Kapitel 2
Es war schon dunkel, als Martha an diesem Abend nach Hause ging. Das Wöhler’sche Haus lag in der Altstadt, dort, wo die Häuser der gehobenen Handwerkerschaft, der Goldschmiede, Feinbäcker, Seidensticker, der Hutmacher, Glaser, Maler und Apotheker lagen. Sie selbst wohnte in der Neustadt zwischen Tagelöhnern, Packträgern, Besenbindern, Flickschustern und anderen Waschfrauen. Die meisten Häuser in ihrem Viertel verdienten den Namen nicht. Es waren Katen, die sich eng an die Ränder der morastigen Gassen kauerten und in denen Mensch und Tier, meist sogar in einem Raum, Platz finden mussten.
Die niedrige, strohgedeckte Kate, in der Martha eine winzige Kammer bewohnte, diente im Erdgeschoss einer sechsköpfigen Besenbinderfamilie als Küche, Wohn- und Schlafraum gleichzeitig. Nachts und im Winter kamen noch die Hühner und ein mageres Schwein dazu. Ratten huschten lautlos über den Boden, Fliegen und anderes Ungeziefer schwirrten durch die stickige Luft des Raumes.
Über eine schmale, wackelige Stiege, die eher einer Hühnerleiter glich, gelangte Martha zu ihrer Kammer. Sie seufzte, denn das Hochsteigen bereitete ihr nach dem langen Tag Mühe und Schmerzen.
Der Arzt war erst am Nachmittag zum Wöhler’schen Haus gekommen und hatte, nachdem er nur einen flüchtigen Blick auf den Meister geworfen hatte, den Totenschein ausgestellt. Danach war der jüngere Geselle zum Sargtischler gelaufen, der Ältere hatte der Zunft Bescheid gegeben, und die Magd war gegangen, die Leichenwäscherin zu holen. Martha aber hatte sich freiwillig erboten, den Brief an das Kloster Engelthal, den der Junggeselle geschrieben und laut vorgelesen hatte und der Sibylla vom Ableben ihres Vaters in Kenntnis setzte, einem Boten zu übergeben.
Es war ihr nicht wohl dabei, denn sie allein wusste, dass der Brief überflüssig war. Doch der Gedanke, der ihr mitten auf der Straße im Menschengewühl gekommen war, hatte sich in ihr festgesetzt. So trug sie sowohl den Brief vom Kloster als auch den zweiten Brief an Sibylla in ihrer Kitteltasche mit sich herum.
Es hat ja keine Eile damit, hatte sie sich getröstet, die beiden waren schließlich tot. Ob die Nachrichten einen Tag früher oder später ankamen, machte nichts aus.
Schwer ließ sie sich auf einen hölzernen Schemel fallen, stützte beide Ellbogen auf den wackeligen Holztisch und vergrub das Gesicht in den Händen.
Der Mond schien silbrig und kalt durch einen Riss in der mit Lumpen verhängten Dachluke, die die Nachtfröste nur ungenügend abhalten konnten, doch Martha bemerkte es nicht. Sie hörte auch das Rascheln der Mäuse nicht, mit denen sie ihr Strohlager teilte.
Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem tollkühnen Einfall vom Mittag.
Nein, dachte sie, nein, es war ganz und gar unmöglich, auch nur daran zu denken, Luisa als Sibylla in das Kürschnerhaus zu schicken. Betrug wäre es, der schlimmste Betrug, der sich denken ließ. So schlimm, dass er sie beide auf den Scheiterhaufen oder an den Galgen brächte, käme er heraus. Und danach wäre ihnen das ewige Fegefeuer gewiss. Gott hatte sie an den Platz gestellt, der ihnen gebührte. Und ein Mensch sollte daran nicht rütteln. Sie durfte nicht weiter darüber nachdenken, sondern sollte endlich aufstehen, sich ausziehen, schlafen legen und morgen früh als Erstes in die Kirche gehen, um ihre sündigen Gedanken zu beichten und Vergebung dafür zu erbitten.
