz verstummte, doch Sibylla konnte nicht aufhören, auf die Krähe einzuschlagen. Immer wieder schwang sie den Knüppel, bis ihr Arm erlahmte. Erschöpft hielt sie inne, sah die Reste, die einmal eine Krähe gewesen waren, das Blut und die Knochenstücke, die ringsum verteilt waren.
Dann erst ließ sie den Knüppel fallen, rang nach Atem und brachte schließlich keuchend einen Satz hervor: «Jetzt habe ich Ruhe vor dir.»
Sie drehte den Vogelresten den Rücken zu, hockte sich nieder und hob das zitternde Katzenkörperchen hoch. Sie spürte seinen Herzschlag und drückte das kleine Tier behutsam an ihre Brust, steichelte es, um es zu beruhigen. Dann lief sie langsam den Weg am Main entlang, hielt das Kätzchen wie einen Säugling und sprach beruhigende Kinderworte. Sie fühlte sich erleichtert. Jetzt hatte sie sich von Sibylla befreit, jetzt konnte sie Kinder mit Jochen haben.
Am Hafen, der unterhalb des Römers lag, herrschte rege Betriebsamkeit. Doch irgendetwas war anders als sonst. Sibylla blieb stehen, noch immer das Kätzchen streichelnd, und versuchte herauszufinden, was passiert war.
Schiffer und Hafenknechte liefen herum und warfen einander Worte zu. Nicht ein Fass wurde über eine hölzerne Rampe von den Frachtschiffen an Land gerollt. Das Lachen fehlte, die Rufe der Männer waren von Sorge und Entsetzen geprägt.
«Was ist passiert?», fragte sie einen Schiffsjungen, der mit schreckstarrem Gesicht an ihr vorbeirannte.
«Die Pest», schrie der Junge. «Die Pest ist in der Stadt.»