Vierundzwanzigstes Kapitel

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Es ist Abend geworden. Ich habe mich entschlossen, den Garten auf Vordermann zu bringen, der seit Dads Verschwinden ziemlich verwahrlost ist. Ich jäte Unkraut, schneide die Sträucher zurück und schichte sämtlichen Gartenabfall zu einem großen Haufen auf. Dad wäre begeistert. Obwohl ich erhitzt bin und schwitzige Hände habe, ist es ein gutes Gefühl. Conor ist mit Mum nach St Pirans gefahren. Doch ich bin gerne zu Hause geblieben, weil … weil etwas Wunderbares geschehen ist. Jemand ist bei mir. Sie liegt auf dem Weg und betrachtet mich mit ihren intelligenten Augen. Hin und wieder steht sie auf, um einen der Millionen Gerüche zu erkunden, die nur ein Hund wahrnimmt.

Na ja, sie ist noch nicht wirklich mein Hund. Aber ich arbeite daran. Wir haben sie für eine Woche in Pension genommen, weil Jacks Familie im Urlaub ist. Wir prüfen, wie wir mit ihr zurechtkommen.

»Gibt gleich Abendessen, Sadie.« Sie wedelt mit dem Schwanz. Sie versteht jedes Wort, das ich sage.

»Was meinst du, Sadie? Wäre Dad nicht sehr zufrieden mit mir?«

Die Bienen machen sich auf den Heimweg, nachdem sie sich den ganzen Tag in den Blumen aufgehalten haben. Als eine von ihnen meinen Arm streift, frage ich mich, ob sie wohl zu Granny Carnes Bienenstock zurückfliegt. Sie hält inne und vergräbt sich in einer Löwenmaulblüte, in der ich sie summen und brummen höre. Vielleicht steckt sie fest. Nein, langsam kommt sie wieder zum Vorschein.

Plötzlich kommt mir eine Idee. Wenn Conor mit dem gesamten Bienenstock geredet hat, vielleicht kann ich mich dann wenigstens mit einer einzelnen Biene unterhalten.

»Äh, hallo … kannst du mich hören?«

Doch sobald ich den Mund aufmache, weiß ich, dass es nicht funktionieren wird. Ich habe keines dieser Gefühle in mir, von denen Conor erzählt hat. Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass ich auch nur das kleinste bisschen Erdmagie in mir habe. Die Bienen nehmen einfach keine Notiz von mir, sondern fliegen mit ihren Unmengen von Blütenstaub davon.

In diesem Moment fällt ein Schatten über mich. Ich blicke rasch auf, kann jedoch nichts erkennen. Doch Sadie ist aufgesprungen, sträubt ihr Fell und stößt ein tiefes Knurren aus. Die Abendsonne hat an Kraft verloren, doch nicht nur das. Die Lichtverhältnisse haben sich vollkommen verändert. Plötzlich wird der Garten in ein seltsames blaugrünes Licht getaucht, als läge er unter Wasser. Doch das Meer kann hier nicht eindringen. Indigo darf seine Grenzen nicht überschreiten, das weiß ich.

»Sadie!«

Sadie weicht zurück und drückt sich laut knurrend an meine Beine. Irgendwas macht ihr Angst. Doch aus unerfindlichen Gründen bleibe ich ganz ruhig, obwohl sich etwas anbahnt, das spüre ich sehr genau.

»Myrgh kerenza«, sagt eine Stimme. Sie ist so nah und vertraut, dass ich kaum glauben kann, dass außer uns niemand im Garten ist.

»Myrgh kerenza …«

Mein Bewusstsein erweitert sich und lässt mich die Bedeutung der Wörter verstehen. Meine liebe Tochter. Nur zwei Menschen auf der Welt können mich so ansprechen. »Dad!«, flüstere ich. »Bist du’s?«

Dad hier in unserem Garten, zu Hause …

Doch niemand antwortet. Langsam ändert sich das Licht wieder. Die blaugrüne Tönung verwandelt sich in das warme Gold der Abendsonne. Sadie entfernt sich von mir und schüttelt sich, als käme sie aus dem Wasser. Dann bricht sie in heftiges Bellen aus.

»Ruhig, Sadie!«

Ich lausche angestrengt, höre jedoch nichts anderes als die üblichen Abendgeräusche des Sommers. Ich verspüre eine wohlige Wärme. Ich bin Dads myrgh kerenza. Seine liebe Tochter. Er weiß es und ich weiß es auch. Nachdem Conor mit den Bienen gesprochen hat, wusste er, dass Dad lebt. Ich habe ihm geglaubt, war mir jedoch nicht vollkommen sicher.

Jetzt weiß ich es.