Doch Martha stand nicht auf. Sie blieb sitzen, und auch die Gedanken ließen sich nicht verscheuchen. Ich werde sicher bald sterben, dachte sie, ich sehe es an meinen Händen, die denen von Toten fast gleichen, wären die schwärenden Wunden nicht. Eiter und aufgequollenes, zuckendes Fleisch die einzigen Anzeichen von Leben, dass sie noch einer Lebenden gehörten.
Und Luisa? Wie lange würde sie in dem Feldsiechenhaus überleben? Gab es ein trostloseres Leben als das einer Wäscherin im Feldsiechenhaus?
«Aber es ist ein ehrliches Leben!»
Martha hatte nicht bemerkt, dass sie laut gesprochen hatte.
«Ein ehrliches Leben, ja!», murmelte sie, wieder leiser werdend. «Doch wem nützt die Ehrlichkeit? Wird der belohnt, der am ehrlichsten ist? Wird man so Handwerksmeister? Meisterstochter?»
Sie hob den Kopf, starrte vor sich und fuhr, ohne es zu merken, mit dem Finger über die Astlöcher in der Tischplatte.
«Dem Ehrlichen gebührt das Himmelreich. Aber warum muss er dafür auf Erden durch die Hölle gehen? Ist das Gottes Gerechtigkeit? Eine Gerechtigkeit, die denen den besten Platz im Paradies verspricht, die den Himmel schon auf Erden und Geld für die Stiftung von Altären haben?»
Sie dachte dabei an Luisas Vater, einen heute angesehenen Handwerksmeister, der sie damals so schmählich und in Schande hatte sitzen lassen und sich niemals auch nur mit einem Wort nach seiner Tochter erkundigt hatte, geschweige denn, das Seine zu tun, damit wenigstens Luisa das harte Leben einer Wäscherin erspart bliebe. Und sie dachte dabei an den Ruf, der ihrer Berufsgruppe vorauseilte. Viele Bürger machten die Wäscherinnen für die zahlreichen Pestepidemien in den letzten Jahren, die Hunderte von Todesopfern gefordert hatten, verantwortlich. Jedes Stück, das sie berührt hatten, selbst das Wasser, hätte die Pest in die anderen Häuser gebracht, sagte man. Und während der letzten Seuche hatten sogar die Kinder auf der Gasse den Frauen in den Waschkitteln «Pest-Marie» nachgerufen und waren davongelaufen, als wäre der leibhaftige Teufel hinter ihnen her.
Sie schüttelte den Kopf. Wenn es einen gerechten Gott im Himmel gab, dann konnte er nicht wollen, dass Luisa vor die Hunde ging. Um mich ist es nicht schade, dachte Martha, aber Luisa, die sich schon vor ihrer Geburt gegen das Sterben gewehrt hat, soll leben. Von ganzem Herzen wünsche ich ihr das Leben einer Kürschnerstochter. Einer Frau, die die Bürgerrechte besitzt, die einen Mann ehelichen und Kinder bekommen kann. Die ehrbar und anständig ist, einen guten Ruf hat, die niemals hungern und frieren muss und der keiner auf der Straße Hohn- und Spottworte nachruft.
Mit Freuden sterben würde ich, könnte ich Luisa damit helfen. Sollen sie mich doch hängen, vierteilen, teeren, verbrennen. Oder häuten.
Martha schaute auf ihre Hände, von denen sich die Haut in Fetzen löste. Häuten, ja. Den ganzen Körper statt nur der Hände. Was war das schon für ein Unterschied? Sollen sie mich doch auf einen Bock schnallen, mir mit scharfen Messern die Unterschenkel aufschneiden und mir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen. Davor habe ich keine Angst mehr.
Aber Luisa soll leben. Sie soll es besser haben als ich. Mein Gott, ich bin bereit, alles dafür zu tun.
Habe ich sie nicht in dieses Leben hineingeboren? Bin ich es nicht, die nun dafür sorgen muss, dass das Elend ein Ende hat?
Martha starrte verzweifelt auf die Wand, auf die der Mond gespenstische Schatten malte.
Und wenn ich alles nur noch schlimmer mache? Wenn ich auch Luisas Platz im Himmel verwirke? Ich mache doch auch sie zur Betrügerin.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Verzweifelt rang Martha die Hände und betete:
«Lieber Gott, bitte sag du mir, was ich tun soll.»
Wenn Gott aber nun schon gesprochen hatte? Wenn er es war, der ihr diesen Einfall geschickt hatte, um Luisa die Gelegenheit zu geben, ein ehrbares Leben zu führen? War er es nicht, der die beiden Mädchen einander zum Verwechseln ähnlich gemacht hatte? Und war er nicht auch dafür verantwortlich, dass Luisa so anders als die anderen Wäscherinnen war? So, als würde er zeigen wollen, dass sie nicht dorthin gehörte?
Die Glocken der nahen Kirche verkündeten Mitternacht, als Martha ein Satz einfiel, den sie kürzlich in einem Gottesdienst gehört hatte: «Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden.»
Ja, dachte Martha, Gott ist ein Gott der Lebenden, und wenn wir es ihm nachtun wollen, so müssen wir uns um die Lebenden kümmern, nicht um die Toten. Wem schadet es, wenn aus Luisa Sibylla wird? Wer wird dabei betrogen?
Mit einer energischen Handbewegung strich sie sich die Haare aus der Stirn, als wolle sie alle Zweifel tilgen.
«Ist es nicht eher so, dass das Leben Luisa betrogen hat? Sie ist keine Wäscherin, ist nicht wie die anderen. War es niemals und wird es niemals sein. Keine Frau ist von Anbeginn Wäscherin mit schlechtem Ruf. Die anderen machen sie dazu. Und Gott allein weiß, warum das so ist», sagte Martha mit leiser, aber fester Stimme. «Wir fügen niemandem einen Schaden zu. Und wer weiß, ob Luisa als Sibylla nicht glücklich werden wird?»
Entschlossen holte sie die beiden Briefe aus ihrer Kitteltasche, nahm sie in die Hand, brachte das billige Talglicht zum Brennen, entzündete daran das Papier und ließ die brennenden Fetzen in eine tönerne Schüssel fallen, wo sie zu weißer Asche zerfielen.
Drei Tage blieben noch bis zur Beerdigung des Kürschnermeisters Wöhler. Drei Tage, um aus der Wäscherin Luisa die Meisterstochter und Klosterschülerin Sibylla zu machen, die aus Engelthal zurückgekehrt war, um ihr Erbe anzutreten.
Martha nahm sich einen freien Tag und wanderte am Taunus entlang nach Hofheim ins Feldsiechenhaus. Sie brauchte nicht lange, um ihre Tochter für ihren Einfall zu gewinnen. Wenigstens Luisas Lebenshunger hatte bei den Siechen keinen Schaden genommen.
«Ich werde Meisterstochter, ja» sagte sie. «Werde es nicht schlechter machen als Sibylla. Aber wird mich auch niemand in Frankfurt erkennen?»
«Nein! Wie auch?», beruhigte sie Martha. «Die Siechen können keinen Fuß vor den anderen setzen. Sie kommen niemals nach Frankfurt. Auch den Bediensteten bleiben die Stadttore verschlossen. Du weißt selbst, dass ihr Frankfurt nicht betreten dürft, aus Angst, ihr könntet Krankheiten einschleppen. Du hast in den letzten drei Jahren wie in einem Versteck gelebt, hast dich verändert seither. Und auch Sibylla war jahrelang fort.»
Luisa packte ihr kleines Bündel und folgte ihrer Mutter. Sie war froh, dem lauernden Tod im Feldsiechenhaus zu entkommen. Wie oft schon hatte sie befürchtet, sich angesteckt zu haben. Doch das würde nun vorbei sein.
Am Stadttor gab es keine Schwierigkeiten, die Wächter beachteten die beiden ärmlich gekleideten Frauen kaum, winkten sie blicklos durch und kümmerten sich dann wieder um einen jungen Adligen, der mit seinem Gefolge Einlass begehrte.
Es gelang ihnen auch, in Marthas winzigen Verschlag zu kommen, ohne von den Besenbindern gesehen zu werden.
Zuerst holte Martha die kleine Ölkanne, die sie sorgsam hütete, denn Öl war teuer. Doch jetzt war nicht die Zeit für Sparsamkeit. Luisas Hände mussten heilen, mussten makellos weiß und glatt aussehen wie die einer Klosterschülerin. Martha stiegen die Tränen in die Augen, als sie die Hände sah. Tiefe Risse durchzogen sie, die Fingernägel zeigten bereits leise Anzeichen von Auflösung. Martha hob Luisas Hand, führte sie an ihren Mund und legte leicht ihre Lippen darauf, als könne allein ihr mütterlicher Wille heilen.
«Mutter», Luisa erschrak vor der unvertrauten Nähe.
Martha blickte ihre Tochter lange an. Ihr Gesicht war ein blasses Oval mit hohen Wangenknochen unter dichten, stumpfem Braunhaar. Ihre Augen waren groß und glanzlos, aber nicht ohne Feuer, ihre Nase schmal, und ihr Mund konnte sinnlich, aber auch über die Maßen trotzig wirken.
Was immer auch kommen mag, Luisa», flüsterte Martha. «Du musst wissen, dass ich dich liebe.»
Luisa schluckte, öffnete die Lippen ein wenig, doch sie blieb stumm. Solche Worte und Gesten waren unüblich zwischen ihnen. Sie waren ungewohnt, weckten in Luisa aber auch eine unbestimmte Sehnsucht.
Ganz behutsam strich Martha ihrer Tochter das Öl über die Hände, band dann Lappen darum, die über Nacht dafür sorgen sollten, dass sich die Haut beruhigte und die Rötungen und Risse verschwanden.
Als Nächstes wurde Luisas bestes und einziges Kleid besichtigt, die Schäden daran vermerkt und über ein bisschen Aufputz gesprochen, als ginge es um einen bevorstehenden Maitanz. Beide Frauen vermieden es, über den tatsächlichen Anlass zu sprechen, als fürchteten sie sich vor den eigenen Worten.
Bevor sie schlafen gingen, zählte Martha die wenigen Geldstücke, die sie im Laufe der Jahre für Notfälle beiseite gelegt hatte, um zu sehen, ob das Geld für ein Paar einfache Schuhe und anderes notwendiges Beiwerk ausreichte. Es ist nicht schade um meine Ersparnisse, tröstete sich Martha stumm und versuchte, die aufsteigende Angst zu unterdrücken. Brauchen werde ich sie nicht mehr. Entweder lande ich am Galgen, oder aber Luisa wird als Sibylla für mich sorgen, wenn meine Zeit als Wäscherin endgültig vorbei ist.
Eng aneinander geschmiegt, lagen sie auf dem Strohsack. Doch schlafen konnten beide nicht.
«Mutter, ich habe Angst», gestand Luisa leise in die Dunkelheit. «Ich weiß nicht, wie sich Bürgerstöcher benehmen, wie sie sprechen, sich kleiden, sich bewegen.»
«Du musst Augen und Ohren offen halten. Sprich zu Anfang nur, wenn du gefragt wirst, ahme nach, was die anderen tun. Beobachte und schweige, wie du es als Wäscherin gelernt hast.»
Auch Martha hatte Angst. Angst um ihr Kind, Angst auch vor der eigenen Entschlossenheit und dass Luisa sie eines Tages dafür hassen würde. Nur Angst um ihr eigenes Leben hatte sie nicht.
Luisa schlief die ganze Nacht schlecht und erwachte sehr zeitig am Morgen. Obwohl Martha ihr verboten hatte, das Haus zu verlassen, ging sie zum Gottesdienst in die Liebfrauenkirche in der Altstadt, unweit des Wöhlerschen Hauses. Luisa wusste, dass in diese Kirche am Sonntag die Handwerker mit ihren Gattinnen gingen, auch Patrizier und Ratsherren waren dort anzutreffen. Sie versteckte ihr Gesicht unter der großen Kapuze ihres einzigen Umhangs.
In der Kirche, die zu den prachtvollsten Frankfurts zählte, war es kühl. Die ersten Sonnenstrahlen drangen durch die bemalten Butzenscheiben der hohen Kirchenfenster in das gewaltige Kirchenschiff. In ihrem Licht tanzte der Staub.
Luisas Holzschuhe klapperten bei jedem Schritt. Sie waren viel lauter als die der wenigen anderen Besucher, deren Schuhe Ledersohlen hatten. Beschämt und in dem Bewusstsein, nicht in die prunkvolle altstädtische Liebfrauenkirche, sondern eher in die bescheidene und beinahe fensterlose Johanniskirche, die sich zwischen die Katen der Neustadt duckte, zu passen, bemühte sich Luisa, so geräuschlos wie möglich aufzutreten.
Sie suchte sich einen Platz in einer Seitenkapelle hinter einem Pfeiler, von dem aus sie einen guten Überblick über die Kirche hatte, aber selbst nicht gesehen wurde. Sie fürchtete sich vor den Blicken der Altstädter, las in ihren Mienen den Satz, der sie bloßstellte: Du gehörst hier nicht her.
Nur wenige Besucher waren an diesem Morgen anwesend; die meisten Frankfurter kümmerten sich um ihre Tagesgeschäfte, konnten den Herrn nur am Sonntag heiligen.
Lange beobachtete Luisa ein Mädchen, das in ihrem Alter war. Sie trug ein langärmliges, bodenlanges Unterkleid aus leuchtend rotem Stoff, darüber ein himmelblaues, leicht gefälteltes und ärmelloses Oberkleid, das unter der Brust gegürtet war und formlos bis auf die Schuhspitzen fiel. Ein einfacher Besatz an den engen Ärmeln und am viereckigen Ausschnitt unterstrich die Schlichtheit. Ihre Haare flossen offen über die Schultern und wirkten wie ein drittes Kleid aus kostbarem Fell. Die Wangen des Mädchens waren rosig und die Augen durch keinerlei Leid getrübt.
An der Kleidung erkannte Luisa, dass das fremde Mädchen die unverheiratete Tochter eines einfachen Handwerkers oder Schulmeisters war, die über einen ehrlichen Geburtsschein verfügte, die Bürgerrechte besaß und deshalb ohne Scham in den vorderen Kirchenbänken sitzen durfte.
Während Luisa mit eingezogenen Schultern hinter dem Pfeiler kauerte, bemüht, so wenig Platz wie möglich einzunehmen, und kaum wagte, den Blick zu heben, saß das fremde Mädchen raumgreifend, gerade und mit erhobenem Kopf an seinem Platz. Ihre Hände hatte sie in den Schoß gelegt. Weiße, weiche Hände mit glänzenden, festen Fingernägeln und schmalen Gelenken. An einem Zeigefinger war ein kleiner schwarzer Fleck zu sehen, Tinte vielleicht, den das Mädchen abzukratzen versuchte. Jetzt sah sie sich um, drehte den Kopf furchtlos nach links und rechts und musterte die wenigen Anwesenden ohne Scheu.
Die Messdiener kamen und entzündeten die Kerzen auf dem Altar, legten die kostbare, in Leder gebundene Bibel bereit.
Das Mädchen hatte den Rücken angelehnt, den Kopf leicht geneigt, und wickelte sich gelangweilt eine ihrer blonden, glänzenden Haarsträhnen um den Finger. Sie rutschte hin und her, gähnte versteckt und kicherte sogar, als sich der dicke Priester japsend auf die Kanzel hochquälte. Doch plötzlich schrak das Mädchen zusammen und mit ihm auch Luisa.
«Sünder, allesamt!»
Die donnernde Stimme des Priesters dröhnte durch das Gotteshaus, und Luisa spähte hinter ihrem Pfeiler hervor nach vorn zur Kanzel, auf der der dickwanstige Gottesdiener stand, die Hände fest um das Geländer gekrallt.
«Sünder vor Gott seid ihr!», schrie er nun wieder und sprühte Spucketröpfchen durch das Kirchenschiff.
«Ihr verstoßt gegen die zehn Gebote», tobte der Priester weiter auf seiner Kanzel, die unter seinem beträchtlichen Gewicht gefährlich ächzte.
«Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat, steht geschrieben im Buch der Bücher. Doch ihr begehrt von morgens bis abends, was euch nicht zusteht.»
Wie ein Racheengel, der in der Hand das flammende Schwert hielt, thronte der Priester über den Köpfen seiner erschrockenen Gemeinde und predigte von Schuld und Sühne.
Luisa war auf der harten Kirchenbank noch mehr zusammengesunken und hatte die Blicke schuldbewusst auf den Boden gerichtet. «Du sollst nicht begehren …»
Der Satz schwirrte in ihrem Kopf herum und hallte wie ein tausendfaches Echo in ihr wider. «Du sollst nicht begehren …»
Ich bin eine Sünderin, dachte Luisa bestürzt. Ich begehre das, was Sibylla gehört, begehre mehr als nur ihr Haus und ihren Besitz; ich begehre ihr Leben und stehle ihr den Tod.
Ein Mordbube ist einer, der einem anderen das Leben stiehlt. Ich aber will Sibyllas Tod stehlen. Was ist das Gegenteil von Mord? Wiedererweckung? Auferstehung?
Luisas Atem stockte. Nein, nein, bat sie in Gedanken Gott um Abbitte. Ich wollte nicht lästern, nicht hochfahrend sein, bestimmt nicht.
«Nicht an deinen Worten wirst du gemessen, spricht der Herr, sondern an deinen Taten», dröhnte der Priester.
Obwohl seine letzten Worte beinahe hysterisch klangen, fühlte sich Luisa seltsam beruhigt.
An meinen Taten werde ich gemessen, dachte sie erleichtert. Nicht an meiner Herkunft, nicht an meiner Geburt, vielleicht nicht einmal daran, dass ich eine andere sein möchte. Wichtig ist, was ich daraus mache.
Trotzig sah sie hoch, musterte noch einmal das Mädchen im roten Kleid, das nun vornüber gebeugt saß und die Hände unter den Oberschenkeln versteckt hielt, dabei leicht vor- und zurückwippte, als würden die Worte des Priesters sie nicht betreffen.
Wahrscheinlich tun sie das auch nicht, überlegte Luisa. Was will dieses Mädchen schon von anderen begehren? Sie hat doch alles, braucht nichts mehr zum Glück. Und für alles, was sie hat, musste sie nicht einmal den Rücken krümmen, dachte sie voller Neid. Ja, was hat die da schon tun müssen für ihr Glück? Sie weiß nichts von der stinkenden, mit Eiter befleckten Wäsche der Siechen. Wäsche, die nach Angst stank, nach Angst, Fäulnis und Tod und oft steif war von Schweiß, Kot und Urin. Wäsche, die das Wasser rot oder braun färbte, sodass auch die Hände am Abend nach Blut und Verwesung stanken. Ein Geruch, der sich in der Haut festsetzte, in den Haaren hing, sogar auf der Zunge, sodass selbst Brot nach Tod schmeckte und Wasser nach Blut. Nichts davon wusste dieses selbstgerechte Mädchen, gar nichts. Wäre ich sie, könnte ich leicht ein guter und gottgefälliger Mensch sein.
Luisa stutzte, dachte über den letzten Satz nach. Hieß das etwa, dass die Armen einfach aus Not schlechter waren als die Reichen, die nicht stehlen mussten, um satt zu werden, nicht zu lügen und betrügen brauchten, um ein bisschen Anerkennung zu bekommen, um einen Platz in der Gemeinschaft zu haben? Waren die Reichen gottgefälliger, einfach, weil sie reich waren und schon besaßen, was die Armen niemals mit Ehrlichkeit erringen konnten? War das Gerechtigkeit? Nein, dachte Luisa, das konnte nicht Gottes Gerechtigkeit sein. Göttliche Gerechtigkeit war nicht das, was auf Erden dafür gehalten wurde.
Ich bin nicht schlechter, weil ich arm und unehrlich geboren bin, erkannte Luisa. Und ich werde beweisen, dass ich den Platz, an den ich mich selbst stellen werde, auch gut ausfüllen kann. An meinen Taten sollt ihr mich erkennen. Genau so, wie es in der Bibel geschrieben steht.
Luisa schwor sich, die unverhoffte und einmalige Gelegenheit, ein anderes, ein neues Leben auszuprobieren, zu nutzen und dafür immer dankbar zu sein. Und dieses neue Leben so zu gestalten, das es sie unabhängig machte. Von ihrem Geburtschein und von dem, was andere von ihr dachten.
Zwingen würde sie die Menschen, die in ihr zu sehen, die sie war, und nicht die, die sie nach den Regeln zu sein hatte. Im Waschkittel war sie die Wäscherin, die Pest-Marie, die freie Frau. Niemand hatte sich je dafür interessiert, wer oder was sie wirklich war. Als Sibylla aber würde sie sie selbst sein.
Mit Entschlossenheit sprach Luisa das Vaterunser, lauschte dem Segen und wartete am Ende des Gottesdienstes, bis alle die Kirche verlassen hatten. Ganz allein saß sie in der Kirchenbank, die Hände im Schoß gefaltet, und hielt Zwiesprache. Zwiesprache mit sich und mit Gott oder ihrem Gewissen.
«Ich werde Gutes tun», flüsterte sie. «Ich werde beweisen, dass die Herkunft nicht wichtig ist, sondern die Taten zählen. Und ich werde niemals mehr arm sein! Als Sibylla werde ich immer reich genug sein, um gut zu sein, das schwöre ich.«
Sie atmete noch einmal tief durch, erhob sich, lief nach vorn zum Altar und bekreuzigte sich dort, um ihrem Schwur Nachhaltigkeit zu verleihen. Dann drehte sie sich um und lief mit nun laut klappernden Holzschuhen und ohne Scham hinaus aus der Kirche.
Am Abend brachte Martha ein Stück roten Stoffes und ein Paar einfache Stiefel mit nach Hause. Das leichte Tuch ähnelte in der Farbe dem Kleid des Mädchens aus der Kirche. Luisa wusste, dass Marthas Ersparnisse damit aufgebraucht waren, und konnte sich nicht ohne Schuldgefühl freuen. Doch als sie die Freude in Marthas Augen sah, umarmte sie ihre Mutter und schmiegte sich fest an sie.
Sie fasste den Ausschnitt ihres blaugrünen Kleides mit dem roten Besatz ein, verzierte auch die Ärmel und nähte aus den Reststücken sogar noch einen glutroten Gürtel. Sie probierte alles an, schlang den Gürtel weit oberhalb der Taille unter ihre Brüste und drehte sich hin und her.
Martha stand dabei und betrachtete ihre Tochter voller Stolz. «Du siehst aus wie Sibylla. Glaub mir, du wirst ihr alle Ehre machen.»
«Nicht ihr, uns will ich Ehre machen», erwiderte Luisa ernst.
Sie sah ihrer Mutter in die Augen und las darin neben der Freude leise Furcht, aber auch Auflehnung. Es war der Widerstand derjenigen, die sich vom Schicksal oder von Gott betrogen wussten und nun entschlossen waren, ihr Geschick in die eigenen Hände zu nehmen.
Die beiden Frauen lächelten sich an, zuerst noch zaghaft und beinahe entsetzt über den eigenen Wagemut, dann breiter, und schließlich brachen sie in lautes Gelächter aus, das nicht unbedingt fröhlich, dafür aber kraftvoll und entschlossen klang.
Der nächste Tag war der Sonntag, der letzte Tag Luisas in ihrem alten Leben. Die gesamte Besenbinderfamilie war in aller Frühe mit ihrem Karren zu einem Jahrmarkt in eines der umliegenden Dörfer gezogen, um dort ihre Besen anzubieten. Bis zum Abend würde das Haus still und verlassen sein.
Martha hatte eimerweise Wasser vom nahen Main herangeschleppt und erhitzte es nun über dem Herdfeuer der Besenbinder. Auch einen Zuber hatte sie vom Hof hereingeholt, um Luisa ein Bad zu bereiten.
Luisa stand dabei, beide Hände wieder mit ölgetränkten Lappen umwickelt, und sah ihrer Mutter zu.
Wie jung sie heute aussieht, dachte sie und betrachtete Marthas gerötete Wangen in dem sonst so grauen Gesicht. Ihre Bewegungen waren fließend und zeigten keine Anzeichen von Schmerz. Kraftvoll goß sie das heiße Wasser in den Zuber, schüttete mit Schwung kaltes hinterher. Ihre Augen glänzten, und selbst ihre Hände wirkten heute glatter und weniger rau als sonst.
«Mutter, lass mich dir helfen. Nimm mir die Wickel ab», bat Luisa, der es Unbehagen bereitete, zuzusehen, wie Martha sich für sie abschuftete.
Martha lächelte und pustete sich übermütig eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Du bleibst, wo du bist und wie du bist», bestimmte sie. «Wirst dich sowieso bald daran gewöhnen müssen, dass deine Mutter im Wöhlerhaus die Schmutzwäsche besorgt für dich.»
«Das kann ich nicht. Niemals», erwiderte Luisa erschrocken. «Schuldig wäre ich ab meinem ersten Tag als Meisterstochter, und du wärest die stete Zeugin dieser Schuld.»
«Dann wirst du mich aus deinen Diensten entlassen müssen», sagte Martha ernst.
Luisas Blick verdunkelte sich. Sie schwieg, hielt den Kopf gesenkt und biss sich auf die Lippen.
Martha stellte den Eimer aus Rindshaut auf den Boden, kam zu ihrer Tochter, nahm sie in den Arm und wiegte sie hin und her.
«Du musst stark sein, Luisa. Das Leben im Kürschnerhaus wird nur körperlich leichter sein als dein bisheriges. Vieles wird geschehen, was dir wehtut. Dieser Rollentausch ist kein Kinderspiel. Er wird dir viel abverlangen. Dinge, die du bisher nicht kanntest. Aber du wirst stärker werden dabei. Mit jedem Tag ein bisschen mehr.»
«Ich kann mein Aussehen verändern, meine Frisur, meinen Gang. Aber meine Gedanken werden sich nur schwer verändern, und meine Vergangenheit und alles, was ich erlebt habe, wird so bleiben», flüsterte Luisa.
Martha strich ihrer Tochter sanft mit dem Finger über die Wangen.
«Komm, wir haben noch viel vor heute. Es wird Zeit, dass du in den Zuber steigst», sagte sie und half ihrer Tochter beim Auskleiden.
Als Luisa nackt, noch immer mit umwickelten Händen, im Zuber saß, überkam sie der Abschiedsschmerz.
«Ich werde dich vermissen, Mutter», flüsterte sie.
«Jeden Donnerstag wirst du mich sehen», erwiderte Martha tröstend. «Das ist mehr als zu deiner Zeit im Siechenhaus.»
«Aber wir werden niemals wieder Mutter und Tochter sein.»
«Du brauchst mich als Mutter nicht mehr, Luisa. Du wirst einen Mann finden, heiraten und Kinder ehrlicher Abstammung bekommen. Du wirst nicht schutzlos sein, sondern einen guten Mann haben, der für dich sorgt und dir sagt, was du tun sollst. Vor allem aber wirst du eine richtige, vollständige und von anderen anerkannte Frau sein, die die Aufgaben, die sie von Gott aufgetragen bekam, erfüllen kann.»
Martha betrachtete den nackten Körper ihrer Tochter, die zarte, unberührte Haut, die schmalen und doch kräftigen Schultern, die runden, kleinen Brüste, den flachen Bauch und die dünnen Schenkel, die Luisa fest zusammenpresste.
Wie lange wird es noch dauern, bis ein Mann diesen Körper nimmt?, fragte sie sich im Stillen, verteilte ein wenig Seife in ihren Händen und wusch Luisas Rücken, streichelte dabei die unberührte, makellose Haut, die noch nichts von der Liebe wusste.